Rosinenpicker | Literatur  Brutale Idylle

Kosiak und Hochstuhl (mit Buchcover) © Johann Jaritz / CC BY-SA 4.0 / Buchcover: Suhrkamp

In ihrem fulminant erzählten Debüt schildert die österreichische Autorin Julia Jost das Aufwachsen im Kärnten der 1990er-Jahre zwischen Nazi-Vergangenheit und rechtspopulistischer Gegenwart.

1994 im ländlichen Kärnten: Versteckt unter einem großen Lkw kauert ein 11-jähriges Mädchen. Der elterliche Haushalt wird für den Umzug in eine andere Gemeinde und in ein größeres Haus verladen, auch um der Kaufsucht der Mutter mehr Raum zu geben. Die Ich-Erzählerin in Julia Josts Debütroman mit dem sperrigen Titel Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht spielt derweil Verstecken mit ihrer Freundin Luca, die – auf Bosnisch – von hundert auf null runterzählt. Luca ist die gleichaltrige Tochter von Geflüchteten aus dem Bosnienkrieg.

Aus ihrem Versteck heraus beobachtet die Ich-Erzählerin ihre Umwelt und verliert sich in Erinnerungen und Träumereien. Jost wählte diese kindliche Perspektive „von unten“, da Kinder wertfreier, naiver auf die Welt schauen, so die Autorin in einem Deutschlandfunk-Interview. Gleichwohl spürt man die Erwachsene hinter dem Kind, denn natürlich schwebt über der kindlichen Erzählerin auch ihr älteres Alter Ego.

Hinterlist, Bosheit und Kokolores

Das Mädchen wächst in scheinbarer Idylle auf, zumindest die Natur ist harmlos: „Hinterlist und Bosheit sind, auf diese Fauna und Flora bezogen, Kokolores.“ Ganz anders verhält es sich mit den Menschen. In dem Roman gibt es viel Personal. Zu allen Nachbarn und Verwandten, die beim Umzug zum Schauen oder Helfen kommen, gibt es Geschichten, meistens keine besonders schmeichelhaften.

Da sind zum Beispiel die „Stubenhof-Großeltern“. Die Stubenhof-Oma will beim Umzug nicht Unterstützen, sondern um sich lautstark und im Kärtner Dialekt über den Verkauf des Gratschbacher Hofs, so der Name des Elternhauses, zu beschweren: „Ihr bringts den toten Louis a zweites Mol um! Mörder seids!“ Über diese Stubenhof-Oma erfährt man dann auch, sie sei bis heute stolz darauf, dass in Kärnten 1938 „neunundneunzig Komma dreiundachtzig Prozent für den Anschluss“ (Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland) stimmten. Ebenfalls stolz ist man auf einen SS-Ehrendolch und den Ariernachweis.

Der eigenwillige Stubenhof-Opa geht zunächst als Forstarbeiter ins „Reich“, kommt nach Kriegsbeginn mit Heideggers Sein und Zeit im Gepäck wieder nach Hause, baut den Gratschbacher Hof auf und verbringt später einen Großteil seiner Zeit mit der Lektüre dieses Werks – im Nebenraum der Gastwirtschaft, die hauptsächlich die Oma betreibt. Ob die Lektüre von Sein und Zeit etwas mit seinem späteren, so skurril wie rätselhaften Selbstmord zu tun hat, bleibt offen. Die vielen verschiedenen Versionen des großväterlichen Ablebens fachen die sprühende Fantasie der Erzählerin an, die sich den Opa einmal wie einen zappelnden und zuckenden Fisch an Land vorstellt, dessen „einzige Überlebenschance war, sich eine Pfütze zu urinieren, in die er abtauchen könnte“.

Verhängnisvoller SS-Ehrendolch

Der Dolch mit dem eingeätzten Wahlspruch der Waffen-SS „Meine Ehre heißt Treue“ spielt in einem anderen Kontext eine verhängnisvolle Rolle. Eine Bande von Kindern spielt damit in der Nähe eines Brunnens, der Dolch fällt hinein, der zugezogene Franzi wird an einem Seil hinabgelassen und kann von der Feuerwehr nur noch tot und mit dem Dolch im Bauch geborgen werden – „ein unheilvolles Mysterium“.

Der Vater der Erzählerin beginnt irgendwann einen Handel mit Lastwagen und verkauft 50 Stück davon ins zerfallene Jugoslawien. Dadurch wird die Familie derart reich, dass den Eltern sogar die Ideen fürs Geldausgeben ausgehen. So erfolgreich ist der Vater aber nur, weil Gernot Pfandl, Burschenschaftler, Feuerwehrmann und Bürgermeister (Wahlspruch: „Einer, der anpackt!“), dem Vater „die richtign Leit“ vorstellt. Und diese richtigen Leute gehören selbstverständlich der „richtigen“ Partei an, was im Kärnten der 1990er-Jahre die rechtspopulistische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) von Jörg Haider ist, an den die Figur des Gernot Pfandl angelehnt ist.

Überbordendes Panoptikum

Des Weiteren gibt es das Dorfwirtshaus als sozialen Mittelpunkt. Dort hocken alte und junge Nazis. Die Wirtin Marlene Wallach mit ihren roten Lackschuhen zieht die Männer in ihren Bann oder auch mal ins Bett. Dann ist da der scheinheilige Gemeindepfarrer Don Marco, der gerne am Stammtisch die Beichte abnimmt, ein Dorfkommunist namens Focknhocker sowie der aus Wien stammende Uhrmacher Beuschelwieser, ebenfalls Burschenschaftler, der sich bei seinen Mitmenschen gerne mit dem Satz „alles in däätscher Hand?“ nach deren Wohlergehen erkundigt.

Julia Jost bietet ein überbordendes Panoptikum der ländlichen Gesellschaft. Geschrieben ist der Roman mit großer Sprach- und Fabulierlust, furios, fantasievoll, derb, witzig, mit vielen Dialekt-Einsprengseln. Die erste zarte Liebe des Mädchens zu ihrer Freundin Luca ist der Kontrapunkt zur rauen, lieblosen Umgebung.

Von der Kritik wird Josts Debüt in die Tradition des österreichischen Antiheimatromans gestellt, was der Autorin selbst aber gar nicht so gefällt. Sie wird mit Elfriede Jelinek oder auch Helena Adler verglichen. Thomas Bernhard darf natürlich nicht fehlen, der etwa in seinem Roman Verstörung (1967) geschrieben hat, dass die Stadtverbrechen nichts seien gegen die Landverbrechen, auf dem Land sei „die Brutalität wie die Gewalttätigkeit das Fundament“. Nach der Lektüre von Julia Josts Roman hat man genug Geschichten und Bilder im Kopf, um diese Aussage nachvollziehen zu können.
 
Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht. Roman
Berlin: Suhrkamp, 2024. 231 S.
ISBN: 978-3-518-43167-2
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