Rosinenpicker | Literatur  Eine Vermissung

Hauswand mit Buchcover: Ani: Lichtjahre im Dunkel © Suhrkamp / Canva

In seinem neuen Roman führt uns Friedrich Ani in ein München jenseits der Schönen und Reichen. Ein Mordfall wird auch aufgeklärt, aber nicht gelöst.

Nach sechs Jahren hat Friedrich Ani seinen bekanntesten Privatermittler wieder auf die Straßen Münchens geschickt. Für zwei seiner mittlerweile über 20 Tabor-Süden-Romane hat er den Deutschen Krimipreis erhalten.

Warum ist Ani mit dieser Figur so erfolgreich? Vielleicht wegen deren Nahbarkeit. Sein neuer Roman Lichtjahre im Dunkel beginnt mit einem morgendlichen Blick in den Spiegel, in dem Tabor Süden überrascht feststellt, dass er alt geworden ist. Das wird Ani-Fans nicht überraschen, ist doch der erste Tabor Süden-Roman Die Erfindung des Abschieds bereits 1998 erschienen. Und auch für Süden gilt: Das menschliche Gehirn weiß zwar um die unvermeidliche chronologische Abfolge des Lebens, doch die gefühlten zeitlichen Abstände sind eine Sache der individuellen Wahrnehmung. Die gelebte Zeit muss nicht mit der erlebten Zeit in Einklang sein. Süden erscheint sein altes Spiegelbild jedenfalls „kurios. Noch gestern habe ich mit meinem Schulfreund Martin die erste Zigarette geraucht“.

Außerdem ist die Figur Tabor Süden wegen ihrer Schweigsamkeit so beliebt. Im Gegensatz zu den allgegenwärtigen Viel- und Großsprechern ist er so schweigsam, dass sein Schweigen sein Gegenüber zum Sprechen bringt, weil Stille schwer auszuhalten ist. Möglicherweise wird Süden im Alter immer schweigsamer. In diesem Roman meint man zumindest, dass er noch weniger redet als in den früheren.

Durch Verschwinden sichtbar

Gleich zu Beginn des Buches löst Südens Schweigen die Zunge von Viola Ahorn, die den Privatdetektiv engagiert hat, nachdem ihr Mann Leo schon länger verschwunden ist. Das Verschwinden von Menschen ist ein großes Thema in Anis Romanen. In einem 3sat-Interview sagte er: „Manche Menschen werden erst durch ihr Verschwinden sichtbar“.Das Gegenstück zum Verschwinden ist das Vermissen. Als Süden den Verschwundenen als „eine Vermissung“ bezeichnet, ist die Ehefrau irritiert – denn von Vermissen kann bei „einer mit gebunkerter Verachtung in eine neue gnadenlose Nacht strauchelnden Frau“ eher nicht die Rede sein.

Im Lauf des Romans verschwindet Tabor Süden selbst aus der Handlung, er taucht nurmehr am Rand und zum Schluss auf. Süden bildet eine Art Klammer. Ani gibt stattdessen anderen Figuren Raum.

Angesiedelt ist die Handlung – wie immer bei Ani – im kleinbürgerlichen, kriminellen bis prekären Milieu in Münchner Randbezirken. Es wimmelt von gescheiterten Existenzen, die vergeblich über die Gründe ihres Scheiterns und über Möglichkeiten eines Neuanfangs grübeln – lauter seelisch und körperlich Versehrte. Der verschwundene Schreibwarenhändler Leo Ahorn ist in seinem Geschäft, im Alkohol und in seinem Leben versumpft, geht seinen Mitmenschen durch penetrantes Anpumpen auf die Nerven und verbringt seine freie Zeit im „Blauen Eck“, seiner Stammkneipe. Seine Frau Viola wartet einige Tage, bevor sie wegen seines Verschwindens aktiv wird. Viel hält sie von ihrem Mann ohnehin nicht.

Den Tod kann niemand trösten

Bald wird Leos Leiche im Kofferraum eines Bordellbesitzers gefunden. Ein Nachbar, ebenfalls Stammkunde im „Blauen Eck“, rückt in den Fokus, ebenso sein unvermittelt auftauchender, bislang unbekannter Halbbruder aus Berlin, der auch im Rotlichtmilieu arbeitet. Mit der Leiche kommt die Polizei ins Spiel – und damit Oberkommissarin Fariza Nasri, die Ani-Fans aus dem Roman Letzte Ehre (2021) kennen. Ob das, was schließlich als Lösung präsentiert wird, wirklich die Aufklärung des Falles bedeutet, bleibt offen. Warum soll es bei der Auflösung von Verbrechen keine Dinge geben, die unauflöslich sind?

Krimis im herkömmlichen Sinne sind Anis Romane nie, auch Lichtjahre im Dunkeln nicht. Oft versuchen Literaturkritiker*innen das fehlende krimitypische Spannungselement mit dem etwas unbeholfenen Begriff des „literarischen Krimis“ zu kompensieren, als schlössen sich Spannung und literarische Qualität per se aus. Aber tatsächlich schreibt Ani keine Thriller, sondern seine Romane bestechen durch die Figurenzeichnung, das Offenlegen des Innenlebens seiner Charaktere und vor allem durch die Milieubeschreibungen. Seine Bücher sind zwischen Kriminal- und Gesellschaftsroman sowie existenzialistischer Literatur angesiedelt. Was für Süden und die Kommissarin Nasri gilt, gilt auch für Ani selbst: Sie alle widmen ihr Leben dem „ewigen Kreislauf der verbeulten Seelen“.

Am Ende des Romans verbeugt sich Ani vor einem seiner literarischen Vorbilder, dem uruguayischen Autor Juan Carlos Onetti, der in Person eines Nachbarn von Tabor Süden auftaucht und diesen zu der Einsicht bringt: „Den Tod … kann niemand trösten.“
 
Friedrich Ani: Lichtjahre im Dunkel. Roman
Berlin: Suhrkamp, 2024. 445 S.
ISBN: 978-3-518-43156-6
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