Rosinenpicker | Literatur  Für immer im Listicles-Labyrinth

Hirschl: Content © Zsolnay / Canva

Algorithmus, KI, Klicks und Likes – Alltag in jedem Büro. Erst recht, wenn ohne Ende Content produziert wird. Elias Hirschl erdenkt sich eine solche Content-Farm. Seine Digital-Dystopie kommt so grotesk-lustig daher, dass man fast die Abgründe übersieht.

„Smile Smile Inc.“ – toller Firmenname. Einfach mal dort bewerben? Lieber doch nicht. Jedenfalls nicht mehr nach der Lektüre der ersten Seiten von Elias Hirschls neuem Roman Content. Da wird die namenlose Protagonistin von ihrer Kollegin Karin durch das Firmeninnere geführt – Desillusionierung inbegriffen:

Man gewöhnt sich an die Überstunden … Man gewöhnt sich an die Monotonie, an die Abstumpfung, daran, dass die eigene Arbeit mit der Zeit zu einer gedankenlosen Abfolge routinierter Handgriffe verkommt, Google, Sehenswürdigkeiten, Indien, Strg C, Strg V, Text gliedern, Titel: Die Top 14 unterschätztesten Tourist Destinations in Indien … abschicken, nächster Artikel …

Produzieren am Fließband

Dort, wo jetzt die Lächel-Firma steht, war vorher eine Kohlenzeche, gefolgt von einer Fabrik für Autoteile: fließbandmäßiges Schuften als verbindendes strukturelles Arbeitselement gestern, heute und morgen. Wobei Kohle und Autos eine merk- und sichtbare Funktion in den jeweiligen Wirtschaftskreisläufen erfüll(t)en. Beim „Content“ kann man sich nicht so sicher sein. Erfährt doch Hirschls Ich-Erzählerin im Laufe der erzählten Zeit, dass die Listicles, die sie „schreibt“, also meistenteils copy-pasted, sowieso nie irgendwo erscheinen. Denn die Prüfung auf „Massentauglichkeit, Zielgruppenrelevanz und Shareability“ bringt es mit sich, dass alles von ihr Vorformulierte komplett ausgetauscht wird: „Die Wahrheit ist, dass kein einziges Wort, das ich oder Karin oder irgendjemand anderer aus unserer Abteilung schreibt, jemals veröffentlicht worden ist.“ Heißt: Tagtägliches Wühlen und Sortieren im unendlichen Datenpool unter prekären Bedingungen mit null Wirksamkeit. Geld wird dennoch einiges verdient, aber von anderen, die bleiben im Roman eher unsichtbar.

Burnout vorprogrammiert

Nicht jede hält diese Gesamtsituation psychisch unbegrenzt aus. Karin beispielsweise rammt sich gezielt eine Hydraulikpresse in die Hand, nachdem sie neun Stunden am Stück geschrieben hat. Danach folgt ein Psychiatrieaufenthalt. Die Kollegin Marta raunt immer wieder, dass sie alle bald ersetzt werden – und wünscht sich zu ihrer Rettung genau dies. Ihre Psyche wurde in Grenzregionen geführt, als ein kuchenbasierter Internet-Trend, auf den auch Smile Smile aufgesprungen ist, dazu führt, dass Marta einmal lange auf einen neuen Kollegen einredete. Bis sie entdeckte, dass er aus Schwarzwälder Kirschtorte bestand. „Aus Verzweiflung habe sie ein Drittel ihres Kollegen gegessen, sagt Marta … Sie habe immer noch kiloweise Stücke ihres Kollegen im Kühlschrank.“

Eine andere Figur am stetigen Rand des Nervenzusammenbruches ist Jonas, ein Tinder-Date der Ich-Erzählerin. Der will ein Startup nach dem anderen gründen und sondert ununterbrochen selbstbeschwörende und noch die absurdeste Situation beschönigende, abgegriffene Floskeln á la „Krise ist Chance“ ab. Das alles klingt so derart verzweifelt, dass sich beim Lesen irgendwann tiefes Mitleid einstellt mit all denjenigen, die glauben, sich bis zur Selbstaufgabe neoliberalen Vorgaben unterwerfen zu müssen und sich ohnehin den immer weiter frei drehenden Bedingungen des Arbeitsmarktes im kulturellen und kommunikativen Sektor ausgesetzt sehen.

Unsicheres Gelände

Hirschl zieht nicht nur im übertragenen Sinne diesen und diversen anderen Protagonist*innen beständig den Boden unter den Füßen weg – worauf sie entweder hysterisch wie Jonas oder stoisch-unbeteiligt wie die Ich-Erzählerin oder von ihrer Ambition nach Wirksamkeit nicht lassend wie Karin reagieren. Auch das geografische Setting selbst, in dem dieser Roman ohne stringenten Plot angesiedelt ist, gerät ins Rutschen: Die Erde bebt in der ehemaligen Bergbaustadt, das Wasser steigt, Finsternis breitet sich aus. Der Autor, der ein halbes Jahr in Dortmund als Stadtschreiber wirkte, hat sich offensichtlich von den dortigen Gegebenheiten als einstigem Zentrum der Kohle- und Stahlindustrie inspirieren lassen – und diese seitenweise ins Apokalyptische gesteigert. Obwohl: Führt man sich Klimawandel-Szenarien vor Augen, wirkt das alles gar nicht mehr so ausgedacht.

Genau hingeschaut

Elias Hirschls schriftstellerische Kunst, die er schon vorher u.a. mit seinem Roman Salonfähig (2021) über die „Generation Slim Fit“ unter Beweis gestellt hat, besticht durch seine gnadenlos gute Beobachtungsgabe: Mithilfe seines haltlosen Personals skizziert er die neoliberale Transformation des Arbeitsmarktes, den Raubbau an der Umwelt, die labyrinthischen Abgründe des Internets, die Phänomene der Popkultur – und mindestens mit einem dieser Themen kann er seine Leserschaft packen. Und dann führt der Schriftsteller, Musiker, Slam-Poet und Theaterautor in literarisch-grotesk-satirischer Zuspitzung vor, was passiert, wenn das alles immer so weitergeht und niemand mehr kritische Distanz einnimmt und die bereits sich ereignet habenden oder ganz sicher kommenden Auswüchse in Frage stellt. Womit wir wieder bei den Listicles sind – siehe die Seiten 162 ff. im Roman – hier ziehen sich über knapp acht Seiten Listen-Ideen, die die Ich-Erzählerin ihren Computer hat generieren lassen, um den Rest des Jahres nicht mehr arbeiten zu müssen. Jede ist abgedrehter als die davor. Und dennoch würden sie vermutlich alle enorme Reichweite erzielen. Was nicht nur richtig komisch, sondern zugleich auch tieftraurig ist.
Elias Hirschl: Content. Roman
Wien: Zsonay, 2024. 224 S.
ISBN 978-3-552-07386-9
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