Rosinenpicker  Mit dem Manuskript über die Pyrenäen

Wittstock: Marseille 1940 © C.H. Beck / Canva

Als die Wehrmacht im Mai 1940 Frankreich überfällt, werden einige der bekanntesten Künstler*innen Deutschlands im Exil zu einer zweiten Flucht gezwungen. Der Schriftsteller und Journalist Uwe Wittstock erzählt einfühlsam und packend von ihren Schicksalen.

Die Varian-Fry-Straße in Berlin-Tiergarten ist unscheinbar. Knapp einhundert Meter lang, ein Steakrestaurant, der Seiteneingang eines großen Kinos und eine Bushaltestelle. Vielen Passant*innen dürfte der Namensgeber unbekannt sein. Ihnen hilft eine Informationstafel – beim Warten auf den Bus lernen sie: Ab Juli 1940 „verhalf Varian Fry innerhalb von 13 Monaten über 1.500 Menschen zur Flucht aus Südfrankreich“. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass der Name des Mannes heute in Deutschland nahezu vergessen ist, dessen Engagement einigen der bedeutendsten deutschen Künstler*innen und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts das Leben rettete: Hannah Arendt, Max Ernst, Lion Feuchtwanger, Heinrich und Golo Mann – sie alle gehörten zu den Klienten von Varian Fry und seinem Emergency Rescue Committee (ERC).

Der Arbeit dieses Netzwerks von ehrenamtlichen Fluchthelfer*innen, die durch ihre Bemühungen oft das eigene Leben aufs Spiel setzten, hat Uwe Wittstock mit Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur ein Denkmal gesetzt. Das Buch erzählt vom aufreibenden Alltag verfolgter Personen im von den Nationalsozialisten besetzten Frankreich. Und es beleuchtet die enormen Anstrengungen, derer es bedurfte, um den Fängen der Gestapo zu entkommen, die sich über nahezu ganz Europa erstreckten. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen prominente deutsche Exilanten, gewidmet ist Marseille 1940 jedoch den Millionen unbekannter Geflüchteter jener Zeit: „Die Schicksale, von denen hier berichtet wird, sollen deshalb stellvertretend stehen für alle die, von denen wir zu wenig wissen, um noch von ihnen erzählen zu können.“

Auf der Rückbank mit Lion Feuchtwanger

Als Grundlage dienen Wittstock die Zeugnisse seiner Protagonist*innen. Er hat eine Vielzahl von Briefen und Tagebüchern, Biografien und Interviews zur Rate gezogen, um ein Panorama der kollektiven Erinnerung zu rekonstruieren. All jene Bruchstücke verbindet der Autor geschickt zu einer übergreifenden Erzählung, wodurch ein Spannungsbogen aufgebaut wird, der zum raschen Weiterlesen animiert. Erfunden ist dabei nichts, lediglich die Übergänge zwischen den einzelnen dokumentierten Geschehnissen sind bisweilen mit künstlerischer Freiheit gestaltet. Narrative non-fiction nennt sich dieses Genre im englischen Sprachgebrauch. Es zeichnet sich durch eine szenische Erzählweise aus, die das Lesepublikum dicht an die historischen Figuren versetzt, deren Lebenswege nachgezeichnet werden.

Scheinbar hautnah begleitet man so den körperlich angeschlagenen Franz Werfel beim Fußmarsch über die Pyrenäen zur spanischen Grenze oder sitzt mit Lion Feuchtwanger – verkleidet als alte Dame – auf dem Rücksitz eines Diplomatenwagens auf der Flucht aus einem südfranzösischen Internierungslager. Man nimmt Anteil an den Unwägbarkeiten, mit denen jeder Tag des aussichtslos erscheinenden Lebens auf der Flucht verbunden ist. Gähnende Langeweile im Angesicht der unendlich langsam mahlenden Mühlen der Bürokratie kann jederzeit abrupt durch existentielle Bedrohungen unterbrochen werden. Nicht selten entscheiden Zufälle über Leben und Tod. Max Ernst trifft glücklicherweise auf einen Grenzbeamten, der mehr Respekt für surrealistische Kunst hat als für die Fahndungslisten der Gestapo. Walter Benjamin hingegen überquert – mit einer Aktentasche unter dem Arm, in der sich sein letztes Manuskript befindet – nach einem für ihn strapaziösen Weg ausgerechnet an einem Tag die Grenze, an dem die Gesetze besonders streng ausgelegt werden. Wegen eines fehlenden Ausreisevisums verweigerte man ihm die Weiterreise. Eine Rückführung nach Frankreich stand bevor. Angesichts der drohenden Auslieferung an die Geheime Staatspolizei (Gestapo) nimmt sich Walter Benjamin das Leben. Was mit dem Manuskript geschah, ist bis heute unklar.

Ein Plädoyer für die Menschlichkeit

Wittstocks Buch zeichnet sich dadurch aus, dass es weltgeschichtliche Geschehnisse auf eine individuelle, zwischenmenschliche Ebene herunterbricht. Ausgestattet mit einer Liste prominenter Namen, die es außer Landes zu bringen gilt, findet Varian Fry wenige Wochen nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht in Südfrankreich eine kompliziertere Realität vor. Sein eingeschworenes Team prüft jeden hilfsbedürftigen Einzelfall und versucht, individuelle Lösungen zu finden. Sie versorgen Wartende mit finanziellen Mitteln, kümmern sich um die Beschaffung von Papieren und forschen sichere Routen über die Grenze aus. Da sie immer wieder auch in den antikommunistischen USA politisch unerwünschten Flüchtenden helfen, ziehen sie den Zorn der amerikanischen Behörden auf sich, die um die nationale Sicherheit fürchten. Am Ende müssen sie dem politischen Druck nachgeben und ihre Arbeit einstellen – obwohl sie die persönliche Unterstützung der first lady Eleanor Roosevelt genießen.

Erleichtert wird ihre Arbeit hingegen den politischen Verhältnissen zum Trotz wiederholt von verständnisvollen französischen Offiziellen, die bisweilen ein Auge zudrücken. Essenzieller ist jedoch die Solidarität der einfachen Bevölkerung, die sich mit kleinen Gesten für die Schicksale der von Nazi-Deutschland Verfolgten einsetzt. „Ohne die Hilfe dieser Franzosen, ohne ihren Mut, Fremde aufzunehmen und zu verstecken, hätte kein Flüchtling länger als ein paar Wochen in Frankreich überleben können.“ Somit ist Marseille 1940 vor allem ein eindrucksvolles Zeugnis von Menschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen.
Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur.
München: C.H. Beck, 2024. 351 S.
ISBN: 978-3-406-81490-7
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