„Dorfpunk“ Rocko Schamoni liefert in gewohnt anekdotischem Stil Teil zwei seiner Autobiografie ab. Wir erfahren, wie er in der Hamburger Musikszene Fuß fasst, sich als Rockstar versucht und den Golden Pudel Club mitbegründet – den Fixstern des Hamburger Nachtlebens.
Mit seinem mittlerweile achten Buch setzt Rocko Schamoni, der Allround-Künstler aus Deutschlands Norden, seine mit Dorfpunks (2004) begonnene Biografie fort. Wir schreiben das Jahr 1986, Pudels Kern erzählt die Geschichte des 19-jährigen Tobias Albrecht, den es aus seiner Lütjenburger Heimat in die Ferne zieht:(…) ich sehe es nachts und spüre es tagsüber, die Anziehungskraft einer großen fernen Macht – und ich kenne ihren Namen: Hamburg. Speziell Sankt Pauli.
Das Glimmen am Horizont
So beginnt eine Geschichte, die sich wie ein Teil der Hamburger Kulturgeschichte liest, so eng verbandelt sich der Jungspund mit einem kleinen, aber tonangebenden Teil der Hamburger Szene der Zeit. Tobias zieht von seinem ersten Tag, oder vielmehr seiner ersten Nacht in der neuen Heimat durch die Bars der Hansestadt, durch Punkkneipen und miese Kaschemmen, neugierig und unermüdlich. Schon bald versammelt er einen illustren Freundeskreis um sich: Seine Helden aus der Welt des deutschen Punk stehen jetzt mit ihm am Tresen. Lokalmatadore, Abtrünnige, Lebenskünstler*innen – und er passt genau dazu. Er erfindet sich neu als „Rocko Schamoni“, den Weltstar aus Las Vegas, geht mit den Goldenen Zitronen auf Tour und bald ist der Plattenvertrag – mit dem Hamburger Major Label Polydor– unterschrieben. Rocko erlebt die Höhen und Tiefen des Showgeschäfts. Aber so ganz will die Künstlerkarriere nicht die ersehnte Flughöhe erreichen, zu eigen ist sein Humor, zu kantig sein Image als „King Rocko Schamoni“, der mit trashigen Punkallüren und reichlich Mut zur Lücke, was musikalische Vorbildung angeht, halb-ironische Schlager anstimmt. Er wird zum ewigen Vorprogramm, zum Pausenclown. Den Punks ist sein Programm zu angepasst, das Mainstreampublikum versteht es nicht. Die Karriere als Musiker stagniert, Selbstzweifel setzen ein.
„Bin ich eigentlich auf der Flucht oder auf der Jagd?“
Doch Rocko lässt sich nicht unterkriegen, schreibt weiter Songs, spielt die Hauptrolle im völlig kaputten Roadmovie Rollo Aller (und dem nicht minder schrägen Sequel Rollo Aller 2) und verdingt sich nebenher als Barmann in diversen Hamburger Szenetreffs. Man könnte vermuten, sein wahres Talent läge nicht in seiner Kunst, sondern in seiner Person. Ohne zu einer bestimmten Gang zu gehören, verbindet er die Menschen und freundet sich mit allen an. Als Barmann transformiert er die extrem heruntergekommene Kiezabsteige Sorgenbrecher in einen hippen Szenetreff, aus den Resten eines Altkleider-Räumungsverkaufes macht er mit Freunden die Pudel Boutique, eine Art Second-Hand-Artspace mit „Tanzraum“ und Shows. Unter anderem dabei: ein junger Comedian namens Helge Schneider, der für Rocko eine wichtige Inspirationsquelle wird. Und als dieser Ort abgerissen werden muss, entdecken Rocko und seine Freunde, darunter Goldene-Zitronen-Sänger Schorsch Kamerum, am Hafen eine weitere Bruchbude, aus der 1991, das Jahr in dem das Buch endet, der später weltberühmte Golden Pudel Club wurde. Damit gab es einen Garanten für ausufernde Partynächte und den unangefochtenen Nexus des Hamburger Nachtlebens.Du wirst stürzen und verrecken
Anders als in den anderen sieben Schamoni-Werken, und auch dem ersten Teil der Autobiografie, verbirgt sich die Person Rocko Schamoni in Pudels Kern nicht hinter den für ihn typischen ironischen Gagsalven. Immer wieder auftretende Selbstzweifel, Antriebs- und Ziellosigkeit, Panikattacken und depressive Phasen prägen gleichermaßen seine Geschichte. Der „King“ fällt in Stimmungslöcher, spricht von „Selbstverachtung und regelmäßigen suizidalen Phantasien“, die er von einem Therapeuten behandeln lassen muss:
Wenn ich nachts …unterwegs bin, fühle ich mich sicher … unter all den anderen Verlorenen, hier kann ich nach einigen Getränken auftrumpfen und mich selbstsicher benehmen. Ich habe das Glück, dass man mir aufgrund meiner Jugend die Verwahrlosung nicht sofort ansieht, und imponiere vielen als wildes und ungestümes aktionistisches Biest, als tolldreister Springinsfeld, keiner ahnt, wie ich bin, wenn ich mich am Ende der Nacht daheim von Hyde zu Jekyll zurückverwandele.
Diese oftmals schonungslose Offenheit fügt dem jüngsten Schamoni-Werk eine weitere wertvolle Facette hinzu. Man hat das Gefühl, auf den rund 340 Seiten nicht nur der Kunstfigur Rocko, sondern auch dem höchstens 24-jährigen Tobias zu folgen. Doch gegen Ende des Buches wird klar, dass er nur auf der Suche war. Er deutet seine nächsten künstlerischen Schritte an, nämlich die äußerst erfolgreiche Kollaboration mit Jacques Palminger und Heinz Strunk beim Telefonscherz-Trio Studio Braun, und ein nicht nur räumliches, sondern auch ein persönliches Ankommen: die Eröffnung des bereits erwähnten Golden Pudel Club.
Aus der ganzen Stadt kommen die Musik- und Kunstschaffenden, die Nachteulen und Schnapsvögel, die Drogis und Zivis, die Wilden und Spinnerten und Anstrengenden und Übererregten, die Angeber und Poserinnen, die Heimatlosen und Wärmesuchenden, der schillernde, aufgeplusterte Underground kommt angetapert, um die Neuigkeit zu überprüfen, den Standort zu checken, die Zukunft ihrer Nächte einzuweihen. Allen ist sofort klar, dass dies der Platz ist — THE PLACE —, hier stimmt einfach alles.
Berlin: hanserblau, 2024. 304 S.
ISBN: 978-3-446-27936-0
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe
Lesetipp zur Vertiefung:
Christoph Twickel (Hrsg.): Läden, Schuppen und Kaschemmen: Eine Hamburger Popkulturgeschichte
Hamburg: Edition Nautilus, 2003
ISBN: 978-3894014254
Juli 2024