Rosinenpicker | Literatur  Was geschah wirklich in Raven Hall?

Eine Gruppe britischer Internatsschüler sitzt auf den Betten ihres Schlafraums
Voller Erwartung im Schlafraum: Britische Internatsschüler im Jahr 1968 Foto (Detail): © mauritius images / Allan Cash Picture Library / Alamy / Alamy Stock Photos

Lust auf die Geschichte einer toxischen Jungsfreundschaft und das ungelöste Verschwinden von vier Menschen? Aus einem heruntergekommenen britischen Internat in den Swinging Sixties? All dies präsentiert Helmut Krausser in seinem aktuellen Roman – und einiges mehr.

Multitalent Helmut Krausser – der Autor schuf bisher immerhin 19 Romane, dazu Erzählungen, Lyrik, Theaterstücke, Drehbücher, Hörspiele, Opernlibretti, komponieren kann er auch – hat gerade ein neues Werk publiziert, in einem besonderen Genre. Denn Freundschaft und Vergeltung kommt auf den ersten Blick als Whodunit-Krimi daher.

Krausser: Freundschaft und Vergeltung © Berlin Verlag

Cold Case

Anthony „Tony“ Brewer – Ich-Erzähler, Jurist im Ruhestand, immer noch gequält vom dem, was sich zu seiner Schulzeit Mitte der 1960er-Jahre im südenglischen Internat Raven Hall ereignete – will endlich ein komplexes Rätsel lösen. Er will endlich Klarheit herstellen in einem Fall, den die Polizei aufgab und alsbald die Ermittlungen einstellte. Die Boulevardpresse tönte damals vom „Raven Hall Mystery“, verlor aber auch schnell das Interesse.

Und so will nun Tony diesen Cold Case neu aufrollen: das spurlose Verschwinden von Raven-Hall-Direktorin Iris Pinkerton, von John Bradshaw, einem Mäzen, ohne den es Raven Hall längst nicht mehr gegeben hätte, von Deborah Rodgers, einer allseits verehrten Lehrerin, und schließlich von Chris Bradshaw, dem Sohn von John: ein egomanischer Unsympath, gedanklicher Überflieger, Schulverweigerer, Charismatiker und Manipulator – vor allem aber jemand, mit dem Tony unbedingt befreundet sein wollte, weil er ihn bewunderte, trotz oder wegen seiner den Internatsalltag stets auf Neue aufwühlenden Unkonventionalität, gepaart mit präpotenter Schamlosigkeit.

Begnadeter Selbstdarsteller

Dieser Christian „Chris“ Bradshaw wird gleich zu Beginn des Romans eingeführt und bleibt dessen Dreh- und Angelpunkt. Ins Internat fährt Chris wie andere auch mit dem Zug – und er nutzt das Abteil wie eine Bühne, auf der er vor seinen künftigen Mitschülern performt.

Kaulquappen nennt er diese – „Mehr Schwanz als Hirn und komplett unterentwickelt, aber mit Prospekt“ – Prospekt ist sein Spezialwort für Aussichten. Er lässt einen Flachmann mit Brandy kreisen, verschenkt frivole Fotos, spielt lauthals I got you babe von Sonny & Cher auf dem Kassettenrecorder ab und benutzt antiquierte Wörter wie vermaledeit. Alle sind sowohl irritiert wie fasziniert, vor allem Tony, der mit dem Abstand von Jahrzehnten das Schicksalhafte des Auftritts erkennt: „Bereits in diesem Moment war er dabei, uns zu rekrutieren, wovon wir nichts ahnten, denn er tat es mit Charme und dem Wissensvorsprung von einem Lebensjahr, was ihn zum natürlichen Anführer prädestinierte.“

Revolten und Eskalationen

Im Internat angekommen, versuchen sich die Schuljungs, versiert angeleitet von Chris, in Sex (oder ihrer Wunschvorstellung davon), Drugs und Rock’n Roll: Man philosophiert über Schlüpfer und Höschen, Joints und Rotweinflaschen werden herumgereicht. Beliebteste Bands sind die Byrds, die Kinks und The Who. Selbstgedichtete Lieder verhöhnen die Lehrerschaft.

Brisant und belastend sind die Verwicklungen auf zwischenmenschlicher Ebene: Die attraktive Lehrerin Deborah hatte ein Verhältnis mit dem Mäzen John Bradshaw, Schwangerschaft und Abtreibung inklusive, so wurde es kolportiert. Nun wird sie von Bradshaw-Sohn Chris erpresst und immer wieder massiv bedrängt. Die Situation rund um das verfallende Gemäuer spitzt sich zu, nicht nur altehrwürdige Grundsätze drohen ins Rutschen zu geraten. Die Internats-Direktorin Pinkerton will ordnend eingreifen – woraufhin sie verschwindet, genau wie Vater und Sohn Bradshaw sowie deren beider Angebetete Deborah Rodgers.

An all dem lässt der Autor auf mehreren Zeitebenen teilhaben: Da ist in Teil 1 die Ich-Erzählung Tonys aus der direkten Zeit rund um die unerhörten Vorfälle. Gleich daneben stehen protokollartige Aufzeichnungen aller möglicher Personen aus der Erinnerung – zwanzig Jahre nach dem mysteriösen Verschwinden hatte Tony den ersten Versuch einer Aufklärung unternommen. Die Sichtweise dritter Personen bescheren uns mehrere Versionen der Ereignisse, die Hauptfiguren können daraufhin nicht mehr so leicht ins Gut-Böse-Schema gepackt werden. Einer Lösung kommt Tony nicht näher. Stattdessen: „Diese Stille. Dieses Schweigen. Das Rätsel.“

Letzte Hoffnung Internet

Als Teil 2 präsentiert Krausser ein einseitiges Intermezzo – kürzer wurde selten ein Leben als erfolgreicher Jurist, Ehemann und Familienvater zusammengefasst. Im dritten und letzten Teil – es ist 2015 und Tony bezieht inzwischen Rente – nimmt der Ich-Erzähler die Suche nach dem Schicksal der Verschwundenen wieder auf. Er schreibt in der örtlichen Zeitung, nutzt das Internet, etabliert ein Blog, puzzelt weiter, geht den unmöglichsten Spuren in seitenlangen Mail-Korrespondenzen nach. Ihn erreichen aufregende Nachrichten aus dem Nirgendwo – sie entpuppen sich als Fake News. Das tut seiner obsessiven Fahndung keinen Abbruch, verhindert das doch auch die Langeweile des Pensionärsdaseins, das Absinken in die Bedeutungslosigkeit, das endgültige Loslassen desjenigen, den er auf der letzten Seite des Buches als seinen besten Freund bezeichnet.

Werden die Rätsel gelöst? Teils ja, teils bleiben sie für immer im literarischen Dunkel. Kein Spoiler an dieser Stelle, nur die Empfehlung, sich mit diesem unterhaltsamen Buch über Freundschaft und verpasste Chancen, über Täuschung und Wahrheit, über die Suche nach Sinn und Erfüllung, schließlich über die Sechziger Jahre als Ära des rebellischen Aufbruchs die düsteren Wintertage kurzweiliger zu gestalten.
 
Helmut Krausser: Freundschaft und Vergeltung
Berlin: Berlin Verlag, 2024. 352 S.
ISBN: 978-3-8270-1416-0