Berlinale Blogger*innen 2024  Internationales Filmfestival im Umbruch

„In Liebe, Eure Hilde“ (Regie: Andreas Dresen) mit Johannes Hegemann, Liv Lisa Fries, Wettbewerb der Berlinale
„In Liebe, Eure Hilde“ (Regie: Andreas Dresen) mit Johannes Hegemann, Liv Lisa Fries, Wettbewerb der Berlinale Foto (Detail): © Frederic Batier / Pandora Film

Das Festival ist auf Diät: Zwei Sektionen wurden gestrichen, es laufen insgesamt weniger Filme. Der Internationale Wettbewerb präsentiert sich derweil mit vielversprechend breitem Angebot. Läutet das Leitungsteam damit die Zukunft der Berlinale ein?

Das ist sie schon, die letzte Berlinale, die Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und der Künstlerische Leiter Carlo Chatrian in ihrer fünfjährigen Amtszeit ausrichten. Rund 230 Filme laufen 2024 auf dem größten Publikumsfestival der Welt. 2023 waren es noch mehr als 280, zu Zeiten des Vorgängers Dieter Kosslick gar über 400. Die Berlinale verschlankt sich zunehmend. Gründe dafür liegen auf der Hand: Erst wirkte sich Corona negativ aus, dann kamen Inflation und Preisspiralen hinzu – jetzt muss man sparen. Zwei Sektionen, Perspektive Deutsches Kino und Berlinale Series, sind dem Rotstift zum Opfer gefallen. Die Filme werden trotzdem zu sehen sein, verteilt in anderen Reihen oder in speziellen Galas.

Weltumspannender Wettbewerb

Carlo Chatrians neugeschaffene Encounters-Reihe bleibt indes unbeeinträchtigt: 15 Beiträge sind dort vertreten, darunter Manoj Bajpayee's The Fable, seit 30 Jahren der zweite indische Film, der für eine kompetitive Sektion der Berlinale nominiert ist. Auch der Internationale Wettbewerb präsentiert sich in gewohnter Vielfalt: 20 Produktionen und Koproduktionen aus insgesamt 30 Ländern konkurrieren um den Goldenen und die Silbernen Bären. Ihre Auswahl macht einmal mehr das cineastische Gespür Carlo Chatrians für innovative Formen und Geschichten deutlich.
„Another End“. Regie: Piero Messina, mit Gael García Bernal „Another End“. Regie: Piero Messina, mit Gael García Bernal | Foto (Detail): © Matteo Casilli / Indigo Film
So wird erstmals ein Wettbewerbsbeitrag aus Nepal dabei sein. Shambala von Min Bahadur Bham begleitet eine Frau auf der Suche nach ihrem Ehemann durch die Weiten des Himalayas. Interplanetarische Ritter beherrschen ein französisches Fischerdorf in Bruno Dumonts dystopischer Tragikomödie L’Empire. In einem weiteren Science-Fiction-Film, Another End von Piero Messina, spielt Gael García Bernal einen Mann, dessen verstorbene Freundin ins Leben zurückgeholt wird. Auch der südkoreanische Kultregisseur Hong Sangsoo darf nicht fehlen, in seiner Komödie A traveler’s needs ist der französische Superstar Isabelle Huppert zu sehen.

Vergangenheit, Zukunft und ein Flusspferd

Als filmische Reminiszenz an die vergangene Corona-Pandemie lässt sich Hors du Temps deuten, Olivier Assayas hat ihn während des Lockdowns im Landhaus seiner Eltern gedreht. Der deutsch-französische Dokumentarfilm Architecton von Victor Kossakovsky wiederum beschäftigt sich mit den Baustoffen Beton und Stahl – einschließlich der Frage, wie wir künftig leben wollen. Und in seinem vierten Langfilm Pepe lässt der Dominikaner Nelson Carlos De Los Santos Arias ein Flusspferd berichten, wie es im Privatzoo eines kolumbianischen Drogenbarons gelandet ist. Der Film sei der am wenigsten „klassifizierbare“ Beitrag des Wettbewerbs, sagte Carlo Chatrian. Das macht neugierig.

Intensität des Lebens

Mit Andreas Dresen und Matthias Glasner sind zwei renommierte deutsche Regisseure im Bären-Rennen. In Liebe, Eure Hilde erinnert an die NS-Widerstandskämpferin Hilde Coppi (Liv Lisa Fries), die 1943 in Berlin hingerichtet wurde. Das Drehbuch schrieb erneut Laila Stieler, die 2022 für Dresens Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush einen Silbernen Bären erhielt.
„Sterben“ von Matthias Glasner, mit Lilith Stangenberg „Sterben“ von Matthias Glasner, mit Lilith Stangenberg | Foto (Detail): © Jakub Bejnarowicz / Port au Prince, Schwarzweiss, Senator
Gespannt sein darf man auch auf das Familiendrama Sterben, mit dem Matthias Glasner nach zwölf Jahren in das Hauptprogramm zurückkehrt. Der Film „über die Intensität des Lebens angesichts der Unverschämtheit des Todes“, so der Verleih, versammelt mit Lars Eidinger, Corinna Harfouch und Lilith Stangenberg ein prominentes deutsches Ensemble.

Afrikanisches Kino und Repressionen aus Teheran

Die Überraschung: Mit drei Produktionen zeigt das afrikanische Kino eine starke Präsenz im diesjährigen Hauptprogramm, galt es doch lange als weißer Fleck im Weltkino. Black Tea von Altmeister Abderrahmane Sissako erzählt die Liebesgeschichte zwischen einer jungen ivorischen Frau und einem älteren Chinesen. Koloniale Raubkunst wiederum steht im Mittelpunkt der Doku Dahomey (Mati Diop). Mit Who do I belong to gibt die Tunesierin Meryam Joobeur ihr Langfilmdebüt.
„Dahomey“, Regie: Mati Diop „Dahomey“, Regie: Mati Diop | Foto (Detail): © Les Films du Bal – Fanta Sy
Neben Diop und Joobeur gehören Claire Burger (Langue Étrangère), Margherita Vicario mit ihrem Regiedebüt Gloria! sowie die Österreicherin Veronika Franz (Des Teufels Bad) zur kleinen Riege der Regisseurinnen. Ob die Iranerin Maryam Moghaddam ihren Film My favorite cake über eine Teheranerin, die selbstbestimmt leben möchte, überhaupt persönlich vorstellen kann, ist noch offen. Die iranische Regierung verhängte gegen sie und ihren Co-Regisseur (und Ehemann) Bhetash Sanaeeha ein Reiseverbot. Berlinale-Leitung und Politik fordern Meinungsfreiheit für das Paar und machen sich dafür stark, dass die beiden nach Berlin kommen können. Es bleibt zu hoffen, dass die Proteste fruchten, sind doch die Repressionen gegen Filmemacher im Iran noch verschärft worden.

Dialoge und Raritäten 

Wieder nutzt das Festival seine Strahlkraft, um für einen offenen Dialog und friedlichen Austausch einzutreten. Das Leitungsduo positioniert sich deutlich gegen Rassismus und „jegliche Form von Diskriminierung“. Zum aktuellen Nahost-Krieg soll etwa ein mobiles „Tiny House“ die Möglichkeit bieten, sich über den israelischen-palästinensischen Konflikt austauschen zu können. Ein Panel verhandelt das Filmschaffen in Zeiten der Krise.
„Gojira” von Ishirō Honda,  Berlinale Classics 2024 „Gojira” von Ishirō Honda, Berlinale Classics 2024 | Foto (Detail): © 1954 TOHO CO., LTD.
Doch soll es bei dieser 74. Berlinale nicht nur um Krisen gehen. Das Kino wird im Mittelpunkt stehen – und seine Stars: Cillian Murphy und Emily Watson aus dem Eröffnungsfilm Small things like these wollen dabei sein. Gael García Bernal, Rooney Mara, Isabelle Huppert, Carey Mulligan, Paul Dano und Kristen Stewart haben ihr Kommen angekündigt. Freuen darf man sich auf Martin Scorsese, der den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk erhält. Oder auf cineastische Raritäten wie die restaurierte Originalfassung des japanischen Godzilla-Klassikers Gojira von 1954 – oder den 14-stündigen griechischen Dokumentarfilm exergue – on documenta14

Unterm Strich erscheint das reduzierte Programm tatsächlich als ein Gewinn, können sich doch die einzelnen Produktionen stärker im internationalen Kontext profilieren. Vielleicht ermöglichen Chatrian und Rissenbeek zum Abschied mit der von ihnen angestoßenen Verschlankung einen Blick in die Zukunft der Berlinale.
 

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