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Unter der kalifornischen Sonne lässt es sich gut leben: Die Kaulitz-Brüder
Unter der kalifornischen Sonne lässt es sich gut leben: Die Kaulitz-Brüder © Netflix

Die Kaulitz-Brüder haben bereits auf vielen Hochzeiten getanzt. Der nächste Reigen lautet „Kaulitz & Kaulitz“. In der Netflix-Produktion dreht sich alles um die Kaulitz-Brüder selbst, doch in der strikten Inszenierung liegt gerade ihre Stärke.

Reality-TV reflexhaft als Volksverdummung und Trash zu verdammen – das gehört längst der Vergangenheit an. Zu viele aufwendig produzierte Formate von The Masked Singer über Das große Backen bis The Traitors sorgten in den vergangenen Jahren für wirklich gute Unterhaltung. Zu sehr hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass an „guilty pleasure“ eigentlich nichts guilty sein muss, wenn man vor dem Bildschirm doch bloß ein bisschen Realitätsflucht sucht. Und selbst größte Kritiker*innen zollen der Großfamilie Kardashian-Jenner längst Respekt dafür, welches Kapital sie aus der Entscheidung geschlagen hat, irgendwann den Fernsehkameras die Türen zu öffnen.

Neuer Markt, neue Serie

Und nun hat eine weitere Familie beschlossen, sich für eine Reality-Show durch den Alltag begleiten zu lassen. Kaulitz & Kaulitz ist das neueste Kapitel im Neuerfindungs-Prozess der Zwillinge Bill und Tom Kaulitz. Bald 20 Jahre ist es her, dass die Single Durch den Monsun erschien und über Nacht die Magdeburger Band Tokio Hotel so berühmt machte, dass die Brüder nach der Pubertät nach Los Angeles umzogen.
Inzwischen ist es allerdings weniger die Musik, weswegen die Kaulitz-Brüder im Rampenlicht stehen – auch wenn es Album Nr. 6 im Jahr 2022 noch kurz in die deutschen Top Ten schaffte. Stattdessen sind die beiden vielmehr hauptberuflich Promis, tingeln durch TV-Shows wie The Voice of Germany oder Wer stiehlt mir die Show?, machen Werbung für Fast Food und haben mit „Kaulitz Hills“ seit geraumer Zeit auch einen recht populären Podcast.

Einblicke von Heidi Klum 

Was liegt also näher, die Selbstvermarktung mit der Produktion einer eigenen Serie fortzusetzen? Die jüngst erschienene Netflix-Serie Kaulitz & Kaulitz ist demnach der nächste logische Schritt der Kaulitz-Brüder und in gewisser Weise die bebilderte Version des Podcasts, in dem Bill und Tom bereits Einblicke in ihr Leben gegeben haben. Das Prinzip der Sendung ist schnell erklärt: 2023, nach fünf langen Monaten auf Tour, kehren Bill und Tom in ihre kalifornische Wahlheimat zurück und lassen sich eine Weile lang von Kameras begleiten. Dass die vermeintlich ungefilterte Authentizität dabei auch ihre Grenzen hat, wird gleich klar: Während sich Bill auch in seinem (übrigens recht charmanten) Haus in den Hügeln filmen lässt, darf die Crew in Toms Zuhause nicht drehen. Gattin Heidi Klum nimmt genauso wie Mutter Kaulitz, die persönliche Assistentin oder diverse Freund*innen hin und wieder Platz vor der Kamera, um das Geschehen zu kommentieren.

Drama zwischen LA und München

Wenn nicht gerade Toms Welpen Sorgen bereiten (Bienenstich-Alarm!), haben die Brüder allerhand zu tun. Diverse Shoppingtrips stehen genauso an wie ein Arztbesuch zur Hautkrebsvorsorge oder Bills dringend nötige Fahrprüfung für den US-Führerschein. Gefeiert wird zudem in schöner Regelmäßigkeit, sei es der 34. Geburtstag im Joshua Tree Nationalpark oder beim Oktoberfest. Und das Ausräumen eines randvollen Lagerraums ist die ideale Gelegenheit, mit jeder Menge Erinnerungsstücken immer wieder die Vergangenheit aufleben zu lassen.

Dass viele dieser Ereignisse den Eindruck erwecken, als würden sie überhaupt nur für die Show stattfinden, ist geschenkt. Niemand sollte Kaulitz & Kaulitz einschalten in der Erwartung, einen unverfälschten Alltag fernab von Selbstdarstellung präsentiert zu bekommen. Genauso wie Sendungen dieser Art nicht darauf ausgelegt sind, in psychologisch komplexe Tiefen abzutauchen, wenn man doch stattdessen auch malerisch mit dem Auto durch L.A. cruisen oder das nächste Party-Outfit aussuchen kann.

Selbstinszenierung mit Augenzwinkern

Doch gleichzeitig bringt die Show mitsamt ihren beiden Protagonisten eine Wahrhaftigkeit und Warmherzigkeit mit, wie man sie im Reality-TV sonst eher selten findet. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier etwa Bills Queerness thematisiert, aber nicht ausgestellt wird, ist ebenso erfreulich anzusehen wie die spürbare Innigkeit, die diese beiden Brüder selbst in Konfliktsituationen miteinander verbindet. Und wer die Kardashians für ihren Geschäftssinn feiert, sollte ohnehin mindestens so begeistert davon sein, wie es den Kaulitz-Zwillingen dieser Tage gelingt, ihren Ruhm gleichzeitig auszuschlachten und zu vermehren und nebenbei auch gleich selbst den Meta-Kommentar mitzuliefern.
Netflix-Serie, 8 Folgen à ca. 45 Min.
Regie & Drehbuch: Michael Schmitt
Protagonist*innen: Tom Kaulitz, Bill Kaulitz