Tonabnehmer | Musik  Blütenschaukelei mit Kunstrasen-Vibes

Luci van Org und Ralf Goldkind von Lucilectric bei einem Konzert am 01.06.1994 in Köln
Hergehört: bei Lucilectric stand Sängerin Luci van Org im Vordergrund, Ralf Goldkind musste mit dem Hintergrund vorlieb nehmen © picture alliance / Fryderyk Gabowicz

Es ist einer der langlebigsten Hits in Deutschland. Bis heute wirkt das Mitte der neunziger Jahre erschienene Weil ich ein Mädchen bin des Duos Lucilectric nach und steht stilbildend für das „Girlie“-Phänomen jener Zeit.
 

Blitzt dieser Song aus dem Frühling des Jahres 1994 auf, haben ihn Nineties-Zeitzeug*innen nicht nur schnell wieder im Ohr sondern genauso auch vor Augen. Die Refrainzeile „Weil ich ein Mädchen bin“ hat sich allein durch die Kraft der Wiederholung (penetrante 31 Mal in der Single-Version) in Gedächtnisse gegraben, aber auch das knallbunte Video ist Teil der Story des One-Hit-Wonders Lucilectric.

Dabei steht es lange nicht gut um das spätere Erfolgsstück. Erst mit Verzögerung und den Umweg über einen niederländischen Sender und die dortigen Charts findet es den Weg in die damals populäre TV-Show Geld oder Liebe von Jürgen von der Lippe. Der Song kommt an, Weil ich ein Mädchen bin steht nun auch in Deutschland auf den Gleisen und dann schlägt die Stunde von VIVA. In einem Podcast sagt der ehemalige Video-Jockey und Moderator Markus Kavka: „Der erste Hit, der bei VIVA gemacht wurde, das war Lucilectric.“
Insofern verwundert es nicht, dass zur Erinnerung an diesen Ohrwurm auch das Bild gehört, wie Sängerin Luci van Org auf einer scheinbar freischwebenden Schaukel durch die grelle Studio-Kulisse schwingt. Ihre hüftlangen blonden Dreadlocks klimpern und die Schaukelseile sehen sich gesäumt von Blüten. Zwischendrin immer mal das verzerrte Gesicht von Ralf Goldkind, der ebenfalls zum Duo Lucilectric gehört. Das Ganze gleicht einem artiziellen Fiebertraum, der vor allem Styropor- und Kunstrasen-Vibes vermittelt.

Warum der Song aber seinen Hit-Moment überdauert, liegt an seinem Thema: Weil ich ein Mädchen bin ist die Hymne des „Girlie“, eines Neunziger-Trends, der vor allem in Deutschland großen Widerhall findet. Auch hier spielt der bereits erwähnte und im Dezember 1993 gestartete Sender VIVA eine Rolle. Mit der Moderatorin Heike Makatsch hat das „Girlie“ sein erstes Gesicht, der Song von Lucilectric übersetzt es wenig später in die Charts. Der Ursprung des Trends liegt dabei in den USA, dort spricht man allerdings viel eher von „Girl Power“, feministische Acts wie Bikini Kill oder Team Dresch erobern Plätze in der männlich dominierten Musikkultur. In Deutschland und Europa bleibt das Stachelige weitgehend auf der Strecke, die Bewegung erzählt sich über das quietschbunte, freche Girlie. Eine neue Generation junger Frauen wird sichtbar gemacht im expandierenden Pop des VIVA-Jahrzehnts. All das flimmert irgendwo zwischen Selbstermächtigung und einem male gaze im Lolita-Wahn, zwischen Repräsentation und Fetischisierung.

Komm doch mal rüber, Mann
Und setz‘ Dich zu mir hin
Weil ich ein Mädchen bin
Weil ich ein Mädchen bin

Lucilectric: Weil ich ein Mädchen bin

Diese Ambivalenz setzt sich auch im Songtext fort: „Was'n das für'n wundervoller Hintern / Der da neben mir am Tresen steht? / Und der Typ, der am Hintern noch mit dran ist / Hat sich grade zu mir umgedreht“. Sexistische Realitäten, die den weiblichen Körper allzu oft nur als Objekt beschreiben, finden sich hier offensiv umgedreht. Dennoch bleibt die Erzählerin passiv, die Zeile „lass dem Mann den ersten Schritt“ stellt klar, dass tradierte Rollenbilder nicht aufgebrochen, sondern nur selbstbewusster gelebt werden wollen. Nun, auch kleine Fortschritte verkürzen den Weg.

Luci van Org hält den Song heute für „nach wie vor geil“, den Text aber für antiquiert. Die große Stunde der Girlies sollte übrigens noch kommen – zwei Jahre nach Lucilectrics Mädchen erscheint mit Wannabe die erste Single der Spice Girls. Das Phänomen erreicht schwindelerregende Höhen und empowert unzählige junge Frauen in der ganzen Welt. In Deutschland bleibt auch das Duo Lucilectric bis heute mit dem Girlie-Boom verknüpft. Wobei der Fortlauf der Karriere von Sängerin Luci van Org markiert, dass das Label „Mädchen“ im Leben einer Frau nur eine Station sein kann. So lässt sie die Rolle der Göre hinter sich und tritt in den 2000er-Jahren unter dem Namen Üebermutter auf und siedelt über ins Metal-Genre NDH (Neue Deutsche Härte). 2019 veröffentlicht sie den Roman Vagina Dentata, der sich erneut mit Geschlechterkämpfen auseinandersetzt – dabei aber das gefällig blumige Ornament, also die ganze Blütenschaukelei zuhause lässt und sich eher konfrontativ gibt. Einstige Girlies zeigen heute die Zähne? Eine Entwicklung, die man nur begrüßen kann.