Ein neues Wort zu bilden, ist im Deutschen recht einfach. Aber nicht jede Neuschöpfung ist auch wörterbuchtauglich. Über die Arbeit mit langen Excellisten in der Duden-Redaktion.
Konrad Duden veröffentlichte im Jahr 1880 sein Vollständiges orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache – brillantes Marketing, denn es konnte und kann natürlich kein „vollständiges“ Wörterbuch des Deutschen geben.Aber wie viele Wörter hat die deutsche Gegenwartssprache überhaupt? Darüber ist in den letzten Jahren eine intensive Diskussion entbrannt. Die computerlinguistischen Methoden machen es möglich, viel genauer als früher zu erfassen, wie groß der Wortschatz wirklich ist. Um das Jahr 2000 herum, in meinen ersten Jahren als Dudenredakteurin, wurde der Umfang des Wortschatzes der deutschen Standardsprache mit 300.000 bis 400.000 Wörtern angegeben. Eine Auswertung des Dudenkorpus, unserer elektronischen Textsammlung, erbrachte vor Kurzem eine Zahl von 17,4 Millionen Grundformen, also unterschiedlichen Wörtern in ihrer unflektierten Form. Ist der Wortschatz in so wenigen Jahren so stark gewachsen? Wie lässt sich ein solch großer Unterschied erklären?
Was ist ein Wort?
Dazu müssen wir uns erst einmal darüber verständigen, was eigentlich ein Wort ist. Ist der Müllautohintendraufsteher eines? Auch wenn Sie das Wort noch nie gehört haben, ja, es ist eines. Warum? Es ist eine Einheit aus einem Formativ und einer Bedeutung, die wir verstehen. Es wird großgeschrieben, davor und danach erscheint ein Leerzeichen, man kann eine weibliche Form bilden et cetera. Trotzdem gibt es bei einigen Menschen sicher Vorbehalte, die Bildung als Wort zu akzeptieren, und das hat vermutlich mit seinem seltenen Auftreten zu tun – es ist ein sogenannter Okkasionalismus. Aber ist es auch ein Wort, das zur Standardsprache gehört? Sicher nicht. Es kommt dafür einfach nicht oft genug vor, in unserem Korpus erscheint es gar nicht. Und so gibt es viele Tausende weiterer Wörter, die wir in unserer Textsammlung zum Beispiel mit nur mit einem Beleg nachweisen können, die also sehr selten auftreten.So lässt sich die große Differenz erklären. Aber natürlich ist die Zahl der deutschen Wörter sowieso unendlich, denn wir können in jeder Minute neue Wörter bilden. Das hat u.a. damit zu tun, dass das deutsche Wortbildungssystem so perfekt ausgebildet ist und wir in der Lage sind, immer neue Kombinationen von Wortteilen zusammenzusetzen. Deshalb wird es auch nie ein vollständiges Wörterbuch der deutschen Sprache geben.
Wörterbuch als Spiegel der Zeit
In die letzten Auflagen des Rechtschreibdudens sind jeweils 5.000 neue Wörter aufgenommen worden. Wie wählt die Dudenredaktion diese aus der Flut der neuen Wörter aus? Dazu vergleichen wir, welche Wörter in den drei bis vier Jahren zwischen zwei Auflagen neu in unser Korpus, in unsere Textsammlung, gekommen und eben noch nicht im Duden verzeichnet sind. Als Ergebnis erhalten wir eine sehr, sehr lange Excelliste mit vielen Tausend Einträgen. Diese Liste sehen die Redakteurinnen und Redakteure durch und wählen die Wörter aus, die interessant für das spezielle Wörterbuch sein könnten, etwa weil sie rechtschreiblich schwierig sind. Für ein Bedeutungswörterbuch hingegen wäre dieses Kriterium nicht so wichtig. In der Liste befinden sich aber auch viele Straßennamen, Namen von Fußballern und Ähnliches, weil diese häufig in den von uns ausgewerteten Zeitungen zu finden sind. Sie sind aber auch nicht so wichtig für uns, wir schreiben ja kein Personenlexikon. Wichtig ist hingegen, welche Wörter eine gesellschaftliche Relevanz haben oder zum Alltagswortschatz der Menschen gehören. So ist ein Wörterbuch, und besonders auch ein Rechtschreibduden, immer ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung seiner Zeit. Zu den Wörtern, die wir 2017 für die 27. Auflage des Rechtschreibdudens ausgewählt haben, gehören zum zum Beispiel die Lügenpresse, die Mütterrente, der Späti, die Willkommenskultur und die Zipphose.In meinem nächsten Beitrag geht es um Integration – die Integration von fremden Wörtern in die deutsche Sprache.
Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
Februar 2020