Sprechstunde – die Sprachkolumne  Vorsilben

Illustration: rote gezackte Sprechblase, die drei farbige Kreise enthält
Vorsilben spielen eine gewichtige Rolle in der deutschen Sprache. © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Sie sind unscheinbar und meist sehr kurz – doch sie können eine große Wirkung entfalten: Den Vorsilben gelingt es in der deutschen Sprache manchmal, die Bedeutung eines Wortes vollständig zu ändern. Liest man genau, lassen sich überraschende Entdeckungen machen.

Eine doppelt ausgesprochene Vorsilbe diente seiner Rede als Alliteration zum Schmuck.
(Oscar Wilde)

 
Wie wunderbar doch Vorsilben sind! An den Anfang eines Worts geheftet, geben sie ihm sofort eine völlig andere Bedeutung! Dies hat mir während meines Deutschunterrichts an der Schule immer viel Freude bereitet. Denn seien wir mal ehrlich, Vokabeln lernen ist nicht immer das Gelbe vom Ei, und ich war stets auf der Suche nach Lifehacks, um mir die Sache zu erleichtern oder sie zumindest interessanter zu gestalten.

Unschuldig oder tödlich

Gleich zu Beginn lernte ich, „schießen“ bedeutet „to shoot“ und „erschießen“ bedeutet „shoot to death“, „schlagen“ bedeutet „to hit“ und „erschlagen“ bedeutet „to beat to death“. Und obwohl „hängen“ ein recht unschuldiges Verb ist und „to hang“ bedeutet, endet „erhängen“ ebenfalls tödlich. Wie beeindruckend! Entsprechend entrüstet war ich, als ich entdeckte, dass das Wort „erziehen“ tatsächlich „to parent“ oder „to educate“ bedeutet. Was hatte diese tödliche Vorsilbe dort zu suchen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen „ziehen“ (was „to pull“ bedeutet) und der Leistung, Kindern beizubringen, wie sie gute Mitglieder unserer Gesellschaft werden? Und was geschieht in einer Sprache, in der „wachsen“ „to grow“ bedeutet, mit all denen, die „Erwachsene“ (adults) werden? Als ich erfuhr, dass „Erlangen“ tatsächlich der Name einer Stadt in Deutschland ist, klappte mir die Kinnlade herunter. „Langen“ bedeutet so viel wie ausreichen. Wie kann ein Ort so sehr ausreichen, dass es sogar schon tödlich ist?

Doch das ist noch nicht alles! Sogar die Tatsache, ob ein Wort auf seiner Vorsilbe betont wird oder nicht, kann mit lebensbedrohlichen Folgen verbunden sein. Nehmen wir das Wort „umfahren“. Das Wort „fahren” für sich genommen bedeutet nur „to drive“ oder „to travel“. Doch in Kombination mit der Vorsilbe „um“ kann es herumfahren, „to drive around“ oder überfahren, „to run over“/„to knock over“ bedeuten. Wann immer ich mir vorstelle, als Autoinsassin die Person am Steuer zum Umfahren einer mitten auf der Straße stehenden Großmutter aufzufordern, rinnt mir kalter Schweiß den Rücken hinunter.

Der besondere Moment

Ich lernte also schnell, dass Vorsilben zu mehr als nur einer „Rede […] zum Schmuck“ dienen. Obwohl die doppelt ausgesprochenen Vorsilben, von denen Oscar Wilde im einleitenden Zitat zu diesem Text spricht, zugegebenermaßen wohl eher Adjektive als Teile eines Substantivs oder Verbs sind. Nichtsdestotrotz spielen Vorsilben eine gewichtige Rolle in der deutschen Sprache. Vermutlich als Ausgleich für die Tatsache, dass der deutsche Wortschatz deutlich kleiner als der englische ist. Die preisgekrönte Übersetzerin Professor Susan Bernofsky spricht gern von ihrer Liebe für die deutsche Sprache. In einem Interview schwärmte sie davon, dass das Deutsche Dinge mit einer Vorsilbe zum Ausdruck bringen könne, für die das Englische im Zweifel mehrere Wörter benötige. Man vergleiche nur „einen Apfel anbeißen“ mit „to take the first bite of an apple“, den ersten Biss eines Apfels nehmen. „Beißen“ bedeutet „to bite“ und die Vorsilbe „an“ bringt diesen besonderen Moment zum Ausdruck, wenn die Vorfreude auf den ersten Biss erfüllt wird, den der englische Satz nicht recht vermitteln kann.

Schließlich kamen mir Wörter wie „unterhalten“ in den Sinn, was tatsächlich „to entertain“ bedeutet, sich jedoch aus den Wörtern „unter“, was „under“ bedeutet, und „halten“, also „to hold“ zusammensetzt. Da ich mich kritisch mit Marginalisierungsprozessen auseinandersetze, fragte ich mich, ob das Wort „Unterhaltungssendung“ tatsächlich eine tiefere Bedeutung hat. Hat die deutschsprachige Unterhaltungsbranche womöglich die Aufgabe, die Bevölkerung zu bändigen? Sie im wahrsten Sinne des Wortes „nach unten zu halten“, „to hold them under“? Ein interessanter Gedanke.

Ach, ich könnte noch endlos über deutsche Vorsilben philosophieren. Und ich wünschte wirklich, mehr Menschen würden meine Begeisterung teilen.
 

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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