Die Entwicklung des Fußballs verläuft rasant, mit ihr ändert sich auch dessen Sprache. Nicht allen gefällt das. Aufzuhalten ist es aber nicht mehr.
Wenn ich Fußball gucke, muss ich immer mal wieder an Robert Klauß denken. Zwar habe ich mit dem 1. FC Nürnberg, den Klauß zuletzt lange trainierte, wenig bis gar nichts zu tun. Und mit dem Sechstligisten SSV Markranstädt, bei dem der 37-Jährige seit seiner vor kurzem erfolgten Entlassung in Nürnberg spaßeshalber wieder kickt, noch weniger. Aber fällt bei einer Fußballübertragung im TV dieses oder jenes Wort, denke ich an Klauß und freue mich ein wenig.Abkippen in 3-1-5
Das liegt daran, das Klauß im Jahr 2021 an einer recht witzigen Szene beteiligt war. Nach einer Niederlage gegen St. Pauli saß der Coach sichtlich angefressen in der Pressekonferenz. Dann wurde er auch noch gefragt, warum man seinen Matchplan nicht habe erkennen können. Eine bissige Frage. Klauß atmete tief durch und führte den Journalisten dann einmal am Nasenring durch die Manege: „Ich habe den Matchplan erkannt“, sagte er. „Wir sind in einem 4-2-2-2 auf Pressinglinie eins angelaufen. Nach Ballgewinn wollten wir über den ballfernen Zehner umschalten, sind in Ballbesitz in eine Dreierkette abgekippt, mit einem asymmetrischen Linksverteidiger und einem breitziehenden linken Zehner, sodass wir in ein 3-4-3 respektive 3-1-5 abgekippt sind.“Klar soweit? Nein? Nun, Sie sind nicht alleine, es ging vielen Menschen so, auch jenen, die dem Fußballsport durchaus zugewandt sind. Ein Ausschnitt des Videos ging damals viral, in den Sozialen Medien gab es rasch Spott für Klauß, diverse klassische Medien zogen nach. „Verstehen Sie dieses Trainer-Deutsch noch?“ fragte beispielsweise die „Bild“. Und an dieser Stelle wird es interessant. Denn was genau tat Klauß eigentlich mit seinen Ausführungen? Er antwortete schnippisch, klar, aber vor allem auch sachgemäß auf die Frage. Er skizzierte in kurzen, knappen Sätzen seinen Matchplan – und zwar in der Sprache, die der Fußball im Jahre 2021 verlangt.
Man mag das bedauern (ich beispielsweise tue das als passionierter Fußballromantiker quasi sogar beruflich), aber die Zeiten, in denen der Matchplan noch „Marschroute“ hieß und diese größtenteils darin bestand, den gegnerischen Spielmacher über die Bande zu treten; die Zeiten, in denen Fußballer samt und sonders Bodo zu heißen schienen und dem ehrbaren Beruf des Vorstoppers nachgingen; die Zeiten, in denen man das Abkippen allerhöchstens vom Mannschaftsabend in der Vereinskneipe kannte, sie sind seit einer Weile schon vorbei. Und mit diesen Zeiten auch die Sprache.
Komplexität in Worte fassen
Eine Weile, das meint in diesem Falle knapp 20 bis 30 Jahre, in denen der Fußball eine erstaunlich rasante Entwicklung hinlegte. Die Vorstopper und Manndecker starben aus, wie vor ihnen schon die Mittel- und die Außenläufer. Sie wurden durch allerlei neue Spezies ersetzt: Doppelsechsen, falsche Neunen, ja sogar asymmetrische Linksverteidiger oder breitziehende Zehner, wie Klauß sie anscheinend gerne aufstellt. Das Spiel ist in relativ kurzer Zeit derart dynamisch und komplex geworden, dass sich die Aufgaben auf dem Spielfeld grundlegend geändert, diversifiziert, potenziert haben. Einen Mann zu decken, reicht eben nicht mehr, schon gar nicht, wenn der zu deckende Mann einfach abkippt oder sich breitzieht.Hinzu kommt die drastisch gestiegene Bedeutung von Daten und Analyse. Spiel und Spieler sind gläsern geworden, was in der Folge den Gebrauch technischer Begrifflichkeiten in der Sprache des Fußballsports nach sich zog. Aber das ist der Lauf der Dinge: So wie der Fußball sich vom Volkssport zur Multimillardendollar-Entertainment-Industrie entwickelt hat, so ist aus seiner Sprache eine Fachsprache geworden.
Vom Nutzen des Laptops
Das führt zwangsläufig zu Konflikten, denn rasche Entwicklungen teilen die, die ihnen ausgesetzt sind, in jene, die sie mitgehen, und jene, die damit fremdeln. Es wird ja noch nicht so lange asymmetrisch abgekippt, ein neuer Wert wie die Expected Goals war vor wenigen Jahren die gute alte „Chancenverwertung“ und dass der Packing-Wert die Anzahl der durch einen Pass überspielten Gegner bezeichnet, könnte man auch einfach so ausdrücken, dass halt eine gewisse Anzahl an Gegnern überspielt wird. Weswegen auch immer wieder Menschen gegen diese neuen Entwicklungen und ihre Bezeichnungen pesten. Mehmet Scholl etwa bezeichnete die junge Trainergeneration (zu der auch Klauß gehört) spöttelnd als Laptoptrainer, und na ja, vielleicht hätte ein Laptop der Scholl‘schen Karriere, die einst ziemlich glanzlos in der Regionalliga endete, geholfen. Und TV-Dinosaurier Bela Rethy witzelte 2014: „Ich schaue auch immer nach abkippenden Sechsen oder anderen taktischen Volten, aber entdecke sie meistens nicht.“ Was freilich ein erstaunlich offenes Eingeständnis für jemanden ist, der sein Geld damit verdient, Fußballspiele für ein breites Fernsehpublikum zu kommentieren.Und so überfordert die Sprache des Fußballs mitunter selbst jene, die ihn innig lieben. Auch mich, übrigens. Den Klauß‘schen Matchplan habe ich zwar in seinen Grundzügen verstanden: Früh angreifen, nach Ballgewinn das Spiel verlagern. So ungefähr. Was aber ein breitziehender Zehner genau ist, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht. Sollte ich Klauß mal auf einer Pressekonferenz gegenüber sitzen, werde ich ihn vielleicht danach fragen. Wobei, lieber nicht.
Sprechstunde – Die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
November 2022