Sprechstunde – die Sprachkolumne  Bilder töten mehr als tausend Worte

Illustration: Eine Person mit Sprechblase, die Sprechblase enthält mehrere Emojis
Internetsprache: Kann ich Emojis schreiben? Und kann ich sie auch sprechen? © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Die Veränderungsfähigkeit von Sprache ist viel stärker als die irreführende Kraft der Sorge. Dirk von Gehlen schreibt über fälschlich verklärte Vergangenheiten und die Eigenschaft der Sprache, sich immer neu anpassen zu können.

„Haben Sie auch das Gefühl, sich nicht mehr richtig konzentrieren zu können?“ Bevor Sie diese Frage voreilig beantworten, bitte ich Sie, sich richtig zu konzentrieren. Denn wenn Sie sich einmal für „Ja“ entschieden haben, ist es sehr schwierig, Sie für die heutige Folge der Sprechstunde zu begeistern.

Mit der sehr populären Bejahung der Frage nach vermeintlich nachlassender Konzentrationsfähigkeit geht eine Implikation einher, die große Teile des öffentlichen Denkens beschwert. Wer glaubt, sich nicht mehr richtig konzentrieren zu können, adelt damit (nicht selten unbemerkt) eine vergangene Form der Konzentration als die einzig richtige Art, dieses zu tun. Denn das „nicht mehr“ in dem Satz beschreibt nicht nur einen Niedergang, er erhebt die Vergangenheit auch zum zentralen Höhe- und Referenzpunkt: „Nur so wie es war, ist es richtig.“ Das Problem dabei: Von den uns zur Verfügung stehenden Zeiteinheiten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – ist die Vergangenheit die einzige, die in jedem Fall unerreichbar ist.

War früher wirklich alles besser?

Das macht Behauptungen über die Vergangenheit so stark. Niemand kann diese überprüfen, niemand kann messen, wie richtig Sie sich damals konzentriert haben. Es ist einzig Ihr Gefühl, das den Grad der Richtigkeit bestimmt. Und wenn Sie einmal angenommen haben, damals sei „richtig“ gewesen, dann kann jede Veränderung, die Leben naturgemäß mit sich bringt, nur eines sein: falsch.

In Bezug auf die Einstiegsfrage heißt dies: Ein aktuelles Gefühl der Überforderung wird nicht besser, wenn Sie es sich selbst (bewusst oder unbewusst) als Versagen oder Fehler erzählen. Im Gegenteil: Diese Erzählung wird irgendwann zu dem, was die Urlaubspostkarte für eine Ferienerinnerung ist. Sie überdeckt das wirkliche Erleben.

Napoleon soll einmal Folgendes gesagt haben: Um einen Menschen zu verstehen, müsse man die Welt betrachten wie sie war, als diese Person 18 Jahre gewesen ist. Menschen neigen dazu, die Phase der eigenen Sozialisierung zum Default-Modus nicht nur des eigenen, sondern allen Lebens zu erklären: „Was da ist, wenn ich aufwachse, halte ich für normal.“

Gerade im Umgang mit Sprache lässt sich dieser Prozess besonders deutlich aufzeigen. Wir werden in der finalen Folge der Sprechstunde auf all die Aspekte eingehen, die das Gendern hier offengelegt hat. Bevor wir uns aber damit befassen, sollten wir zunächst einmal festhalten, dass die Internetsprache überhaupt (noch) existiert. Denn so, wie wir uns aktuell mit der vermeintlich nachlassenden Konzentration befassen, sorgten sich die Menschen in den 1980er- und 1990er-Jahren, dass ihre Fähigkeit zu lesen verloren gehen könne. Der Kulturpessimismus dieser Zeit hielt das damals dominierende Fernsehen für den Totengräber des geschriebenen Wortes: Die bewegten Bilder würden den Menschen nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch die Bereitschaft und Fähigkeit zum Lesen rauben. Die Sorge: Bilder töten mehr als tausend Worte!

Demokratisiertes Schreiben

Um zu untermalen, wie anachronistisch diese Sorge aus heutiger Perspektive anmutet, war ich kurz versucht, das aufgerissene-Augen-Emoji hinter den letzten Satz zu schreiben. Aber kann man das überhaupt sagen: Kann ich Emojis schreiben? ��

Ich habe mich richtig auf die Frage konzentriert und bin zu der Überzeugung gelangt: Ja, wir schreiben Emojis! Denn die Form der Schreib-Sprech-Sprache, die das Internet befördert hat (Details dazu in der Avocado-Sprechstunde), ist eine Sprache, die eben geschrieben und gesprochen wird – und dazu zählen auch Abkürzungen, Slang-Ausdrücke und Emojis. Es wird so viel geschrieben, wie vermutlich noch nie in der Geschichte der Menschheit – ganz sicher aber deutlich mehr als zu der Zeit, als die Menschen sich sorgten, es könne bald zu wenig gelesen und geschrieben werden. Anders als damals befürchtet, bezieht sich Lesen und Schreiben aber nicht mehr nur auf Kanon-Texte zwischen schweren Buchdeckeln. Lesen und Schreiben ist demokratisiert – und findet in Kurzmitteilungen, Wegbeschreibungen und Untertiteln auf Hochformat-Videos Anwendung.

Diesen letzten Absatz hätte ich fast mit dem Stift-in-der-Hand-Emoji versehen. Auf diese Weise werden nämlich in manchen Teilen des Webs Aussagen markiert und hervorgehoben. Was der Textmarker für Papierlesende war, ist dieses Emoji für alle, ✍ die ✍ digital ✍ lesen ✍ und ✍ schreiben ✍. Zumindest – und jetzt wird es beunruhigend – war es so, als ich das letzte Mal nachgeschaut habe. Das kann sich hier und da schon wieder verändert haben. Denn die Tatsache des umfänglichen Lesens und Schreibens schlägt sich direkt auf das Tempo nieder, in dem Sprache sich verändert. Was gerade noch Symbol für eine lila farbige Auberginen-Frucht war, ist jetzt schon das Zeichen für einen Penis. Falls Ihnen das zu einfach ist: In diesem Tiktok-Clip wird erklärt , welche Emojis in der so genannten GenZ aktuell Verwendung finden.

Sprache ist beweglich

Die häufig gestellte Frage, ob das schlimm sei, möchte ich hier aus gutem Grund überspringen. Denn diese Beschleunigung hat vor allem eine Folge: Sie verkürzt den Zeitraum zwischen der vermeintlich richtigen Vergangenheit und dem deshalb falschen Heute. Sprache verändert sich so schnell, man muss gar nicht mehr alt sein, um sich davon überfordert zu fühlen. Es gibt aber zum Glück andere Reaktionsmuster, als schon in der Grundschule kulturpessimistisch zu werden. Der Dresdener Linguist Simon Meier-Vieracker beweist, wie man sich gegen Vergangenheitsverklärung wappnen kann: Er betrachtet Sprache nicht als Monument, das auf einem Sockel steht, sondern als bewegliche Veränderungskraft, die sich nicht an einem vermeintlich richtigen Gestern abarbeitet, sondern sich neuen Kontexten anpassen kann – all das macht der Linguistik-Professor auf Tiktok.

Ein weiterer Beweis für die These, dass Kontexte wachsende Bedeutung haben – und das gilt nicht nur für den Linguisten auf der vermeintlich kulturlosen Zappelplattform. Es gilt für die Aubergine in der Kurzmitteilung und am Ende auch für Ihre Konzentration. Vielleicht fühlt sich diese anders an als früher – aber nicht, weil sie per se schlechter geworden ist, sondern weil Sie sie in einem anderen Kontext nutzen. So wie Sie immer gleich gut Radfahren können, aber weitaus weniger Freude daran haben, wenn Sie Gegenwind verspüren. Werden Sie dadurch zu einer schlechten Radfahrerin oder einem schlechten Sportler?

Eben. Oder um es in der Internetsprache zu sagen ¯\_(ツ)_/¯
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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