Jan Snela besucht in Kyoto ein Karaoke-Haus. Dabei erkundet er das Wesen Japans – zwischen Stille und Geräusch.
Japan – das ist der Lärm und die Stille. Das sind Cosplayer, Höschenautomaten, der Wahnsinn Pachinko, gelegentliche Besuche Godzillas im Shopping-Viertel, Höflichkeiten plärrende Lautsprecher überall. Aber das sind eben auch (und für manche viel mehr) die trockenen Schlieren der Rechenspuren im Sand eines Zen-Gartens, das Lächeln Buddhas im Tempeldämmer, Teeschalen, Räucherstäbchenschwaden, der sich in einem fallenden Tropfen spiegelnde Kranich inmitten einer ihrer Vergänglichkeit anheimgegebenen Welt. Zumindest für mich überwog vor meiner Reise eher der zweite Aspekt. Ein leerer Spiegel, der mich nicht kenntlich machte. Das Andere als ein das Eigene schluckender Teich.Im Karaoke-Haus
Treppenaufgang in einem Karaoke-Haus in Kyoto | Foto: © Jan Snela Dennoch oder ja vielleicht gerade deshalb – und ausgerechnet im traditionsstrotzenden, kirschblütennieselnden Kyoto, dem aus Rücksicht auf seine Kulturschätze das Schicksal Hiroshimas und Nagasakis erspart blieb – verschlug es mich tief in der Nacht in eines der Karaoke-Häuser, die es in Japan überall gibt. Ka ra o ke - カラオケ. Darum soll es hier heute also gehen.Das Wort „Karaoke“ besteht aus kara = 空= „leer“ und oke, einer Abkürzung von „Orchester“ – eine jener immer auf so gute Art bizarr anmutenden japanischen Anverwandlungen eines okzidentalen Worts. „Karaoke“ – diese spannend widersprüchliche Konfiguration aus „Orchester“, „Leere“ und einem beides verbindenden großen „Ok!“ macht mich an John Cages Stück 4'33'' denken, bei dessen Aufführung das Orchester 4 Minuten und 33 Sekunden lang keinen Ton spielt. Aber dergleichen erwartete nicht einmal ich, ein Popkulturbanause vor dem Herrn, als ich in Begleitung einer zauberhaften Person, vorbei an goldenen Mikrofonen und einer freundlich besetzten Empfangstheke, zur uns zugewiesenen Kabine im vierten Stock hinaufstieg. Gedämpfte Japan-Pop-Exzesse aus den Nachbarwaben, zwei Mikrofone, zwei Tabletts, wireless connected mit einem noch dunklen Screen, eine Digital Native an der Seite – das Abenteuer konnte beginnen.
Pop der Jahrzehnte
Pop aus der Mottenkiste seiner ur-ersten Blüte einer bis dahin noch nicht gehörten Sophisticatedness in den Achtzigerjahren. Die blanker ziehenden, abgeglitterten Lieder der frühen Neunziger und der Jahrtausendwende der Popgeschichte. Wow, wie erhaben das so betrachtet schon klingt. Erst vorletzte Woche erzählte mir eine Japanerin, dass manche Menschen in Japan sich sogar Karaoke-Lehrer*innen leisten, um bei der obligatorischen Ochsentour durch Japans Vergnügungsangebote, etwa bei einem Betriebsausflug, keine schlechte Figur zu machen. So ernst also ist dieser Spaß.Hinter jeder Tür schräge Gesänge | Foto: © Jan Snela Dieser Spaß oder Ernst birgt aber noch etwas ganz anderes, das nicht aufhört, mich zu faszinieren – mich, inmitten der mehr oder weniger schrägen Gesänge heldenhafter Epigon*innen, mit einem Gefühl der Erhabenheit zu erfüllen. In der Tiefe steht der Perfektionismus dieses etwas albernen Tuns nämlich im Dienste der Unvollkommenheit, die unendliche Annäherung an ein Ergebnis, das nie eines wird. Schließlich bin ich, das merke ich nirgendwo so wie hier, nicht Michael Jackson. Aber das wird schon. Ich werde. Und höre nicht damit auf.
Melancholisches Glück am Imperfekten
Es wäre sicher verkürzt, die darin empfindbare Schönheit allein auf die Würde des Scheiterns zu beziehen. Im so betitelten Buch feiert der britische Autor Ivan Morris den japanischen Kult um untergegangene Samurai. Die Karaokeschönheit erschöpft sich meines Erachtens nicht hierin allein. Im Japanischen gibt es ein – wie immer – treffender vages Wort, um zu beschreiben, worum es mir geht. Wabi sabi (侘寂) bezeichnet, sehr kurz gefasst, das melancholische Glück am Imperfekten. Wenn sich die Leute voll Inbrunst in die Imitation von Idolen werfen, dann ist das das Gegenteil des rhetorischen Ideals der überbietenden Imitation. Wo unsere gesamte Kultur Lanzelot/Heiliger Gral, also drauf aus ist, zum Objekt des Begehrens aufzuschließen, hier ein spürbares Zelebriertwerden des Abstands zum Original. Das ist so spannungsvoll und entspannt. Vor Monaten las ich in einem Korbstuhl sitzend in Jun’ichiro Tanizakis Lob der Meisterschaft, dass der japanische Schönheitsbegriff weniger mit der Kälte der Perfektion einhergeht, als mit der Möglichkeit zu inniger Anteilnahme, einer Lässigkeit im Gemüt. Das ist so warmherzig-cool!Japan-Pop-Exzesse im Scheinwerferlicht | Foto: © Jan Snela Was unsere Karaoke-Session angeht, hatte ich dabei das Gefühl, dass die Kings und die Queens, deren Unsterblichkeits-Vibes wir zu erreichen hofften, in diesen Waben überhaupt erst geboren wurden. Aus fleißigen Kehlen. Eine substanzlose Idolatrie, die mir unmittelbar aufging, in meinem eigenen Tun – als das Wesen des Pop. Wie so vieles hier ohne Substanz auf ein Wesen hinweist. Ein Star überm Abgrund. Etwas, das zu sich kommt im leeren Herz des Orchesters. Natürlich wurde die eigene Leistung gescored. Das beste Ranking erreichte ich beim Plärren von Generator von Bad Religion. Jedes Mal, wenn es in unserer Kabine still wurde zwischen Lied und Lied, hörten wir in der Nebenbucht einen offenbar einsamen Mann die immer selbe Melodie besingen. Sein Gesang erinnert mich auch heute noch an ein Adlerküken beim Sturz aus dem Nest. Erstes Flügelbreiten im diagonalen Wind. Ein lauthals leises, wieder und wieder sich selbst an den Rand der Stille tragendes Bild.
Sprechstunde – Die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
August 2023