Ulrike Almut Sandig ist nicht nur preisgekrönte Lyrikerin, sie übersetzt auch Gedichte ins Deutsche. Was ist daran herausfordernd? Welche Geschichte steckt hinter der Nachdichtung? Unsere neue Kolumnistin öffnet die Tür zu ihrer Werkstatt – und nimmt uns mit auf Weltreise, zuerst nach Neuseeland!
Vielleicht gibt es zwei Arten des Lesens. Die eine ist die Suche nach Bestätigung des eigenen Weltbildes. Das hat seine Berechtigung. Es empowert. Die andere ist ein Suchen ohne bestimmtes Ziel, das einen mit echten Funden belohnt. Diese Art des Lesens befreit mich vom eigenen beschränkten Blick. Außerdem hat sie eine steile Lernkurve. Lesend begreife ich, wie es sich anfühlt, keinen deutschen Pass zu haben, der Mehrheitsgesellschaft nicht anzugehören oder auch nur: nicht ich selbst zu sein.Übersetzen ist Lesen 2.0
Das Übersetzen ist für mich die intensivste Form des Lesens. Jedes einzelne Wort, jede sprachliche Form von allen Seiten betrachtend, entsteht im besten Fall ein Stück Literatur, das in meiner Muttersprache wie ein Original gelesen werden kann, und von dem ich gleichzeitig etwas erfahre, das es in meiner Kultur nicht gibt. Am intensivsten kann ich diese andere Perspektive in Gedichten entdecken. Im streng begrenzten Sprachraum sehe ich nicht nur die Welt mit anderen Augen. Ich höre, wie sie klingt.Reise durch Raum und Zeit
Und Ihr auch! In den sechs Folgen dieser Kolumne stelle ich Euch sechs verschiedene Gedichte in Übersetzung vor. Unsere Weltreise geht kreuz und quer über den Globus - und weil Poesie manchmal auch Zeitmaschine ist, auch durch die Epochen. Das erste Gedicht bringt uns nach Aotearoa, Neuseeland.Geschrieben hat es Hinemoana Baker, die ich 2012 auf einem astronomischen Kongress in Neuseeland kennenlernte. Als Tochter eines Māori geht Bakers Ahnenlinie auf die Ngāi Tahu der neuseeländischen Südinsel und die Ngāti Raukawa, die Ngāti Toa und die Te Āti Awa auf der Nordinsel zurück. Sie hat aber auch Vorfahren aus England und Oberammergau in Bayern.
Poia weit, meine Poi, wania weit
Hinemoana erzählt mir, dass das Leipziger Grassi-Museum für Angewandte Kunst sie gebeten hatte, ein Gedicht auf ein Paar neuseeländische Poi in seinem Bestand zu schreiben. Ich erinnerte mich an die rasant anmutige Poi-Vorführung einer Gruppe Māori-Schülerinnen, der wir in den Tagen unseres Kennenlernens in Tolaga Bay, einem Dorf auf der Nordinsel Neuseelands, beigewohnt hatten.Das Wirbeln und Bouncen der kleinen Bälle, Hinemoana hatte es rhythmisch nachgebildet! Auch die Sprache selbst wechselt spielerisch zwischen neuseeländischem Englisch und Te Reo Māori. Dabei greift sie ein Pātere auf, das im 19. Jahrhundert von Erenora Taratoa, dem Oberhaupt der Ngāti Toa Rangatira/Ngāti Raukawa, komponiert wurde. Pātere sind traditionelle Spottlieder, die als Reaktion auf eine Verleumdung oder eine abfällige Bemerkung gesungen werden. Das Pātere, aus dem sie hier zitiert, heißt Poia atu taku poi. Ich frage nach, was es bedeutet, und Hinemoana übersetzt mir seine ersten beiden Zeilen: Poia atu taku poi, wania atu poi …, etwa so: „Schwing weit, mein Poi / Titscher weit, mein Poi”.
Die Backen und die Konten voller Luft
Im unbändigen Tanz ihrer Verse, rasant zwischen Englisch und Māori wechselnd, entdecke ich das Selbstbewusstsein einer indigenen Kultur, die trotz der sozialen Kluft ihrer Lebensrealität zu jener der Pakeha, Nachkommen der britischen Besatzer, stolz ihren Platz in der Gegenwart behauptet. Schwungvoll rast sie die endlos rote Rutschbahn der Zeit hinab. Und wohin? Natürlich mitten in die indigene Moderne hinein: du keine ahnin!
Sprechstunde – Die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
April 2024