Sprechstunde – die Sprachkolumne  Ich bin ganz aus Sprache gemacht

Illustration: Eine Frau mit Sprechblase in der sich ein Buch befindet, daneben eine weitere, etwas verblasste Sprechblase mit demselben Buch, dann nur noch das Buch ohne Sprechblase
Literatur scheint die Superkraft zu haben, sich von denen, die sie geschrieben haben, zu lösen © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Sie selbst hat schon viele Gedichte übersetzt. In ihrer letzten Kolumne würdigt Ulrike Almut Sandig nun zwei Kolleginnen, die sich ihrer Lyrik angenommen haben. Ein Ausflug in den englischen und den georgischen Sprachraum – und in andere Lesarten.

Vielleicht gibt es zwei Arten des Gelesen-werdens. Die eine sieht den literarischen Text als Spiegel. Es ist eine Impulsreaktion, die oft den ersten Zugang schafft. Das Ich im Gedicht, der Geschichte oder dem Roman wird kurzerhand mit mir gleichgesetzt. Diese Art, meine Literatur zu lesen, ist mir ein bisschen fremd. Wahrscheinlich spiele ich deshalb so gern damit. In der Stimme meines eigenen Textes spreche ich wie mit einem Vokalprozessor. Hallo, ich bin’s, und auch wieder nicht!

Ich bin die Landschaft

Einer meiner Gedichtbände trägt den ellenlangen Titel „ich bin ein Feld voller Raps verstecke die Rehe und leuchte wie dreizehn Ölgemälde übereinandergelegt“. Er stammt aus einem Text, der versucht Identität als etwas zu begreifen, das älter und größer ist als man selbst – ein Ich, das man teilen kann. Dieser letzte Kurztrip durch Zeit und Raum ist den Sprachheld*innen gewidmet, die meine eigenen Gedichte übersetzen. Zwei von ihnen will ich hier nennen.
Produktion: Poesiekollektiv Landschaft

Hüll die Gaumensegel in Atlantis

Am häufigsten übersetzt mich Karen Leeder. Die Inhaberin des Schwarz-Taylor-Lehrstuhls am Queens College in Oxford überträgt nicht nur meine Texte seit vielen Jahren ins Englische, sondern auch die von Durs Grünbein, Volker Braun, Raoul Schrott und vielen anderen. Längst ist sie unersetzliches Mitglied der Landschaft-Familie geworden. Ihre englischen Fassungen meiner Bücher ermöglichen mir eine andere Art des Gelesen-werdens. Eine, die die Fremdheit zwischen unseren verwandten Kulturen und Sprachen untersucht, anstatt sie einzuebnen.

Dabei entfernt sie sich teils weit von meinen Texten. Es fühlt sich an, als zöge sie einen seismischen Graben um den Erdball herum, um am Ende auf meiner Position herauszukommen. Einmal hat sie ein Anagramm von mir übersetzt – wieder in ein Anagramm und ohne die Bildebene im Stich zu lassen:
 
The tongue is a needle. And I am True North. Telling lies.

Late underdogs rattle in the home, ingest all. ‘Nu ein Ei’!     
Hide it in a hat. Lea runs legend-lost to unreel teeming      
data. Hello, in line! No suing the ultra-green tides. Meet
a satellite retinue hounding neater gold helmets in
to nature! genuine stellar lights, one alien theme. Did
someone tell a lie? Lea, treading dust, uttering her inn-
er need to linger: slum it, atone, still aged heath, ennui. 
Latent turn made true. The Gili-isles inhaled. Gone. One
nitrate hell intuited, almond Lea’s egg rite unseen. Oh!
The North ill, undone. See Lea, mud-genii, greet Atlantis.
The tongue is a needle. And I am True North. Telling lies.

Die drei zu Indonesien gehörenden Gili-Inseln liegen nur wenige Meter über dem Meeresspiegel. An den Stränden legen fünf Arten von Schildkröten ihre Eier ab.

“The tongue is a needle. / And I am True North. / Telling lies.” ist Emma McGordons Gedicht MAGNETIC entnommen.

Das Anagramm wurde veröffentlicht in: „Shining Sheep, Seagull Books: Kalkutta/New York/London 2023“
 
Produktion: Poesiekollektiv Landschaft

Meine anderen Ichs

In anderen Fällen habe ich Mühe, die Übersetzungen gegenzulesen, weil ich die Zielsprachen kaum kann. Oft kann ich sie gar nicht. Wie das Georgische, in dessen Übersetzung neulich das oben erwähnte Raps-Buch erschienen ist. Die Übersetzerin und Dichterin Bela Chekurishwili arbeitet als Kulturjournalistin und ist Doktorandin für Komparatistik an der Universität Tbilisi, zurzeit studiert sie an der Universität Bonn. Ihre eigenen Gedichte, ins Deutsche übertragen von Norbert Hummelt, sind von der Auseinandersetzung mit der georgischen Dichtungstradition geprägt, gehen aber weit über sie hinaus. In ihrem Gedicht „Safe Mode“ heißt es:
 
Ich bin geschützt
wie eine Todeszelle, eine Bauernscheune,
das Gedächtnis einer Witwe, eine Karte mit Geheimzahl.
Zugriffssicher, zuverlässig, und mit Garantie.
Wir sind übereingekommen, was der beste Modus ist.
Mein anderes Ich ist vor Verrat geschützt, mein Uterus – vor der Befruchtung,
das Haus davor, gebaut zu werden. (…)

Unsere Literaturen sind verwandt, aber unsere Sprachen sind es nicht. Als sie meine Gedichte übersetzte, rief sie mich oft an. Die Hand mit dem Telefon am Ohr, den Blick auf meinen Hund im hohen Gras gerichtet, lief ich ein Flussufer in Polen entlang und unterhielt mich mit ihr über Gender und Geschlecht, Tauben und Dove-Seife, idiomatische Ausdrücke wie „gefiedert und geteertes Mitleid“ oder unübersetzbare Wortspiele wie „wenn kein schöner Deut in meinem Schland zu finden ist“.

Einige Monate später, im Mai 2023, war Buchmesse in Tiflis. Und den ganzen Tag markierten mich auf Facebook georgische Leser*innen in ihren Selfies mit dem soeben erschienenen Buch რაფსის ყანა ვარ, შვლებს ვმალავ და ვანათებ ისე, როგორც ცამეტი ფერწერული ტილო, ფენა-ფენა დალაგებული. Das hat mich beglückt. Ich war nicht in Tiflis, und ich war es doch.

Wir sind der feine Unterschied

Es gibt so viele Arten des Gelesen-werdens. Literatur scheint die Superkraft zu haben, sich von denen, die sie geschrieben haben, zu lösen. Im besten Fall kann das eigene Gedicht einer Person, die ich nie gesehen habe, deren Sprache ich nicht spreche, Vorrat für dunkle Stunden sein. Andersherum kann eine Übersetzung aus einer mir (noch) fremden Kultur meine Sicht auf die Welt verändern. Wir sind einander ähnlich, aber nicht ganz.
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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