Sprechstunde – die Sprachkolumne  Laufend neue Wörter erfinden: Privatsprachen

Illustration: Zwei Köpfe mit Sprechblasen, in der einen Sprechblase ein Schallplatte aus der ein Stück herausgebrochen ist, in der rechten Sprechblase ein Tortendiagramm
Wir erfinden neue Wörter immer dann, wenn wir sie brauchen, wir fügen neue Grammatikregeln hinzu wenn sie vonnöten sind Illustration: Tobias Schrank; © Goethe-Institut e. V.

Ob in einer Paarbeziehung, am Theater oder in Gaming-Communities – in gesellschaftlichen Gruppen entwickeln sich mitunter eigene Sprachen. Elias Hirschl hat aufgeschrieben, was ihn daran so besonders fasziniert.

Ein faszinierendes Element von Sprache ist, dass sie sich unseren Notwendigkeiten anpasst. Wir erfinden neue Wörter immer dann, wenn wir sie brauchen, wir fügen neue Grammatikregeln hinzu, wenn sie vonnöten sind, schmeißen alte raus, wenn sie überflüssig geworden sind. Sprache ist ein soziales Werkzeug, das sich immerzu verändert. Das führt dazu, dass wir uns automatisch, ja nahezu unbewusst neue Sprachen ausdenken, die wir nur für bestimmte Aufgaben, Lebensbereiche oder Zeitabschnitte brauchen und dann völlig links liegen lassen. Geheimsprachen, die wir mit unseren Partner:innen erfinden, Kosenamen, Abkürzungen für alltägliche Aufgaben, Routinen, fast schon so etwas wie eigene Dialekte, die wir nur innerhalb einer Beziehung benutzen. Ganze Sprachzweige, die jedes Mal aussterben, sobald man sich trennt. Jemand sollte ein Lexikon der toten Sprachen getrennter Beziehungen anlegen, all diese kleinen Zweige des Sprachbaums, die nicht mehr weiter wachsen.

Wenn der Noob spawnt

Etwas ähnliches passiert in verschiedenen Fankulturen, vor allem in Gaming-Communities, wo sich ganze Vokabulare, ganze Wörterbücher rund um einzelne Spiele bilden, so lange aktiv bleiben, wie das Spiel über das man redet, aktiv bleibt und dann eben wieder zurückgelassen werden, wenn man sich dem nächsten Spiel zuwendet. Manche Begriffe setzen sich spielübergreifend durch. Manche wandern sogar in den Mainstream: „noob“, „OP“ für overpowered, „spawnen“ für Dinge, die plötzlich oder wiederkehrend irgendwo erscheinen und so weiter. Natürlich bilden jedes andere Hobby und jede andere Berufsgruppe auch notwendigerweise ihre eigenen Sprachen aus.

Spontane Nischenbegriffe

Eine noch schnelllebigere Sprache ist mir zum Beispiel aufgefallen, als ich für das Wiener Aktionstheaterensemble bei Stückentwicklungen mitgeschrieben habe. Ich habe bei den Theaterproben quasi als Unbeteiligter vom Seitenrand zugeschaut und mir Notizen gemacht, während unter der Anleitung von Regisseur Martin Gruber neue Texte aus Improvisationen der Schauspielenden entstanden. Dabei entstand auch eine Art eigene Sprache, teilweise sicher Wörter aus dem generellen Theaterjargon, aber ab und zu auch kleinere, nischigere Begriffe und Formulierungen für Phänomene, die nur in dem Moment jetzt gerade auf der Bühne passierten. Formulierungen für die es außerhalb dieser Probe weder Zweck noch Verständnis gäbe. Eine Notiz, die ich mir gemacht habe lautet: „Wir müssen Aggression zeigen, aber Aggression mit Aggression zeigen ist gaga, wir müssen Aggression durch Cha Cha Cha zeigen!“ Ein anderes Mal ist die Rede davon, dass man den „Auftritt verhindern“ müsse, es müsse „konstante Eigensabotage“ der Figuren an sich selbst betrieben werden. „Wir müssen für jedes neue Stück eine neue Sprache finden“, sagt Martin Gruber an einer Stelle selbst. Das schöne ist, dass das im Grunde das gleiche Konzept ist, nach dem Wissenschaft generell funktioniert. Man erforscht ein Themengebiet, erfindet dann neue Wörter, wenn man sie gerade braucht, um ein neuartiges Phänomen zu benennen oder ein Objekt genauer von einem anderen abzugrenzen.

Obskure Notizen

Das Gleiche passiert auch beim Schreiben eines Romans. Die Figuren, die man sich ausgedacht hat, die Plot-Struktur, die Zusammenhänge der einzelnen Episoden in einem System, das man manchmal über Jahre weitestgehend allein mit sich herumträgt, eine kleine Privatsprache, eine Privatwissenschaft, die nur schwer an die Außenwelt zu vermitteln ist. Der Grund, warum ich nachts aus dem Schlaf aufschrecke und mir notiere: „Die Trugschluss-Medikamente sind die Antidote zur Tom-Schmittisierung! (Neutralisationsreaktion! Chemie!)“ Manchmal fühlt sich der Feierabend nach einem Schreibtag an, als würde man aus einem anderen Land zurückkommen. Man tut sich für ein paar Stunden schwer, wieder normal mit Leuten zu sprechen. Aber das macht es auch so spannend. Romane-Schreiben ist, wie alle paar Jahre sein Studium, seine Disziplin zu wechseln, ständig etwas anderes recherchieren zu können.

Ständig neue Kreationen

Und all diese kleinen Privatsprachen zusammen sind wahrscheinlich auch gute Gründe, warum es keine weltumspannende, perfekte Universalsprache gibt und warum alle Versuche, so eine Sprache künstlich zu erschaffen, fehlschlagen müssen. Weil wir alle von Natur aus das Bedürfnis haben, ständig neue Wörter zu erfinden, neue Nischen zu erschaffen, neue Geheimsprachen und hippe Jugendwörter zu kreieren. Sprache macht aus unseren Alltagssituationen ihre eigenen kleinen, speziellen Wissenschaftsdisziplinen. An allem kann man forschen. Überall lässt sich etwas entdecken.
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

Mehr ...

Failed to retrieve recommended articles. Please try again.