Sprechstunde – die Sprachkolumne  Früher Arme-Leute-Dialekt, heute Kulturerbe

Illustration: rote Sprechblase mit dem Inhalt „kochem schmusen“
„Verdeckt sprechen!“ – oft das Ziel beim Sprechen von Rotwelsch-Dialekten Illustration: Tobias Schrank; © Goethe-Institut e. V.

Zu Beginn der 1990er Jahre schwärmten künftige und etablierte Sprachwissenschaftler*innen aus – in die Eckkneipen und Armenviertel mancher Städte. Dort interviewten sie die letzten noch lebenden Sprecher der Rotwelsch-Dialekte. Heute ist alles bestens dokumentiert – das freut auch die UNESCO.

Emmes, Haiwoog, Humpisch, Henese Fleck, Kochum, Lachoudisch, Lakerschmus, Laufdibbern, Lottegorisch, Masematte, Pleisle, Schlausmen – schon mal gehört? Vermutlich sind keiner Leserin und keinem Leser diese seltsamen Begriffe jemals begegnet. Sie klingen dunkel und geheimnisvoll, nur Eingeweihten sind sie zugänglich: Sprachnamen deutscher Geheimsprachen und als solche Nachfahren des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rotwelsch. Heute werden diese sogenannten „Rotwelsch-Dialekte“ in ihrer ursprünglichen Funktion, Dritte vom Verstehen auszuschließen, nicht mehr gesprochen, die alten Sprecher sind nicht mehr am Leben.

Sicherung in letzter Minute

Gerade noch rechtzeitig macht sich Anfang der 1990er-Jahre eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern und Studierenden auf den Weg, die letzten noch lebenden Originalsprecher dieser rund 70 im deutschen Sprachraum seinerzeit verbreiteten Rotwelsch-Dialekte zu suchen und das mit ihnen verbundene Sprachwissen zu sichern. O-Ton aus eine Eckkneipe in einem der alten Armenviertel im westfälischen Münster:
 
Also wenn da einer reinkam, dem man nicht traute, sagte man: „Roin mal den schoflen seeger da!“ Die anderen wussten dann Bescheid, aber er wusste nicht, wie das gemeint ist.

Und wieso haben Sie Ihre Geheimsprache nicht weitergegeben?

Also, man bringt's den Kindern nicht mehr bei. Man will's ja auch nicht wissen, dass man früher auch mal 'nen bisschen ärmer gewesen ist als heute. Das ist sicher. (Sprecherbefragung August 1990)
Sprecherbefragung 1990 (Bernhard Götz, geb. 1912)

Sprecherbefragung 1990 (Bernhard Götz, geb. 1912) | Siewert

Aus Feldforschungen entstehen in den darauffolgenden 30 Jahren zahlreiche Tondokumente. Von „philologischer Rettungsgrabung“ ist die Rede. Nach Jahrzehnten der Erforschung und Dokumentation sind die Rotwelsch-Dialekte jetzt im Wörterbuch deutscher Geheimsprachen in über 50.000 Lexikonartikeln vereint und für alle Zeiten bewahrt. Eine „Arbeit von unschätzbarem sprachkulturellem Wert“, mit dem ein bedeutendes „kulturelles Erbe gesichert“ worden sei, urteilt die Frankfurter Allgemeine Zeitung (16.8.2024).

Ausgezeichnet und bühnenreif

Und da kommt die UNESCO ins Spiel: 2024 sind die Rotwelsch-Dialekte als „Immaterielles Kulturerbe“ und „Träger kultureller Ausdrucksformen in der Gegenwart“ anerkannt worden. Und ja, man kann die alten Geheimsprachen heute in der Bütt und auf der Bühne hören. In Übersetzungen von Märchen und Sprichwörtern kommen sie daher: Es war einmal ein kurantes anim, das böschte immer mittem roten Dohling durche Bendine … Eines Tages schmuste die Alsche von Rotdohlinchen: „Los, schemm mal zu Omma.  Schuck ihr was zum Achilen und zum Pieren. Aber sei mucker und scherbel nicht vonne Strehle runter!“ … Erkannt?
Textbuch Masematte I, 1990

Textbuch Masematte I, 1990 | Siewert

Zurück zur Wissenschaft: Mit dem Begriff „Rotwelsch-Dialekte“ werden diejenigen Varietäten im deutschen Sprachgebiet bezeichnet, die sich auf der Basis des alten Rotwelsch und durch Integration von Wörtern aus anderen Sprachen, hauptsächlich aus dem Westjiddischen, dem Romani der Sinti und Roma sowie dem Jenischen, zu Geheimsprachen entwickelt haben. Eingebettet waren diese für Außenstehende unverständlichen Tarnwörter in die jeweilige Ortsmundart, was den Begriff „Rotwelsch-Dialekte“ begründet. Span, do den hautz as nicht doft, kochem schmusen „Achtung! Der Kerl da ist verdächtig, verdeckt sprechen!“

Vom Geheimcode der Ärmsten in die Umgangssprache

Den sozialgeschichtlichen Hintergrund der – gegenüber dem alten Rotwelsch nunmehr ortsgebundenen – Rotwelsch-Dialekte bildeten die freiwillige oder unfreiwillige Ansiedlung vormals wohnungslos Umherziehender im 18. Jahrhundert und die Zugehörigkeit zur sozialen Unterschicht der jeweiligen Gemeinden. Neben den durch die Integration von Wörtern aus dem Rotwelsch und fremden Spendersprachen gegebenen Möglichkeiten der kommunikativen Abschottung nach außen haben die Sprecher der Rotwelsch-Dialekte aber auch andere Tarnungsverfahren genutzt. Dazu gehörte die Bildung von Mischformen (zum Beispiel deutsch-romani müfe-bin „Gestank“) oder die Veränderung von Bedeutungen, zum Beispiel westjiddisch meschores „Diener“ > rwd. maschores „Chef“ oder romani mátska „Katze“ > rwd. matschka „Frau aus dem Osten“. Einigen der in den „Rotwelsch-Dialekten“ verwendeten Wörter gelingt es im Laufe der Zeit, die engen Grenzen der Geheimsprache zu überwinden und in regionale Umgangssprachen einzugehen, womit ihr Weiterleben gesichert ist: zum Beispiel ausbaldowern „auskundschaften“, schickern „trinken“, Ische, Schickse „Mädchen, Frau“.

Und wenn sie nicht gestorben sind …  

Irgendwas war ich den Leserinnen und Lesern doch noch schuldig? Hier kommt nun das gute Ende der Geschichte von Rotkäppchen und dem Wolf: Rotdohlinchen schemmte in das Backs, teilachte zur Poofe und fand, dass ihre Omma hamel meschugge ausse Klamottten reunte. Rotdohlinchen schmuste: „Was haste denn für große Röllekes? – „Damit ich dich jovler dibbern kann!“ – „Was haste denn für eine schofel große Gosche?“ – „Damit ich dich jovler verspachteln kann!“ Und kaum hatte der Keilof das rakewehlt, da böschte er ausse Firche und verfrengelte auch den Koten mit den roten Obermann.“ Mit raumgreifenden Schritten nähert sich der Retter: Er nahm seine Plotte inne Fehme und burkte dem Keilof die Wampe auf. Rotdohlinchen böschte tacko raus … Und wenn sie nicht mulo ist, dann schemmt sie noch heute mit den roten Obermann durch die Bendine.

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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