Sprechstunde – die Sprachkolumne  Steinkohlenenglisch und Rockersprache

Illustration: Eine aufgebracht wirkende Person mit gezackter Sprechblase in der steht „WILLST PUTZ HABEN?!“
Die Szenesprache der Rocker: Putz suchen, Terz machen, auf die Klötze hauen Illustration: Tobias Schrank; © Goethe-Institut e. V.

Hamburg hat richtig viel zu bieten, wenn es um Sonder- und Geheimsprachen geht. Klaus Siewert spürt letzte Gewährsleute auf und freut sich über Einblicke in die Kommunikation der Seeleute, der Schausteller und anderer Nachtgestalten.

Im Winterlager auf einer Elbinsel in Hamburg Moorfleet, im Reisewagen einer jenischen Familie, begegnet uns das Jenisch der Schausteller. Schockfreiersprache ist die Selbstbezeichnung, der interne Sprachname der Schausteller in Hamburg. Die Zusammensetzung aus jüdisch-deutsch Schock (Jahrmarkt, Markt) und rotwelsch Freier (Mann, Bursche) bezeichnet die Besitzer der unterschiedlichen Fahrgeschäfte und Buden sowie ihre Angestellten und Familien. Anders als bei den meisten anderen deutschen Geheimsprachen wurde die Schockfreiersprache von allen gesprochen, die am Leben der Schausteller beteiligt waren. Auch Frauen, Kinder und Angestellte der Schockfreier gehören zur Sprechergemeinschaft. Nicht selten diente die Sprache zur Übervorteilung von Besuchern auf Jahrmärkten wie dem Hamburger Dom.  

Geldgeschäfte

Zusammen mit Achim D. und seiner Frau beginnt die Sprecherbefragung:
„Welche Funktion hatte diese Sprache? Hat man sie eingesetzt gegenüber Dritten, um sie von der Verständigung auszuschließen? Wie schätzen Sie das ein?“
„Man hat die natürlich benutzt, damit ein Fremder das nicht hört. Damit man ihn eventuell übervorteilen kann, bei gewissen Geschäften usw. Und wenn ich sage: der Sege het Lobi, dann heißt das, der Mann hat Geld, dann können wir die Preise höherschrauben. Das ist der Sinn der Sache gewesen.“
Hol mal den Seges aus der Spiene, der soll figine machen! = Hol den Burschen aus der Kneipe 'raus, der soll den Preis hochtreiben (ein befreundeter Dritter, der als vermeintlicher Kaufinteressent auftritt)
Che fini, der gatsch kneist et schon  = Aufhören damit, der Mann dahinten guckt schon 'rüber. Nasch krig, die klistos kommen! = Schnell weg hier, die Polizei ist im Anmarsch!“

„Fallen Ihnen vielleicht noch einzelne Wörter ein, die in unserer Liste fehlen?“
„Ein Groschen ist ein Pachen. Heitach war ein Fünfzigpfennigstück. Schockstock war ein Markstück. Beischock waren zwei Mark. Dann kommt der Heiamann, dann der Jutmann, dann der Halbe und dann der Schein.“
 „Gab es auch Bezeichnungen für die Dinge, die auf den Jahrmärkten besonders wichtig waren?“
„Ein Kinderkarussell ist 'ne Kindermühle, Hängemühle, das ist ein Hängekarussell, so ein kleines, wo Kinder drauf fahren, Russe ist 'ne russische Schaukel oder ein Riesenrad, Flieger ist ein Kettenkarussell, Auf und Ab ist ein Babyflug, Rakete, Schrägkarussell, Schlickerbahn, das ist 'ne Großglocknerbahn.“

Sprachmixtur

Wir verlassen die Elbinsel und machen uns auf die Suche nach anderen Hamburger Sondersprachen.
Das Hamburger Abendblatt hilft mit bei der Suche, die auch 2015 weitergeht

Das Hamburger Abendblatt hilft mit bei der Suche, die auch 2015 weitergeht | (HAB 5. März 2015)

Zurück in den Hafen: Neben der Kedelkloppersprache war dort das Steinkohlenenglisch in Gebrauch. Einer unserer ältesten Gewährsleute (geb. 1905) blickt zurück: „Aus meiner Kindheit erinnere ich das Hamburger Steinkohlenenglisch. Man hat damals viele Steinkohlen aus England importiert, die aus dem Freihafen in die Häuser transportiert wurden. Die Arbeiter waren durch eine Art Kapuze und Kinnriemen gegen Kohlenstaub geschützt. Die Sprache war Plattdeutsch im Gemisch mit Englisch. Ein betrunkener ausländischer Seemann fällt durch die Fensterscheibe eines Kellerlokals, und der Wirt begrüßt ihn mit den Worten: „What, you pull down in my Kellerlock and break me twei all my Finsterschief, betohl you me den Käs oder I hau you blue Kitteyes, dat you never look the dogeslicht again.“

Wandernde Handwerksburschen auf der Walz brachten später das Rotwelsch in die Hansestadt. Auf dem Kiez etabliert sich neben dem Nachtjargon die Szenesprache der Rocker auf St. Pauli, die gelegentlich gern Putz suchen, Terz machen oder auf die Klötze hauen, was bedeuten kann: Tanzveranstaltungen sprengen, Kneipen auseinandernehmen, Streit suchen, manchmal begleitet von Provokationen dieser Art: Willst Putz haben?! Du meinst wohl, du bist King?! Du glaubst wohl, du bist Elvis?! Spuck nicht, Alter! Mach keinen Spruch! Bist du gehirnschwanger?!
Setz dich mal mit’m nackten Arsch auf ’ne Kreissäge und sag mir dann, welcher Zahn zugestochen hat! Du ziehst original keinen Hering vom Teller, geschweige denn ’ne Gräte!

Geheimnisvoll verfremdet

Jenseits dieser dunklen Kommunikation gab es in Hamburg verschiedene Sprachen, die wie die Kedelkloppersprache das Textganze durch einen bestimmten Codierungsschlüssel verfremden – und damit Geheimsprachentauglichkeit aufweisen, auch wenn sie nur aus dem Spiel mit Sprache entstanden sind. Andernorts verbreitet war die Löffelsprache. Eine 1935 geborene Sprecherin erinnert sich und grüßt mit verschmitztem Lächeln: Guhulefu tenhenlefen tachachlefach. Heißt: Guten Tag! Die Verfremdung wird durch Einschub einer künstlichen Lautfolge in das jeweilige Wort erreicht. Nach dem Krieg wurde die Löffelsprache im Gebiet des Hauptbahnhofs unter Mädchen und Jungen gesprochen, „unter Freundinnen auf der Straße“, nicht aber in der Familie oder Schule.
Kannst Du das? – Mag sein.
Kannsthannstlefannst Duhulefu dashaslefas? – Maghaglefag seinheinlefein.


Ähnlich wie die Löffelsprache verfahren die aw- und widew-Sprache. Im Fall der bo- und Räubersprache finden wir das Muster der Verfremdung im „Kalle Blomquist“ von Astrid Lindgren wieder:
„Ei non Hoh o choch dod e non Ror o tot e non Ror o sos e non“, sagte Sixten mit einiger Anstrengung. „Eigentlich eine furchtbar einfache Sprache, wenn man darüber nachdenkt.“ „Ja, das kannst du jetzt sagen, wo du den Trick kennst“, sagte Anders. „Und außerdem müsst ihr noch lernen, sie viel, viel schneller zu sprechen“, sagte Kalle. „Ja, nicht einen Buchstaben heute und einen morgen“, stichelte Eva-Lotta. „Die Rors müssen nur so knattern!“ Sie saßen alle auf dem Bäckereiboden, alle Ritter der Weißen und der Roten Rose, und die Roten hatten soeben ihre erste Lektion in der Räubersprache bekommen.  

Letzte Gelegenheit

Am Ende unserer Feldforschungen in Hamburg kehren wir mit reicher Beute im Gepäck zurück an die Universität: mit Sprachdaten und Tonaufnahmen von Geheimsprachen, die es seinerzeit mal gegeben hat, wie den Nachtjargon, die Kedelkloppersprook oder die Schockfreiersprache. Wir hatten Glück: Noch lebten sie, die letzten Sprecher und Gewährsleute. Zurück im Elfenbeinturm überkam uns die Gewissheit: Hätten wir es versäumt, sie zu treffen, wäre das mit ihnen und ihren Sonder- und Geheimsprachen verbundene sprach- und kulturgeschichtliche Wissen wohl für immer verloren gewesen.

In der letzten Folge unserer Wanderung durch die Welt der geheimsprachlichen Kommunikation werden wir uns in repressive politische Systeme der jüngeren deutschen Vergangenheit begeben und schließlich noch einen Blick in die Zukunft werfen.

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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