Sprechstunde – die Sprachkolumne  Rotwelsch in der Diktatur

Illustration: Zwei Köpfe, über ihnen und auf sie gerichtet eine Überwachungskamera
Unterdrückte und verfolgte Minderheiten entwickelten neue Geheimsprachen Illustration: Tobias Schrank; © Goethe-Institut e. V.

In seinem letzten Beitrag beschreibt Klaus Siewert, wie es Unterdrückten und Verfolgten in diktatorischen Systemen mithilfe ihrer Rotwelsch-Kenntnisse gelingen konnte, bittere Wahrheiten zu übermitteln. Er schließt mit einem kurzen Resümee – und einem Aufruf.

Über viele Jahrhunderte, etwa vom 12. bis ins 20 Jahrhundert hinein hatte das Sprechen von Geheimsprachen zwei Effekte: Zum einen bewirkte es eine soziale und sprachliche Abgrenzung nach außen, zum anderen eine Gruppenkonstituierung und Solidarisierung nach innen. Im 19. Jahrhundert führten der kriminologische Diskurs und Enttarnungsbemühungen der sozialen Gegenwelt dazu, dass die betroffenen gesellschaftlichen Randgruppen immer weiter ausgegrenzt und diskriminiert wurden. Dies verschärfte sich, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein gewisser Sprachpurismus angemahnt wird, der eindeutig antisemitische Tendenzen trägt. So ist von „sprachlicher Entvolkung Deutschlands“ die Rede, bewirkt durch „Gaunerrotwelsch, Deutsch, durchsetzt mit verludertem Hebräisch“ (Eduard Engel, 1916).

Verschlüsselte Verständigung in der Diktatur

In der jüngeren Vergangenheit erlebten historische Geheimsprachen wie die Rotwelsch-Dialekte unter repressiven Bedingungen in Diktaturen und undemokratischen Staaten eine Art Wiederauferstehung. Unterdrückte und verfolgte Minderheiten entwickelten neue Geheimsprachen, wie etwa die Lager- und Ghettosprachen zur Zeit des Nationalsozialismus. Aber auch die Täter nutzten Instrumente geheimsprachlicher Kommunikation, neben der ENIGMA (einer Chiffrier-Maschine zur Verschlüsselung von Nachrichten) waren das etwa die Tarnsprache für den Bordfunkverkehr deutscher Jagdflieger.
Tarnsprache der deutschen Jagdflieger im 2. Weltkrieg

Tarnsprache der deutschen Jagdflieger im 2. Weltkrieg | Siewert, Pauke, Pauke! 2019, 19

In den Jahren der NS-Diktatur gerieten die nicht-sesshaften Träger der Rotwelsch-Dialekte unter Generalverdacht. Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda verordnete dementsprechend Maßnahmen gegen den Gebrauch von Geheimsprachen. Neben Juden, Sinti, Roma und Jenischen werden auch zahlreiche Angehörige der Sprechergemeinschaften der Rotwelsch-Dialekte verfolgt und ermordet. Als Soldaten dürfen sie indes Leib und Leben für NS-Deutschland aufs Spiel setzen. Was das heißt, davon zeugt der Abschiedsbrief eines im Zweiten Weltkrieg nach Russland eingezogenen jenischen Händlers an seine Frau in Wildenstein: Liebe tschai, komme morgen in das große gab, habe große bauser (Meine liebe Frau, ich muss morgen nach Russland, habe große Angst).

Rotwelsch gegen staatliche Überwachung

Staatliche Überwachung und Zensur führen auch nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Zeit der deutschen Teilung zur Refunktionalisierung der Rotwelsch-Dialekte als Geheimsprachen: „Meine liebe Frau! Soeben Deine Post mit großer Freude erhalten … Viele Grüße an Schofel [schlecht] und Bock [Hunger]“, so lauten einige Zeilen eines Briefes aus russischer Kriegsgefangenschaft 1946. Die zentrale Botschaft „Uns geht es hier schlecht und wir hungern“, wird in die unverdächtige Abschiedsformel des Briefes mittels vorgeblicher Rufnamen integriert und somit an der Zensur vorbeigeschmuggelt.

Die Herrschenden in der DDR beobachten und beargwöhnen die auf ihrem Gebiet genutzten Rotwelsch-Dialekte als staatsgefährdende Kommunikationsformen. Bewohnerinnen von Hundeshagen im Eichsfeld, ehemalige Wandermusikantinnen, kommunizierten bei heiklen Themen geheimsprachlich, um unverstanden zu bleiben, sollten sie von der Staatssicherheit abgehört werden. Die Stasi bemühte sich indessen um Entschlüsselung: Sie legt ein Glossar des Hundeshagener Kochum an, also des im Ort Hundeshagen entstandenen Rotwelsch-Dialekts. Grundlage dafür waren abgehörte geheimsprachliche Telefonate. In einer geheimsprachlich getarnten Botschaft aus der DDR (Die Postkarte einer Mutter an ihre in Westdeutschland lebende Tochter) wird die Lage in Ostdeutschland beklagt: „Uns schlehnt [geht] es ganz mole [schlecht] hier.“
STASI-Glossar Hundeshagener Kochum

STASI-Glossar Hundeshagener Kochum | Ausriss; Dokumentationszentrum der IGS

Das Schicksal jüdischer Viehhändler

Schmus lakonisch, kafferin schefft bekan! „Sprich Lakonisch, der Bauer steht in Hörweite!“
Lakonisch – so hieß die geheime Sprache der Viehhändler, wegen des hohen Anteils hebräisch-stämmiger Tarnwörter auch schlicht Hebräisch genannt. Nicht immer ging es bierernst zu beim Handel. Jenseits ihrer geheimsprachlichen Verwendung sind auch damals übliche Lebensweisheiten und Sprachspaß mit dabei: Keine beist im Stall, kein zumes in der tasch, schieweken pattisch – dallas gewiss!
(Keine Kuh im Stall, kein Geld in der Tasche, eine schwangere Frau im Haus – dann ist dein Untergang gewiss!)
Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus ist nicht nur dieser Spaß vorbei: Die mit der NS-Diktatur einhergehende Diffamierung, Verfolgung und Ermordung der Juden betraf natürlich auch den Viehhandel und insbesondere die jüdischen Viehhändler. Sie wurden als „Viehjuden“ beschimpft, des Betrugs und der Steuerhinterziehung bezichtigt und verloren oftmals ihre Zulassung, Handel zu betreiben. Die „Verordnung zur Wiederherstellung der Ehrlichkeit im Viehhandel“ führte in einigen Gegenden Deutschlands auch zum Verbot des Gebrauchs der Viehhändlersprache.
„Legitimationskarte“ des Viehhändlers Siegfried de Levie

„Legitimationskarte“ des Viehhändlers Siegfried de Levie | Abb. Siewert, Hebräisch, 2018, 128

Wissenschaftler bemühten sich in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die noch erinnerten Reste der Viehhändlersprache zu dokumentieren. Einer der Sprecher erinnert sich im Rahmen einer Befragung an traumatische Begebenheiten: „Mein Vater war Metzger und fuhr immer zum Viehmarkt. Er hatte einen Juden zum Freund, Josef Levi, der ihm auch die jiddische Handelssprache beigebracht hat. Der Levi hat sich dann in der Reichskristallnacht erhängt, und seine Frau und sein Sohn sind in die USA geflüchtet.“ Nach einem 1997 ausgegebenen Suchruf in der Presse kam diese Zuschrift von Anni H.: „Bis zu Hitlers Nürnberger Gesetzen 1935 lag der Beruf des Viehhändlers zu 70 % in jüdischen Händen. Hoffentlich finden Sie noch Überlebende. Ich bin Jahrgang 1913, floh vor Hitler von Hamburg in die Lüneburger Heide. Freundliche Grüße, Ihre A.H.“

Geheimsprachen bleiben

Unser Spaziergang durch die Welt der geheimen Kommunikation geht nun zu Ende. Da das Bedürfnis nach sprachlicher Abgrenzung seit jeher Bestandteil menschlicher Kommunikation und damit zeitlos ist, werden auch in der Zukunft auf der Basis der universellen Verfremdungsverfahren oder neu erfundener Methoden der kommunikativen Ausgrenzung Geheimsprachen und Geheimschriften neu entstehen. Einige gibt es schon – in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen: Drogenhandel, Taxigeschäft, Supermarktkassen.

Sie kennen historische und gegenwärtige Geheimsprachen, die uns möglicherweise unbekannt sind? Dann freuen wir uns sehr über Hinweise: info@igs-sondersprachenforschung.de
Wenn Sie Ihr Wissen über Geheimsprachen vertiefen möchten, empfehlen wir Ihnen die Bücher über Geheim und Sondersprachen im Buske-Verlag: buske.de/sondersprachen.html

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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