Wurst in der Tüte, fehlende Menschengruppen – auf dem Weihnachtsmarkt ist in diesem Jahr einiges anders. Und vielleicht wird er schon bald wieder abgebaut.
Ich gehe auf einen Weihnachtsmarkt. Das wäre in den letzten paar hundert Jahren kurz vor Weihnachten fast immer ein eher lapidarer Satz gewesen, eine Kleinigkeit nur. Vielleicht keine Selbstverständlichkeit, aber doch eine freundliche Feststellung der eher unspektakulären Art. Zum Weihnachtsmarkt, wie nett, viel Spaß. Nicht so in diesem Jahr.Die Inzidenzen steigen und steigen, die Warnungen werden schriller und lauter, die Mehrheit zweifelt nicht daran, dass sie berechtigt sind. Eine neue Virusvariante gibt es auch, alles läuft schnell auf neue Maßnahmen zu. Irgendetwas wird wieder geschlossen werden, verboten werden, neu geregelt werden, reduziert werden, es wird so sein müssen. Wenn dieser Text erscheint, wird er vielleicht schon überholt sein, es ist in Pandemiezeiten nicht mehr zu vermeiden. In einigen Teilen des Landes haben sie die Weihnachtsmärkte bereits wieder abgebaut, in anderen haben sie die Buden gar nicht erst aufgebaut. In meiner Stadt stehen sie noch, mit Betonung auf dem „noch“. Man hat allenthalben Meinungen dazu, man findet es gut oder schlecht, wie es ist und wie es gemacht wird, man sagt diese Meinungen auch laut, und nicht immer freundlich. Es ist, das kann man sicher sagen, auch in diesem Jahr nicht die entspannteste Weihnachtszeit.
Wo zwei Duftwolken sich treffen
Ich gehe also auf einen Weihnachtsmarkt. Ein kleines Mädchen, das an Krücken geht, fragt seine Mutter: „Darf ich gebrannte Mandeln?“ Und die Mutter nickt, kauft und zahlt. Ein kleines Mädchen an Krücken, da hat man um diese Zeit gleich gewisse Rührungserwartungen, aber mehr passiert nicht, keine Sorge. Ich brauche nur einen Einstieg in den Text, in dem es sofort nach gebrannten Mandeln riecht, denn die werden, ich habe es nachgelesen, schon seit dem 15. Jahrhundert auf diesen Märkten verkauft. Der Geruch dieser Mandeln ist historisch betrachtet zuverlässiger als der Schnee, als die Stimmung, als die Geschenke. Wie auch der andere schwere Duft auf dem Markt, der des Glühweins. Wo diese beiden Duftwolken sich treffen und vermischen, da kann man alle Weihnachtszeiten seines Lebens abrufen. Und vielleicht findet man auch etwas von diesen Erinnerungen in einer kleinen Papiertüte mit gebrannten und noch heißen Mandeln für vier Euro. Mandeln sind teuer geworden.Das kleine Mädchen und ihre Mutter essen gebrannte Mandeln. Ein älterer Mann sieht sich an, was es an diesem Stand noch alles gibt, gebrannte Kürbiskerne, Haselnüsse, Cashew, Macademia: „Das gab es früher alles nicht.“ Er schüttelt den Kopf, das will er auch alles nicht haben.
„Guck mal, die ganzen Lichter,“ sagt eine Frau zu ihrem Mann, und der sagt: „Ja, schön“. Und so, wie er guckt, meint er es auch so. Sie gehen Arm in Arm, sie gehen langsam, sie haben beide diesen Touristenblick. Vielleicht kommen sie aus einer Region, in der alles schon wieder abgebaut wurde.
Den Glühwein, nach dem es hier überall so dermaßen durchdringend riecht, dass man bald meint, allein von dem Duft betrunken zu werden, den bekommt man nicht so einfach. Um alle Stände mit Alkoholausschank sind in diesem Jahr Absperrungen aus Tannenbäumen, Gittern, Zäunen und Trennbändern in Signalfarben. Davor steht aufmerksames Sicherheitspersonal, man muss erst einchecken. Das Impfzertifikat und der Ausweis werden genau geprüft und gescannt. Das dauert natürlich, es bilden sich Schlangen, manchmal auch lange Schlangen. Wer zum Weihnachtsmarkt geht, der will auch Glühwein, das wird eine zulässige Verallgemeinerung sein. Einige sind aber nicht geimpft, die kommen da also nicht ran. Einige wollen auf keinen Fall in einer Schlange stehen, die kommen da auch nicht ran: „Ich steh hier doch nicht eine Viertelstunde an, nur um was zu trinken!“ Hier und da hört man Beschwerden: „Das können die doch nicht machen, das geht doch nicht!“ In den Schlangen hört man aber auch: „Das wird doch sehr gut gemacht hier, das finde ich super, so geht es.“ Wenn man lange genug stehenbleibt, kommen alle Meinungen vorbei, wird alles einmal gesagt. Die Mehrheit, die ich an diesem Tag höre, findet alles ziemlich seltsam, aber doch eher richtig.
Die Sinnfrage wird diskutiert
Ich sehe eine Weile einem Mann vom Sicherheitspersonal zu. Er ist ruhig und freundlich, er erklärt immer wieder, was hier vorzuzeigen ist, wie es genau läuft. Er erklärt es auf Deutsch, Englisch und einmal auch auf Spanisch. Er weist Menschen ab, die keine Zertifikate haben, darunter sind auch Touristen, die kein Englisch können und daher etwas ratlos vor allem stehen und überall abgewiesen werden. Wenn die Gäste Deutsch sprechen und etwas stöhnen oder grummeln, dann sagt der Mann jedes Mal: „Es ist nun einmal, wie es ist.“ Dann ein Nicken, das Scannen, das Durchwinken: „Es ist nun einmal, wie es ist.“ Die Menschen gehen an ihm vorbei, bestellen Glühwein und besprechen beim Trinken ausführlich, wie es ist und vor allem, wie sie das finden.Essen kann man auch ohne Sicherheitsmaßnahmen kaufen. Die Mandeln, das Schmalzgebäck, die Zuckerstangen, die Lebkuchenherzen, das Steak im Brötchen, die bekommt man noch wie immer einfach so. Aber die gegrillten Würste, das ist komisch, die werden jetzt in Papiertüten gepackt und über den Tresen gereicht. Da fragen alle nach, warum das denn, was soll das? Das kennt man so nicht, das gehört so nicht. „Weil man die nicht am Stand essen darf“, sagt der Verkäufer und zeigt vage die Straße runter, man muss damit ein Stück vom Stand weggehen. Die Menschen gehen fünf Schritte, zehn Schritte, sie sehen zurück, dann packen sie die Wurst aus und essen sie im Gehen. Die Sinnfrage wird auch hier diskutiert, mit wieder unterschiedlichem Ergebnis. An einem Stand mit Crêpes steht, man solle bitte in 50 Metern Abstand essen. Ist das ein Witz, ist das ernst gemeint, was ist das? Hat jemand mit dickem Stift eine Null hinter die 5 gemalt, wo sind denn bitte 50 Meter? Gespräche, die zu keinem Ergebnis kommen. Schulterzucken, Lachen. Einer macht ein Foto von dem Schildchen.
Neben mir stehen zwei ältere Frauen. Eine sagt: „Ich kenne gar keine Ungeimpften. Na, doch. Zwei. Nein, drei.“ Sie zählt sie an den Fingern ab und denkt noch weiter nach. Ihre Freundin winkt ab, das ist kein gutes Thema.
An einem Stand mit Kartoffelpuffern, vor dem es etwas enger ist, hängt ein Zettel: „Bitte keine Gruppen bilden!“ Davor stehen 14 hungrig wartende Menschen in einer Schlange an und bemühen sich, nicht nach einer Gruppe auszusehen. Es ist schwierig.
Mehr Menschen als in den letzten Wochen tragen wieder Masken, das fällt auf. Viele sind bemüht, vorsichtig und umsichtig, man sieht das, auch wenn in diesem Gedränge beim besten Willen niemand Abstand halten kann. Die anderen Leute sieht man auch, also die, denen alles egal ist, versteht sich. Kann man denn richtig auf einen Weihnachtsmarkt gehen, den einige an sich falsch finden? Ist das hier ein Fehler, ist es eine Freude? Ich weiß es nicht, und ich muss auch keine Meinung dazu haben. Aerosolforscher haben gesagt, Weihnachtsmärkte seien unbedenklich, so stand es gerade gestern in den Nachrichten. Ich bin kein Aerosolforscher. Ich bin auch kein Virologe oder Epidemiologe, kein Bürgermeister und kein auf irgendeine Art für die Pandemiebekämpfung zuständiger Mensch. Ich bin nur Kolumnist und sehe mir daher aus beruflichen Gründen alles an. Glück gehabt, denke ich. Und ich denke das sonst nicht oft in letzter Zeit.
Die gutgelaunten Gruppen fehlen
Irgendetwas ist aber noch seltsam, stelle ich fest, während ich durch die Verkaufsstände für Mützen, Wurzelholzteller, Dufthölzer, knallbunte Filzdeko, Glitzerschmuck und leuchtende Papiersterne gehe. Irgendetwas stimmt hier nicht. Dann fällt es mir auf. Die gutgelaunten Gruppen sind in diesem Jahr nicht da. Die Abteilungstreffen der Berufstätigen nach Feierabend, die lachend und mindestens dezent angetrunken einen Glühweinstand belagern und Geschichten aus dem Büro erzählen, sie fallen aus. Die gutgelaunten Rentnerfreundeskreise, die trinkfreudigen Damenrunden, die Sportmannschaften, die Studierenden und so weiter, sie sind alle nicht gemeinsam da. Das uralte Ritual, gemeinsam in größerer Runde mindestens einen Glühwein oder zwei zu viel zu trinken, es findet eher nicht statt.Und es sind auch erstaunlich wenig Kinder da. Es sind so wenig, sie fallen kaum auf. Da vorne steht ein Karussell, das fährt nicht. Es hat keine kleinen Gäste, der Mensch im Kassenhäuschen stützt den Kopf in die Hand und langweilt sich fürchterlich. Dann passiert doch etwas, ein Junge will mitfahren, vier Jahre wird er etwa alt sein. Er steigt in einen Feuerwehrwagen und legt die Hände gespannt auf das Lenkrad. Das Karussell fährt los, die Musik geht an. Aus den Lautsprechern kommt eine besonders schwungvolle Version von Jingle Bells, der Junge dreht seine Runden im roten Wagen und sieht dermaßen glücklich dabei aus, dass man beim flüchtigen Hinsehen schon unwillkürlich mitlächeln muss, wenn man nicht gerade der Grinch in Person ist. Im letzten Jahr gab es vielleicht pandemiebedingt kein Karussell für diesen Jungen, das kann gut sein. Ich sehe hier vielleicht seine Weihnachtsmarktpremiere. Und wie zufrieden er mit dieser Veranstaltung ist, was für eine unbeschreibliche Sensation ist diese kurze Feuerwehrfahrt im Kreis für ihn, man sieht es deutlich.
Gut, da habe ich also doch noch etwas Rührendes gefunden. Es war wohl unvermeidlich. Wenn die Weihnachtsmärkte auch hier wieder schließen und abgebaut werden, in der nächsten Woche womöglich schon, wer weiß, dann war zumindest für dieses eine Kind etwas richtig in diesem Jahr, selbst wenn alles andere ein großer Fehler war. Immerhin.
„Ausgesprochen …“
In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Maximilian Buddenbohm, Susi Bumms, Sineb El Masrar und Margarita Tsomou. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen.
Dezember 2021