Im Bahnhof ist Alarm und keiner weiß warum. Wenig später entspinnt sich eine Auseinandersetzung um Corona-Regeln. Es ist kompliziert geworden.
Ein Sohn hat einen Termin der Innenstadt, ich bringe ihn hin. Das mache ich gerne, so komme ich einmal raus aus dem Home-Office. Ich gehe mit dem Sohn gerade durch den Bahnhof, als Sirenen losgehen und eine schnarrende Stimme durchsagt, dass das Gebäude geräumt werden müsse, sofort, wegen einer technischen Störung. Einige Menschen fangen an zu rennen, sie stürzen zu den Ausgängen. Einige gehen betont gelassen weiter, geradezu aufreizend langsam gehen sie, und nicht wenige bleiben erst einmal stehen. Und sehen sich um, greifen zum Handy, rufen jemanden an, gucken in Ruhe zu, was die anderen machen. Vor dem Bahnhof sammelt sich schnell eine riesige Menschenmenge, die Polizei und andere Sicherheitskräfte sperren die Eingänge ab. Niemand weiß, worum es geht, es wird nicht gesagt. „Technische Störung“, was immer das sein mag. Aber dass es niemand weiß, das teilen sich alle mit. Eine ungewohnt gesprächige Menge steht da auf einmal, alle reden durcheinander, die Gesprächsfetzen, die ich im Vorbeigehen höre, ähneln sich immer wieder:„Weiß man etwas?“ „Was ist hier los?“ „Worum geht es denn?“ „War etwas?“ „Es ist doch nichts?“ „Sieht man etwas?“ „Was ist denn?“ „Brennt es?“ „Was ist passiert?“ „Ist es etwas Schlimmes?“
Niemand versteht etwas
Ein Sprechchor der vielstimmigen Neugierde. Lange Hälse, etwas Gedrängel vorne an den Absperrungen. Die größten Menschen werden gefragt, ob wenigstens sie etwas sehen können, über die Polizisten hinweg, die verneinen aber. Ein Polizist spricht jetzt ein paar Sätze in ein Megafon, ich verstehe aber kein Wort. Und nicht nur ich verstehe nichts. Niemand versteht etwas, und die ganze Menge, der große Sprechchor um das Gebäude herum, alle Wartenden sagen jetzt mehrfach: „Was? Was? Was?“ Immer wieder sagen sie das.Mehrere Feuerwehrwagen fahren mit angeschalteten Sirenen heran. Einige Menschen machen prompt grinsende Selfies vor dem Blaulicht, mit vollkommen sinnfreien Daumenhochgesten oder dem Victoryzeichen dabei, mit Kussmund auch, mit allen denkbaren Albernheiten. Andere sprechen sie an, ob sie noch bei Trost seien, und der Polizist mit dem Megafon sagt schon wieder etwas, das niemand versteht. Ich habe leider keine Zeit für diese ganze Aufregung, ich muss weiter, der Sohn hat einen Termin, einen wichtigen. Wir gehen also um den Bahnhof herum, um all die Leute, die miteinander reden. Wie ungewohnt dieser Anblick ist, denke ich noch, eine Menge, in der alle wild durcheinanderreden. Ich habe so etwas schon zwei Jahre lang nicht mehr erlebt. Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gefehlt hat, aber ich stelle es zumindest fest: Das Geschnatter einer Menge ist eine Erinnerung.
Nicht durch das Kaufhaus
Der Termin des Sohnes dauert mindestens 45 Minuten, er möchte danach bitte auch wieder abgeholt werden. Ich gehe in der Wartezeit draußen herum. Immer noch sind die Geschäfte, zu denen man nur nach Kontrollen Zutritt hat, nur mäßig besucht, immer noch sind die Restaurants und Cafés recht leer. Es ist im Winter zu kalt für die Außengastronomie, und ich gehe zwar gerne in der Stadt herum, aber beglückend ist das im Moment nicht. Es fehlt das, was urbanes Erleben vielleicht im Kern ausmacht, es fehlt die Spontaneität in der Route und natürlich auch im Konsum. In normalen Zeiten würde ich bei einsetzendem Regen mal eben quer durch das Kaufhaus da vorne gehen, obwohl mich im Erdgeschoss gar nichts interessiert. Aber ich hätte doch alles einmal gesehen, die Waren, die Werbung, die Dekoration, die Kunden, das Personal. So war es früher. Diese Stadt ist voller Passagen und Kaufhäuser, durch die man bei Regen gehen kann, fast durchgehend im Trockenen. Jetzt aber stehen vier Menschen vor der Impfzertifikatsprüfung beim Kaufhaus an. Vier Menschen sind nicht viel, die kommen sicher schnell durch, aber es sind mir doch zu viele. Ich müsste mich dort anstellen, und Spontaneität funktioniert nicht, wenn man sich dafür anstellen muss. Ich gehe nicht durch das Kaufhaus.In dem Café da würde ich zu normalen Zeiten vermutlich einen Latte Macchiato trinken. Ich weiß nicht, ob es zum Höhepunkt der Omikronwelle ratsam ist, sich in ein Café zu setzen, ich stehe unschlüssig einen Moment vor der Tür. Dann beschließe ich, einen Kaffee zum Mitnehmen zu bestellen, wenigstens das. Kurz rein, gleich wieder raus, das wird doch gehen.
Es wird schwierig
In anderen Zeiten, in normalen Zeiten hätte ich mich dort in einen der tiefen Ledersessel gesetzt. Ich hätte ein Buch aus meinem Rucksack geholt, ich hätte zwei, drei Kapitel gelesen und nebenbei die Leute um mich herum beobachtet. Ich hätte dabei vielleicht etwas sehen oder hören können, worüber ich später eine Kolumne geschrieben hätte. So lief das damals manchmal, aber auch das ist nur eine Erinnerung.Wenigstens ist nur eine junge Frau vor mir dran, das wird schnell gehen. Allerdings will die Frau etwas im Café trinken, deswegen müssen ihr Ausweis und ihr Impfzertifikat geprüft werden. Und da wird es schwierig. Der Angestellte des Cafés, der sich alles genau ansieht, stellt nämlich fest, dass da etwas nicht reicht. Ihr Genesenenstatus sei abgelaufen, sagt er, da würde sie jetzt drei Impfungen brauchen. Sie erklärt, dass sie drei Impfungen noch gar nicht haben könne, das sei unmöglich. Er sagt, er habe aber entsprechende Anweisungen. Sie sagt, die seien dann eben unlogisch. Er sagt, er müsse sich auf jeden Fall an die Regeln halten. Sie sagt, das sei ja Unsinn, er sagt, er habe aber nun einmal diese Anweisungen und es tue ihm auch leid, aber er müsse doch, er werde ja auch kontrolliert, sie sagt, das ginge doch nicht – und das geht immer so weiter. Es ist ein Dialog wie im absurden Theater, das Gespräch verläuft in ermüdend oft wiederholten Kreisen und Schleifen und findet einfach kein Ende und keinen Ausgang. Es klärt sich auch nichts, es wird nur immer schlimmer. Nach einiger Zeit kommen die beiden auf alle möglichen Konstellationen, die bei Impfungen, Tests und Statusvarianten auftreten können. Sie sagen sich gegenseitig ihr Regelwissen auf, das mir peinlicherweise wesentlich umfangreicher als mein eigenes Wissen vorkommt. Ihr Satzwechsel erinnert mich jetzt an diese Logiktrainer, die man am Kiosk als Zeitschrift kaufen kann, auf denen steht so etwas wie „Kniffelige Knobelaufgaben für Kluge“, das passt hier gut. Die beiden diskutieren immer weiter, es haben sich zwei Spezialexperten gefunden. Sie machen das ausgesprochen freundlich und bemüht. Er sagt immer wieder, dass er ja nur ausführend tätig sei, sie sagt immer wieder, dass sie ja auch nur darauf hinweisen würde, dass die Anweisungen nun einmal falsch seien, und dann erklärt sie, warum sie falsch seien, und er erklärt … es hört und hört nicht auf. Ich stehe daneben und denke immer wieder, dass ich einfach nur einen Kaffee zum Mitnehmen möchte, einfach nur einen Kaffee, bitte.
„Das ist doch alles völlig verrückt“
Die Frau fragt schließlich, wer denn diese so seltsamen Anweisungen überhaupt gegeben habe. Die Zentrale, sagt er. Ob man da anrufen könne? Sie sagt das nicht so penetrant, wie es sich vielleicht liest, sie ist sachlich, engagiert und freundlich bemüht, etwas aufzuklären. Der Verkäufer gibt ihr eine Visitenkarte, sie sagen sich noch einmal gegenseitig, dass sie an nichts schuld seien, und auch das sagen sie sich mehrfach: „Ich kann ja nichts dafür.“ „Ich auch nicht, ich doch auch nicht!“ Wir können alle nichts dafür, denke ich milde. Wir wollen alle nur einen Kaffee. Jedenfalls diese junge Frau und ich. „Das ist doch alles völlig verrückt“, sagt die Frau dann noch. „Das glaube ich auch“, sagt der Mann und im Grunde sind sich beide einig, aber ihren Kaffee darf sie dennoch nicht dort trinken. Kopfschüttelnd geht sie endlich ab.Nein, wir können alle nichts dafür, und ja, es ist vollkommen verrückt. Es ist alles dermaßen kompliziert geworden, dass wir etliche Sinnfragen endlos diskutieren könnten, dabei möchte ich bloß einen Kaffee und ein Kolumnenthema. Ich habe doch einfache Wünsche, denke ich. Ich werfe noch einen letzten Blick auf die gemütlichen Ledersessel, auf denen heute niemand sitzt. Freie Auswahl hätte ich da, überall könnte ich mich hinsetzen. Vielleicht geht es im März wieder oder im April, spätestens im Mai, was weiß ich. Irgendwann wird es wieder gehen, und ich freue mich darauf, wenn es keine Notwendigkeiten für weitere Komplikationen mehr geben wird. Ich fand das Leben auch vor der Pandemie schon kompliziert genug.
Dann hole ich den Sohn ab und wir gehen nach Hause. Durch den Bahnhof gehen wir, in dem jetzt nichts Besonderes mehr los ist.
„Ausgesprochen …“
In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Maximilian Buddenbohm, Susi Bumms, Sineb El Masrar und Margarita Tsomou. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen.
Januar 2022