Ausgesprochen … gesellig  Zum Zustand der Normalität am Jahresanfang

Hände im Laden mit frischen, reifen schwarzen Tomaten. Nahaufnahme
Es ist ein Fest – all die wundervollen Produkte im Supermarkt Foto (Detail): Mikhail Mironov © mauritius images / Alamy Stock Photos

Ein neues Jahr hat begonnen. Maximilian Buddenbohm geht einkaufen und bemerkt steigende Preise und einiges mehr.

Ich setze wieder alles auf eine Karte. Ich warte bis zum letzten Moment mit dieser Kolumne, ich mache dann erst einen Gang durch die Gesellschaft, durch meinen Stadtteil also, und das, was ich dabei sehe und höre, das soll es sein. Das ist das gültige und zu beschreibende Jetzt, und ich will einmal sehen, was man da extrapolieren kann. Wenn überhaupt etwas.

Die Corona-Teststation, an der ich jeden Tag vorbeikomme, sie schließt in Kürze dauerhaft. So steht es auf einem Zettel, der an dem provisorisch eingerichteten Container klebt, in dem die Tests in den letzten Monaten durchgeführt wurden. Oder waren es nicht schon Jahre? Mein Zeitgefühl hat unter der Pandemie dermaßen gelitten, dass ich mich bei Fragen zur Zeitgeschichtemittlerweile als höchst unzuverlässigen Zeugen bezeichnen muss. Ich weiß jetzt schon nicht mehr zuverlässig, was wann und wie war, und ich denke, zahlreichen anderen Menschen geht es auch so. Ich weiß auch auf Anhieb nicht mehr, wo nun die nächste Test-Station ist, ich müsste das erst nachsehen, wenn ich doch noch einmal eine brauchen sollte. Auf dem Höhepunkt der Pandemie hat man das immer gewusst, glaube ich.

Immer noch sieht man auf den Wegen und Straßen verlorene oder achtlos weggeworfene Masken liegen. Aber jeden Monat werden es weniger und wenn es so weitergeht, dann dauert es nur noch etwa ein halbes Jahr, bis man bei einem Spaziergang irgendwo beiläufig denken wird: „Ach guck mal, da liegt ja eine Maske.“ Das wirkt jetzt erreichbar, jedenfalls wenn man linear weiterdenkt, was man sich allerdings sofort verbieten sollte, teils aus Aberglauben, teils aus Erfahrung.

Keine neuen Trendprodukte

Der Kiosk im Hauptbahnhof, der besonders schnell darin ist, topaktuelle Trendartikel ins Angebot zu sortieren, er hat im Moment nichts Besonderes zu bieten. Auf den Drehständern vor der Tür sehe ich keine neuen Produkte. Ukraine-Flaggen gibt es nach wie vor, in verschiedenen Größen, von dezent bis flaggenmasttauglich. Masken gibt es auch, FFP2 und andere, weiß und bunt. Aber sie liegen nun etwas versteckt, man muss genauer hinsehen, sie werden wohl nicht mehr nachgefragt. Sonst sehe ich nichts, was auf neuere Entwicklungen hinweisen würde, ich werde das im Laufe des Jahres weiter beobachten. Etliche Plüschtiere gibt es, aber die werden immer dort verkauft, vermutlich ist es Trostbedarf für reisende Kinder.

Ich gehe einkaufen. Im Supermarkt steigen einige Preise weiter. Eine Frau steht vor den Salatgurken, wiegt eine in der Hand, sieht auf das Schild darüber und sagt laut und verärgert: „Die können doch nicht im Ernst zwei Euro kosten!“ Der Mann, der das Gemüse einräumt, sortiert und nachlegt, hört das, er sagt: „Oh doch“. Er meint es nicht unhöflich, er meint es solidarisch. Er findet es auch schlimm, wie es ist. Die beiden treiben noch etwas Smalltalk zur Lage. Dann schütteln sie gemeinsam die Köpfe, es ist nun einmal, wie es ist, und sie tauschen noch Erinnerungen an die Zeit, als die Gurken nur einen Euro kosteten, wann war denn das? Das ist auch schon wieder eine Weile her. Ob wir wirklich alle mit unseren Erinnerungen durcheinanderkommen?

Hin und weg vor Begeisterung

Bei den Bio-Artikeln steht einer mit einer geistigen Besonderheit oder, ich möchte das möglichst zurückhaltend ausdrücken, da ich an das Konzept geistiger Normalität nicht recht glaube, er ist vielleicht auf eine besondere Art auffälliger als Sie und ich. Einer von denen, die pausenlos laut und deklamierend mit sich selbst sprechen. Aber dabei belässt er es nicht, er spricht auch andere an, vollkommen ungeachtet ihrer teils abwehrenden, teils ausweichend flüchtenden Reaktion. Nett ist er dabei, irgendwie seltsam zutraulich, auf eine kindlich anmutende Art herzlich und ungemein gesprächig. Er nimmt nichts aus den Regalen, ohne es zu benennen: „Ich kaufe Saft!“, sagt er, oder: „Ich nehme das Vollkornbrot!“ Und er betont es dabei stets so, als sei es einfach großartig, jetzt Saft oder Brot zu kaufen. Echt jetzt mal, wie toll ist denn bitte Saft, wie wunderbar ist Brot, und das kann man alles einfach so kaufen. Es ist der Hammer. Er freut sich wie ein Siebenjähriger, der sich Schokolade kauft, nur eben über alles, und er liest auch alles vor, was auf den Packungen steht. Kernlose Oliven! Die findet er auch sehr gut.

Da hat er den Leuten ohne oder mit wesentlich geringerer geistiger Besonderheit etwas voraus, denn wer freut sich schon von Herzen über Saft. Wir anderen, wir legen einfach nur Saft in den Einkaufswagen und fühlen überhaupt nichts dabei, das war es dann, das bewegt uns innerlich nicht. Wir haben diesen Saft schon tausendmal gekauft, es ist eiskalte Routine.  Er aber – hin und weg ist er vor Begeisterung. Saft! Sehr guter Saft auch, wie er nicht müde wird zu sagen. Alles, was er kauft, ist gut, denn er hat es in langen Versuchsreihen durchprobiert. Daher kann er den Menschen vor den Regalen auch Tipps geben: „Das nicht! Das hier ist viel besser!“

Ein Fest

Und dann sein Freudenausbruch vor dem Käseregal, in dem es, Sie müssen es sich bitte in gesprochenen Großbuchstaben vorstellen, VEGANEN FETA gibt. Er ist nämlich Veganer, seit ein paar Wochen erst, also neu in dem Metier, er übt noch, und er freut sich über alles, was zu diesem Ernährungskonzept passt. Und jetzt also der Feta, es reißt ihn hin, und er sagt, nein, er ruft eher: „Das ist doch ein Fest hier!“

Einige Umstehende lächeln, ich auch. Auf einem Fest sind wir definitiv nicht, wir gehen da nur einkaufen. Es ist ein wenig langweilig, wenn man ehrlich ist, zumindest bis zu diesem Moment.

Der Mann geht zur Kasse und erläutert der Kassiererin, die ihn bereits zu kennen scheint, seine Einkäufe. Stück für Stück und mit Hingabe. Die Kassiererin sagt „Ja“ und „Sehr schön“ und „Das freut mich“, und sie nickt immer wieder, er strahlt, es ist alles ganz zauberhaft, nett und höflich.

Und für einen Moment, wenn ich nur diese kleine Szene nehme, sieht das Bild nach einer rücksichtsvollen, toleranten und inklusiven Gesellschaft aus, deswegen schneide ich es hier aus und klebe es an den Jahresanfang. 

Ich wollte überlegen, was man heute extrapolieren kann … Sagen wir doch einfach: Freundlichkeit ist möglich.

 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Maximilian Buddenbohm, Susi Bumms und Sineb El Masrar. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen.