Ausgesprochen … gesellig  2023 – eine erste Einschätzung

Publikum in einem Kinosaal – Blick auf die strahlend weiß beleuchtete Leinwand
Die Menschen gehen wieder aus – zum Beispiel ins Kino Foto (Detail): Andrés Benitez; © picture alliance / Westend61

Wie wirken sich die Veränderungen der vergangenen Jahre auf das 2023 aus und was erwartet uns noch in den weiteren Monaten. Maximilian Buddenbohm zieht eine erste Zwischenbilanz.

Ein Quartal des Jahres haben wir schon hinter uns, wir könnten uns zwischendurch kurz die Frage stellen, wie dieses Jahr eigentlich ist. Hat es schon einen Charakter, hat es prägende Elemente, wie ist 2023 denn so? Es ist mittlerweile etwas herangewachsen, man müsste doch allmählich eine Richtung erkennen können.

In meinem Umfeld ist es das erste Jahr seit 2020, das nicht bereits im ersten Quartal deutlich und verheerend von Katastrophen und historischen Ausnahmesituationen geprägt wird. Womit ich nicht meine, dass es die nicht gibt - und wie es sie gibt, wir wissen es alle, wir lesen weiterhin die Nachrichten. Aber die Katastrophen sind in diesem Jahr für viele hier nicht mehr das prominenteste Element im Alltag. Nicht die Pandemie, nicht der Krieg, nicht das Klima, nicht einmal die Inflation. Wenn man sich nicht gerade schon wieder mit dem Coronavirus infiziert hat, sind die Katastrophen weiter von uns weggerückt. Wenn man sich aber, wie es z.B. einer meiner Söhne gerade beim Praktikum in einer Kita erlebt hat, um Geflüchtete aus der Ukraine kümmert, dann erinnert man sich doch wieder, was alles los ist. Nein, die Katastrophen sind nicht weit weg, aber im Moment überwiegen der Alltag und die Routinen. So wird es für viele, vielleicht für die meisten gelten.

Aber wie ist es denn so, wenn es wieder normal ist, oder wenn wir mehrheitlich zumindest so tun, als sei es da draußen und auch hier in unserer Familie, in unserer Wohnung, in unserer Firma ziemlich normal und alltäglich?

Anders als früher ist es, das steht wohl fest.

Keine postpandemische Aufbruchstimmung

Mir kommt es so vor, als sei die allgemeine und grundsätzliche Skepsis, die meiner Erinnerung nach im Sommer des ersten Coronajahres entstanden ist, uns kollektiv erhalten geblieben: Das gehört jetzt so. Wir finden nicht mehr zurück in die alte Geisteshaltung und das frühere Selbstvertrauen, es gibt kaum so etwas wie eine postpandemische Aufbruchstimmung. Vielleicht ist uns nicht einmal klar, ob wir uns überhaupt nach vorne bewegen oder doch nur irgendwohin. Wir wickeln unseren Alltag ab, wir machen weiter, wir sind dabei eher vorsichtig, zögernd und zurückhaltend. Wir haben bescheidene Erwartungen, wir machen lieber langsam. Wir lesen den Politikteil der Meldungen und wir lesen die Wirtschaftsnachrichten, wir schütteln den Kopf und wir wissen nicht recht: „Wer weiß, was da noch kommt“, das ist ein Standardsatz geworden, ein selbstverständlicher Smalltalkbaustein.

Die Politik der Regierung passt dazu und zögert wie wir, das Wetter macht auch mit. Der Frühling kommt langsam in diesem Jahr, die vielen Regentage dämpfen die Freude über die allzu langsam steigenden Temperaturen und der blaue Himmel bleibt dem Sommer vorbehalten, er kommt erst später dran. Hoffen wir zumindest.

Es lässt sich also alles zwar nicht katastrophal, aber doch etwas zäh an, und wir verharren jetzt, bis wir eine neue Richtung finden. Und was machen wir so lange in unserem wiedergewonnenen Alltag, während wir worauf auch immer warten?

Wir müssen uns mal treffen

Viele gehen aus. Und wie sie ausgehen, auch wenn es an Geld fehlt, sie sparen jetzt eben an anderen Dingen, die Konsumlaune sinkt in diesen Monaten messbar. Sie gehen aber trotz des deutlichen Kaufkraftverlusts weiter in Restaurants, in Kneipen und in Bars, das kann man sehen. Es ist voll wie nie in der Gastronomie. Die Menschen haben offensichtlich immer noch enormen Nachholbedarf und der ist ihnen etwas wert. Die Pizza kostet in einigen Restaurants mittlerweile fünf oder sechs Euro mehr als vor den drei Desasterjahren, der Wein ist ebenfalls dramatisch teurer, aber man kann dennoch keine Pizza essen und keinen Wein trinken, wenn man nicht rechtzeitig vorher einen Tisch reserviert hat. In meinem Stadtteil, der in dieser Stadt zu den Szenevierteln gezählt wird, kann ich nicht mehr einfach mal etwas essen gehen. Ich bekomme spontan keinen Platz mehr, es ist voll, es ist überall dermaßen voll. Das war früher nicht so. Nicht in diesem Ausmaß.

Und immer noch werden hier und da Wiedersehen gefeiert. Es wird nachgerechnet, wie lange man sich denn bloß nicht gesehen hat, ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre, zuletzt „irgendwann vor allem“, man kommt schon nicht mehr darauf, es ist zu lange her. „Und wie ist es Euch so ergangen?“ Dann die langen Berichte, die Updates mit Beruf, Familie und Gesundheit, wer Corona hatte und wie schlimm. An etlichen Tischen und Bars ist das so, man muss nur irgendwo eine Weile sitzen und hinhören, das sollte für alle Arten von Chronistinnen und Chronisten ohnehin eine Pflichtübung sein. Bei mir selbst ist es auch so, ich bin mit den Wiedersehen nicht einmal durch, es wird im April und sicher auch im Mai noch weitere geben. Es ruft jemand an: „Dich gibt es ja auch noch! Wir müssen uns mal treffen! Wir müssen mal wieder etwas machen!“

Kino und Theater: mal wieder schön

Die Leute gehen auch wieder in die Theater. Sie gehen wieder in die Kinos und in die Clubs. Sie gehen zu Konzerten und auch in die Museen, sie machen endlich wieder etwas, sie gehen aus. Die Gesellschaft findet nun wieder statt. Ich gehe in ein Kino, das es erst seit ein paar Jahren gibt, und um mich herum sagen nahezu alle Gäste, die ganze Sitzreihe entlang: „Hier waren wir noch gar nicht!“ Aber jetzt dann doch einmal, und meine Güte, es wurde auch Zeit. Es ist ein geteiltes Gefühl, und nach dem Film höre ich im allgemeinen Gedrängel zum Ausgang gleich mehrfach die wechselseitigen Zusagen: „Das machen wir bald wieder.“

Ich gehe nur ein paar Tage später in ein anderes Kino. Es ist eines, in dem ich früher oft war, mit der Freundin, mit der ich jetzt wieder dort bin, und wir kommen nicht mehr darauf, wann wir zuletzt dort waren und in welchem Film denn bloß. Wir grübeln ergebnislos. Es war eine andere Zeit, als wir zuletzt dort waren, es war vielleicht sogar ein anderes Leben, zumindest fühlt es sich so an. Ich gehe anschließend vom Kino aus zu Fuß nach Hause, es ist eine halbe Stunde Weg quer durch die Stadt. Ich gehe dabei durch einen Stadtteil, in dem ich drei Jahre nicht war. Es ist nicht zu fassen, wieviel sich dort geändert hat, es sind lauter neue Läden und Restaurants, es ist kaum etwas übrig von dem, was ich kannte. Ich gehe durch eine mir seltsam fremd vorkommende Stadt. Wie viel in den letzten drei Jahren passiert ist. Ich frage mich, ob sich mein eigener Stadtteil während der Pandemie auch so gewandelt hat und mir das womöglich nur durch den täglichen Anblick entgangen ist, so wie man bei den eigenen Kindern nicht sieht, wie sie wachsen und sich ändern. Und doch sind sie plötzlich groß.

Ich gehe endlich auch wieder selbst ins Theater. Neben mich setzt sich eine mir unbekannte Frau, grüßt mich höflich und etwas seltsam feierlich, sieht sich dann um. Sie blickt zur Bühne, auf der man die Kulissen schon sieht, vielversprechend sieht das aus, das wird sicher gut, sie nickt zufrieden. Sie sieht über die Sitzreihen hinweg und auch einmal hinter sich, wie voll es um uns herum ist, wir sitzen in einem komplett ausverkauften Haus. Sie sieht auf das Programmheft auf ihren Knien, sie streichelt es ein wenig, als sei es ein wertvolles Buch. Sie sieht nach oben, zur komplizierten Lichttechnik und zur Decke des Saals, sie strahlt mich schließlich an und sagt, noch bevor das Stück auch nur angefangen hat: „Himmel, ist das schön!“ Und ich verstehe, was sie meint, ich finde das auch. Es ist der erste Theaterbesuch seit damals, und wenn wir jetzt seit damals sagen, dann wissen wir alle: Seit März 2020.

Ich gehe selbstverständlich von mir aus, aber ich weiß, dass ich oft genug im Mainstream bin, um vielleicht doch deuten zu können: 2023 ist bis jetzt das Jahr, in dem wir uns gemeinsam hier und da wieder ein paar schönere Momente zusammensuchen.

Man könnte Schlechteres über ein Jahr sagen, nehme ich an. Aber ich will mich der allgemeinen Skepsis und der zögernden Vorsicht gerne anschließen, ich will um Himmels willen nicht zu früh jubeln: Wer weiß, was zum Halbjahr zu bilanzieren sein wird. Es stimmt schon, wir bleiben zurückhaltend und warten ab. Und gucken währenddessen vielleicht noch einmal ins Theater- oder ins Kinoprogramm.

Oder wir gehen lieber erst einmal etwas trinken. Wenn wir irgendwo einen Platz finden.

 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Maximilian Buddenbohm, Susi Bumms und Sineb El Masrar. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen.