Ausgesprochen ... integriert  Waldspaziergang

Reh springt über Waldweg
Reh springt über Waldweg Foto (Detail): © mauritius images / Ysbrand Cosijn / Alamy / Alamy Stock Photos

Von Langeweile, Kobolden und Rehfamilien: Sineb El Masrar schreibt über die sonntäglichen Spaziergänge mit ihren Eltern – und was sie heute noch daran begeistert.
 

Nasskalt ist der Jahresbeginn oder verschneit. Manchmal auch beides zusammen. So kenne ich es seit meiner Kindheit und viele von den Dingen, die wir als Kinder in unseren jungen Jahren regelmäßig unternommen haben, bleiben auch im Erwachsenenalter erhalten. Die Prägungen sind, ob man möchte oder nicht, allgegenwärtig in unserem Denken, Handeln und Fühlen. Etwas, was ich bis heute sehr gerne mache, aber als Kind manchmal durchaus als öde empfand, sind die sonntäglichen Spaziergänge mit meinen Eltern. Ich wuchs in der niedersächsischen Provinz auf, wo es nicht nur viel plattes Land gibt, sondern viele grüne Felder, Wälder und so manche Parkanlage beziehungsweise herrschaftliche Gartenanlage. In Hannover sind die Herrenhäuser Gärten über die Landesgrenzen bekannt. Sollte man auf jeden Fall besuchen, wenn es einen in die Landeshauptstadt von Niedersachsen verschlägt.

Doch meine Wandertouren fanden maßgeblich in Wäldern statt. Gemeinsam mit meinen Eltern legten wir bei jeder Jahreszeit lange Wegstrecken zurück. Je nach Alter nahm ich den Wald entsprechend wahr. Eine Zeit lang fragte ich mich, ob es kleine Kobolde gäbe, oder Zwerge, die am Fuße von Bäumen lebten und mit den Tieren kommunizieren konnten. In Zeiten, wo es noch keine Smartphones gab und wir uns auch keine Podcasts für den Sparziergang auf die Ohren geben konnten, blickte ich regelmäßig in die Baumkronen. Ich lauschte den Vogelgesängen, betrachtete und streichelte das Moos am Wegesrand, sammelte Tannenzapfen oder pulte Baumharz vom Baumstamm ab. Manchmal war es eintönig, denn irgendwann hatte ich jedes Mal das gleiche getan und doch gab es diese Momente, die mich dann immer wieder mit Spannung auf den Spaziergang am Sonntag blicken ließen. Auf den großen Feldern gab es je nach Saison die ein oder andere Zuckerrübe zu entdecken, die bei der Ernte noch auf dem Feld zurückgelassen wurde und die ich dann einsammelte. Auch Spargelhügel, bei denen ich mir erlaubte meine kleinen Hände reinzustecken, um nach den langen weißen Stängel zu tasten. Aber viel aufregender waren die Tiere. Rebhühner oder Kraniche, die sich manchmal in Gruppen zusammenfanden, um dann, wenn ich laut „Huhu“ rief mit ihren breiten Flügeln in den Himmel flogen. Manchmal gab es auch Kühe auf Weiden, denen wir auf dem Weg zum Waldstück begegneten und denen ich fasziniert beim monotonen Kauen zusah und ihr „Muh“ imitierte, um in meiner kindlichen Vorstellung mit ihnen über das nasskalte Wetter zu schnacken. Ein erwidertes Muh erhielt ich allerdings nie.

Aber am aufgeregtesten war ich, wenn ich Rehe erblickte. Ich war ganz gebannt. Je nachdem wie nah es war, hielt ich die Luft an und näherte mich ganz langsam. Leider kam ich nie nah genug an ein Reh heran um es streicheln zu können. Aber jedes Mal war ich völlig aus dem Häuschen. Besonders aufregend fand ich es, wenn es eine kleine Rehfamilie war, die, wie wir, einen Sonntagsspaziergang unternahm. Ob sich die kleinen Rehkitze auch gelegentlich langweilten? Oder fanden sie uns als Menschen an ihrem Wegesrand eher gefährlich? Schließlich schaffen wir es als Menschen seit Jahrtausenden Tiere in deren natürlichen Lebensraum zu bedrohen.

So oder so genieße ich es heute noch durch den Wald zu spazieren. Auch bei diesem nasskalten Wetter. Meist in Begleitung und wenn nicht, dann heute mit einem Podcast oder Hörbuch auf den Ohren. Aber wenn sich mir ein Reh am Wegesrand zeigt, wird alles ausgeschaltet und ich staune über die Unschuld wie am ersten Tag.
 

„AUSGESPROCHEN …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im Wechsel Sineb El Masrar, Susi Bumms und Maximilian Buddenbohm. El Masrar schreibt über Einwanderung und die Multi‑Kulti‑Gesellschaft in Deutschland: Was fällt ihr auf, was ist fremd, wo ergeben sich interessante Einsichten?