Lola Arias, Regisseurin des im Forum gezeigten „Reas“, erzählt von ihrer Zusammenarbeit mit Gefangenen und spricht über Perspektiven und Hürden für den argentinischen Film.
Reas, der zweite Film der argentinischen Regisseurin Lola Arias, erzählt aus dem Alltag weiblicher Gefangener in einer Haftanstalt von Buenos Aires. In musikalischen Performances zeichnen sie auf der Leinwand die Schwierigkeiten, Gefühle und Träume der Protagonistin Yoseli und anderer Gefangener nach, sowie Episoden aus ihrem Leben vor der Gefangenschaft. Unter den Gefangenen entstehen nach und nach fast familiäre, gemeinschaftliche Bindungen und gegenseitige Unterstützung, die ihren Alltag ein wenig erträglicher machen. Trotz aller Leichtigkeit durch den Einsatz von Musik entzieht sich der Film nie der Sozialkritik und der Beschäftigung mit brisanten Themen wie zum Beispiel Folter zu Zeiten der Diktatur.Lola Arias, wie kam es zu diesem Filmprojekt und wie wurde es entwickelt?
2019 bot ich einen Film- und Theaterworkshop im Frauengefängnis Ezeiza in Buenos Aires an, als ersten Schritt eines größeren Kunstprojekts. Ich dachte zunächst an ein Drehbuch, das in der Anstalt mit den Gefangenen umgesetzt werden sollte. Im ersten Workshop improvisierten wir einige auf ihrem Alltag basierende Szenen, erarbeiten Choreografien und veranstalteten einige Karaoke-Sessions. Ich konnte beobachten, wie die Musik und der Tanz den Frauen Freude bereiteten und sie neue Ausdrucksformen für sich entdeckten. Daraus entstand dann die Idee für ein Musical.
In der Haft sind die Frauen ständig unter Beobachtung, nicht nur durch das Wachpersonal, sondern auch durch die Mitgefangenen. Es gibt keinen Raum für Einsamkeit, Intimität, keinen „eigenen Raum“, keine Möglichkeit, anders zu sein, sich zu unterscheiden. So schufen Performance und Tanz einen Raum für Freiheit, Fantasie und Vorstellungskraft innerhalb dieses Ortes. Eine Möglichkeit, sich selbst zu vergessen. Doch dann kam die Pandemie und wir durften die Haftanstalt nicht mehr betreten. Die Workshops wurden abgesagt und mir wurde klar, dass ich dort nicht mehr würde drehen können. Gleichzeitig wurden einige der Gefangenen, die ich kennengelernt hatte, entlassen. Also überlegte ich mir, außerhalb des Gefängnisses mit ihnen weiter zu arbeiten, und ihre Zeit in der Haft nachzuspielen, aber diesmal an einem anderen Ort – in einem stillgelegten Gefängnis.
Sind alle Frauen im Film ehemalige Gefangene?
Ich habe für diesen Film Personen unterschiedlicher Herkunft ausgewählt, die alle schon einmal in Haft waren. Und ich versuchte, die Besetzung so divers wie möglich zu halten in Hinblick auf Persönlichkeit, Alter, Herkunft (Einheimische oder Einwandererinnen), mit Kindern oder kinderlos. Es war mir auch wichtig, trans Frauen mit einzubeziehen, um auf die besondere Situation dieser Personen in Gefangenschaft hinzuweisen. Ich kannte schon viele Leute durch die Workshops in der Haftanstalt. Dann aber recherchierte ich weitere zwei Jahre auf der Suche nach den Entlassenen. Und diese brachten dann wiederum andere mit.
„Reas“. Argentinien/Deutschland/Chile, 2024. Regie: Lola Arias. Berlinale Forum. Im Bild: Yoseli Arias, Ignacio Amador Rodriguez. | © Gema Films „Reas“ wird auf der Berlinale als Dokumentarfilm gezeigt. Was ist an dem Film dokumentarisch?
Das hängt davon ab, was Sie unter dokumentarisch verstehen. Wenn sie dies auf talking heads einengen, ist es kein Dokumentarfilm. Wenn sie den Dokumentarfilm als eine auf Fakten basierende Kunst begreifen mit Protagonist*innen, die eine Erfahrung aus ihrem wirklichen Leben nachspielen, dann ist Reas ein Dokumentarfilm. Ich kann versichern, dass alles, was in dem Film gesagt wird, Wirklichkeit ist, auch wenn die Struktur fiktional ist.
Welche Perspektiven hat der argentinische Film unter der derzeitigen rechtsextremen Regierung?
Reas ist eine Produktion der argentinischen Gema Films, eine Koproduktion der deutschen Sutor Kolonko und der schweizerischen Mira Films. Der Film wurde mit Mitteln des Nationalen Instituts für Film und Audiovisuelle Künste (Incaa) und ausländischer Unterstützung gedreht. Er hat Arbeit geschaffen für Filmschaffende und mehr als 70 Personen, die in prekären Verhältnissen leben. Das ist wichtig zu betonen, weil Javier Milei, der derzeitige Präsident Argentiniens, Arbeitsplätze im Kulturbereich abbauen will, um angeblich Staatsausgaben zu reduzieren. Dabei ist Incaa in Wirklichkeit selbstständig (und wirtschaftlich nicht von staatlichen Geldern abhängig).
Der Film bringt, wie viele in Argentinien, nicht nur Prestige für das Land, sondern generiert auch Mittel, die ohne Gegenleistung zu verlangen, investiert werden. Der Kampf der im Moment auf den Straßen und im Kongress ausgefochten wird, ist kein wirtschaftlicher, sondern ein ideologischer: Milei will das Incaa zerschlagen, den Nationalen Kulturfonds und das öffentliche Bildungswesen ganz allgemein, weil er weiß, dass Bildung kritisches Denken befördert und Kunst ein Instrument der Emanzipation ist; letztendlich, weil er die Kultur fürchtet.
Lola Arias, geboren 1976 in Buenos Aires, Argentinien, ist Schriftstellerin, Theater- und Filmregisseurin, bildende Künstlerin, Musikerin und Performerin. Teatro de guerra, ihr erster abendfüllender Film, wurde 2018 im Berlinale Forum uraufgeführt.
Februar 2024