Der Spielfilm Cidade; Campo von Juliana Rojas feierte seine Weltpremiere im Wettbewerb der Sektion Encounters auf der Berlinale. In Interview spricht die Regisseurin über ihr neuestes Werk.
In Cidade; Campo werden aus der Sicht weiblicher Protagonistinnen zwei Geschichten von Binnenmigration in Brasilien erzählt, denen manches gemeinsam ist: Verlust, Schatten der Vergangenheit und die Notwendigkeit eines Neuanfangs. Tadellos besetzt mit unter anderem Fernanda Vianna, Mirella Façanha und Bruna Linzmeyer erzählt der Film auf sehr treffende Weise von der Migration seiner Figuren. Im ersten Teil kommt die Landarbeiterin Joana in São Paulo an, um bei ihrer Schwester zu leben, nachdem der Ort, an dem sie bis dahin gelebt hatte, durch den Dammbruch eines Rückhaltebeckens für Bergbaurückstände zerstört wurde. Im zweiten Teil ziehen Flávia und Mara als Paar auf ein kleines Stück Land, das Flávia von ihrem gerade verstorbenen Vater geerbt hat.Frau Rojas, „Cidade, Campo“ handelt in zwei Geschichten sowohl von Verlusten und Neuanfang als auch vom Gegensatz zwischen Land und Stadt. Wie entstand der Wunsch, einen Film gerade über diese Themen zu machen?
Das Herzstück des Films ist der Gedanke über die Entfernung aus dem Herkunftsort und der Anpassung an einen neuen. In diesem Fall, der Migration zwischen Stadt und Land, die sehr unterschiedliche Umgebungen sind, mit unterschiedlichen Zeiten und Lebenserfahrungen. Themen, die mich auch persönlich berühren, denn meine Eltern stammen aus dem Landesinneren. Für meine Familie stellte sich also immer die Frage nach der Diskrepanz mit der Stadt und dem Verhältnis zur Natur. Daher überlegte ich mir zwei Geschichten, in denen beides vorkommen sollte. Zwei unabhängige Geschichten, die sich in einigem reimen: In beiden erleiden die Protagonistinnen Verlust und Neuanfang. Vor allem in der zweiten Geschichte gibt es durch Flávia auch eine Wiederaneignung der Herkunft. Auch das hat mit meiner eigenen Geschichte zu tun, dem Universum meines Vaters, zu dessen Guarani-Wurzeln ich nur wenig Zugang habe. Indigene Identitäten werden in Brasilien ausgelöscht.
Ich denke, das hat es immer gegeben, vor allem in der urbanen Mittelschicht. Ich habe mich von Berichten von Leuten inspirieren lassen, die im Landesinneren nach einem anderen Leben gesucht haben und dann mit dem wirklichen Landleben umgehen mussten. Der gesellschaftliche Kontext ist anders, für LGBT deutlich schwieriger, aber auch der ganz gewöhnliche Alltag. Die Arbeit ist anstrengend, und man braucht eine Verbindung zur Natur und ein Verständnis dafür. Dazu kommen viele Unwägbarkeiten des Klimawandels. Die Jahreszeiten sind unregelmäßiger geworden. Die Pflanzen wachsen nicht mehr. Das Paar im zweiten Teil des Films zieht aufs Land, weil Flávias Vater, zu dem sie wenig Kontakt hatte, gestorben ist und sie mit seiner Geschichte in Verbindung treten will. In dem Wunsch der Figuren, alles richtig machen zu wollen, steckt auch eine gewisse Idealisierung.
Die erzählte Geschichte spielt auf mehreren Ebenen einschließlich der Schatten einer Vergangenheit, mit der die Protagonistinnen umgehen müssen. Wieso haben Sie sich für diese Mischung aus Spannungselementen und Surrealismus entschieden?
Ich lote diese Elemente schon in meinen Kurzfilmen aus. Ich möchte, dass meine Filme sich nicht in ein festes Genre einfügen. Ich spiele gern mit den Möglichkeiten und nutze die Werkzeuge jedes Genres für die Erzählung, auch um Überraschung zu schaffen, Befremden, neue Empfindungen aufzurufen. In Cidade; Campo hat dies auch mit der eher existenziellen Frage zu tun, die der Film stellt. Es ist ja keine objektive Geschichte, sondern handelt von der Subjektivität der Figuren, die mit Gespenstern und Erinnerungen der Vergangenheit umgehen müssen. Der Film beginnt eher konkret mit einer städtischen eher objektiven und pragmatischen Vorstellungswelt und baut sich dann langsam zu einer eher traumhaften Atmosphäre hinauf. Wir haben mit Filtern gedreht und fließende Übergänge geschaffen, um diese Sprache noch zu verstärken.
Neben dieser subjektiven Entwicklung hat der Film auch eine deutlich erkennbare politische Ausrichtung – mit dem Bezug auf den Dammbruch im brasilianischen Bundesland Minas Gerais oder in den Arbeitsverhältnissen von Joana. Was war für Sie dabei wichtig?
Sicherlich gibt es Themen, die ich unbedingt ansprechen will. Um Arbeitsverhältnisse geht es auch in meinen früheren Filmen. In Cidade; Campo wird die Prekarisierung der Arbeit deutlich. Joana fängt an, über eine App als Reinigungsfachkraft zu arbeiten. Das ist Outsourcing mit extrem wenig Arbeitnehmerinnenrechten. Und in diesem Diskurs vom „selbständigen Unternehmer“ liegt etwas Perverses, denn er vermittelt die Illusion von sozialer Durchlässigkeit, während die Betroffenen in Wirklichkeit immer mehr Rechte einbüßen. Das sind wirtschaftlich wie sozial extrem vulnerable Personen.
Da ist aber auch die Katastrophe in Minas Gerais, angelehnt an die Dammbrüche in Mariana und Brumadinho, die ich nicht namentlich nenne, weil sie nicht explizit Thema des Films sind. Wären sie es, müsste ich genauer schildern, was passiert ist und über den Konzern reden, der das verursacht hat. In dem Film ist die Katastrophe nur Ausgangspunkt für das Weggehen der Protagonistin. Konzeptuell natürlich sehr aussagekräftig, weil Joana an einem Ort mit starker und langjähriger
familiärer und lokaler Verwurzelung lebte. Und plötzlich ist alles weg. Ich wollte darüber nachdenken, was mit einer Person geschieht, die so etwas durchmachen muss. Außer dem Trauma und der Trauer sind da der Verlust des Alltags, der Gewohnheiten, der affektiven Erinnerungen, und man muss sich an ein komplett neues Leben gewöhnen.
Im zweiten Teil des Films gibt es das lesbische Paar und die Frage der Repräsentativität. Es gibt eine Schwarze, übergewichtige Protagonistin, die ihre eigene Geschichte hat: menschliche und universelle Konflikte. Diese Körper haben ein Recht auf diese Art Handlung. Mir ist klar geworden, wie wichtig es ist, diese Dinge sichtbar zu machen. In den meisten Filmen haben Dramen von LGBT-Figuren mit ihrer eigenen Identität und Sexualität zu tun. Das sind natürlich wichtige Themen, aber sie haben auch Konflikte und Wünsche, die darüber hinaus gehen. Ich wollte die Möglichkeit anderer Narrative für diese Figuren aufzeigen.
Auch in meinen früheren Filmen habe ich mit weiblichen Figuren gearbeitet. Mich interessiert die Stellung der Frau in verschiedener Hinsicht – auf dem Feld der Gefühle, in Arbeitsverhältnissen. Ich glaube, weibliche Figuren sind unterrepräsentiert. Das sagt viel über unsere Gesellschaft aus und darüber, wie wir mit Frauen umgehen. Insofern wollte ich auch ein in Schlüsselpositionen überwiegend weibliches Team haben. Es war eine sehr interessante Erfahrung. Eine andere Arbeitsdynamik hat sich ergeben und ich habe mich sehr aufgehoben gefühlt. Auch in ästhetischer Hinsicht war der Austausch sehr gut, weil immer der Wille da war, unsere Perspektive zu reflektieren und einzubringen – Geschichten zu schaffen, die anders sind, als wie sie von Männern erzählt werden.
Die Drehbuchautorin und Regisseurin Juliana Rojas wurde in Campinas, Brasilien, geboren. Zu ihren Soloarbeiten gehören die preisgekrönten Kurzfilme O duplo und A passagem do cometa sowie der Spielfilm Sinfonia da necrópole. Mit Marco Dutra schrieb und inszenierte sie die Kurzfilme O lençol branco und Um ramo sowie die abendfüllenden Spielfilme Trabalhar cansa und As boas naneiras.
Februar 2024