Der venezolanische Schriftsteller Federico Vegas denkt über die tiefere Bedeutung des spanischen Wortes “Angst” nach und erinnert sich an ein gruseliges Erlebnis in seiner Kindheit.
Als ich anfing, Italienisch zu lernen und die ersten Versuche machte, ein bisschen zu plaudern, hatte ich Schwierigkeiten mit dem Wort „paura“. Ich kannte seine Bedeutung. Aber es ist eine Sache, „miedo“ (das spanische Wort für „Angst“) zu fühlen und etwas ganz anderes „paura“ zu fühlen. „Angst“ wird in unserer frühesten Kindheit geboren, wo sie in unsere Träume eindringt, in unsere Einsamkeit und Stille. Von dorther kommt ihre Resonanz und Tiefe, ein Echo und eine Schwingung, der die jüngste italienische „paura“ einfach nicht entspricht.Der Ursprung des spanischen Wortes für Angst, „miedo“, geht auf eine ganz andere Dimension zurück. „Miedo“ stammt vom lateinischen Wort „metus“ ab. Aber diese Etymologie lebte nur auf der iberischen Halbinsel weiter. In Italien und Frankreich festigte sich das Wort für Angst ausgehend vom lateinischen „pavor“ als „paura“, was mir genauso irreleitend wie das Französische „peur“ erscheint.
Die Tatsache, dass die französische und italienische Angst vom Wort „pavor“ abstammt, lässt vermuten, dass diese Art von Angst viel intensiver ist. Für Lateinamerikaner ist „pavor“ nämlich eine übermächtige Angst mit „Schrecken und Bestürzung“. Außerdem kommt noch ein Unterschied hinzu: Angst ist auf Spanisch ein maskulines Wort „el miedo“, aber auf Italienisch und Französisch feminin „la paura“ und „la peur“. Ich glaube, dass die Weiblich- oder Männlichkeit der Wörter nicht zufällig entstanden ist, sondern dass bei den weiblichen Formen die Intensität stärker ist. Sagen wir, dass sie emotionaler und tragischer sind. Die Sevillaner sagen zu Beginn des Sommers, dass die Hitze gekommen ist. „Llegó el calor.“ Auf Spanisch ist „Hitze“ maskulin. Aber im Hochsommer ändern sie einfach den Artikel und sprechen von „la calor“. Die Geburt ist männlich, der Tod weiblich [Auf Deutsch ist es ja genau andersherum. Anm. der Übers.]
Eingetaucht in diese Angst, die nicht immer an Terror und Schrecken heranreichte, begann ich das Gewicht der Wörter kennenzulernen und die Art und Weise, wie sie meine Gefühle mal verstecken und mal offenbaren können. Irgendwann als ich noch klein war, verbrachte meine Familie die Sommerferien auf einer Hacienda in Turmero, nicht weit von Caracas in Venezuela. Wir schliefen in einem Haus meines Onkels, das perfekt für Gespenster gemacht zu sein schien. Die Lieblingsbeschäftigung der Erwachsenen war es, uns Kinder mit makabren Geschichten und bösartigen Scherzen mit Laken und Feuerzeugen zu erschrecken. Die größte Mutprobe bestand darin, spät in der Nacht mit einer Kerze bis zum sogenannten „Baum des Erhängten“ zu gehen, der extrem weit vom Haus entfernt stand, und wo wir ein weißes Taschentuch, das um eine Flasche gebunden war, holen sollten. Ich lachte, als ich sah, wie meine älteren Cousins alle möglichen Reaktionen auf diese Herausforderung zeigten, von Verachtung bis Weinen. Und ich war sicher, dass ich aufgrund meines Alters und meiner Größe von solcher Tat befreit sein würde, bis mir plötzlich jemand die Kerze in die Hand drückte.
Ich habe gelesen, dass die Angst zwar frei ist, aber nicht befreiend. Der erste Teil des Satzes ist falsch, der zweite ist allerdings sehr wahr. Im Reich dieses arroganten Machismus war es verboten, Angst zu haben. Und selbstverständlich hat die Angst niemanden befreit, auch wenn sie von Panik- und Zitterattacken begleitet wurde.
Ich hielt die Aufgabe für unmachbar. Aber der unerbittliche Blick meines Vaters ließ mich wie ein Roboter auf den längsten und bewegtesten Weg meines Lebens losstapfen. Nie zuvor und auch nie wieder danach habe ich so viele gespenstische Bilder gesehen. Eine unheimliche Gestalt, wahrscheinlich eine Bananenpflanze, winkte mir zu. Ein kriechendes Tier überquerte den Weg wie ein unberechenbarer Löwe. Ich konnte meine Schritte nicht fühlen, und von der Kerze in meiner Hand ging eine Kälte aus, die mich blendete. Als ich bei dem Taschentuch auf der Flasche ankam, dass sie zwischen den knochigen rausstehenden Wurzeln des Baumes versteckt hatten, drang mir der Gestank des Erhängten, der hier vor einhundert Jahren gestorben sein sollte, in die Nase. Ich konnte meine vor Angst steif gewordenen Knie nicht beugen, um mich herunterzubücken. Ich konzentrierte meinen Geist auf das Tuch und es stieg wie ein riesiger Schmetterling in meine Hände. Und mit der Trophäe in der Hand drehte ich mich um und begann so schnell zu rennen, dass die Kerzenflamme, meine einzige Verbündete, erlosch. Alle drei Schritte sprang ich in die Höhe und gab einen Jubelschrei von mir, damit mein Gefühlszustand eher wie Freude aussah als wie der Ausbruch von so viel angestautem Schrecken. Heute kann ich mit Stolz sagen, dass ich sehr große Angst hatte, aber nie fühlte ich „paura“. Jemand nannte mich mutig und von da an, konnte ich dieses Adjektiv nicht mehr ernstnehmen. Es erschien mir so willkürlich. Angst ist universeller, sie hat mehr Geschichte, mehr Erinnerung, mehr Menschlichkeit.
Juni 2020