Wissen ohne Grenzen  Neue Perspektiven für Geografie und Umweltfragen

Tehobroma Cacao
Tehobroma Cacao © Erika Torres, 2019

Aufgrund einer immer stärkeren Fragmentierung der Wissenschaft geriet Humboldts Denken für lange Zeit in Vergessenheit. Doch in aktuellen transdisziplinären Ansätzen sieht die brasilianische Geographin Kalina Salaib Springer eine Wiederbelebung seiner Konzepte.

Frau Springer, welche Bedeutung hat Alexander von Humboldt für die moderne Geografie?
 
Die Geografie als ein selbstständiger Bereich der Wissenschaft entsteht aus dem Humboldtschen Denken. Humboldt steht emblematisch für ein Wissen ohne Grenzen und ist damit für die Systematisierung der Theorien und Kenntnisse verantwortlich, die später als einer „Geografischen Wissenschaft“ zugehörig bezeichnet wurden. Das mechanistische Weltbild überwindend, schuf er einen Mittelweg zwischen aufklärerischem Rationalismus und metaphysischer Spiritualität und entwickelte eine ganzheitliche Synthese zum Verständnis der Welt. Diese doppelte philosophische Orientierung ist der Grundpfeiler des modernen geografischen Denkens, das den geografischen Raum in seiner dichotomischen, objektiven und subjektiven Gesamtheit zu erfassen versucht.
 
Sind noch Spuren seines Gedankenguts in der heutigen Geografie zu erkennen?
 
Ja und nein. Nein, weil sein Erbe über viele Jahre in Vergessenheit geriet, teilweise durch die Bemühungen um die Konsolidierung eines wissenschaftlichen, von Grund auf rationalen und kartesianischen Denkens. Dies zielte eher auf die Fragmentierung der Wissenschaft und stand Humboldts Denken unmittelbar entgegen. Und ja, weil moderne und postmoderne Theorien unglaubliche Ähnlichkeiten mit Humboldts Konzeptionen aufweisen.
 
Inwiefern? Was genau ist an Humboldts Denken noch aktuell?
 

Alexander von Humboldt hatte ein Verständnis von Wissenschaft und vom Leben, das seiner Zeit weit voraus war. Die holistische Synthese zur Überwindung des Vitalismus und Mechanizismus in Humboldts Denken stellt einen riesigen Fortschritt auf unterschiedlichsten Wissensgebieten dar, nicht nur in der Linguistik und Ästhetik, sondern auf dem gesamten Feld der Naturphilosophie seiner Zeit, die sich in dem äußerte, was von einigen als Krise der Paradigmen bezeichnet wird. Diese Paradigmenkrise kehrt heute zurück insofern, als die Postmoderne durchdrungen ist von der Komplexität interdisziplinärer und transdisziplinärer Herangehensweisen. Entdeckungen wie die Fraktaltheorie, komplexe Systeme, dissipative Strukturen, die Chaostheorie, James Lovelocks Gaia-Hypothese verkörpern wieder die holistische Konzeption von Komplexität und der Vernetzung, die im Denken von Humboldt vorhanden waren. Diese neuen Herangehensweisen stellten eine Herausforderung für alle Wissenschaften dar, vor allem die Geografie, die nun neue Perspektiven im Umgang mit der Natur und mit Umweltfragen entwickeln musste.
 
Was waren die wichtigsten Beiträge Humboldts für die Kartografie?
 
Als Forschungsreisender versuchte Humboldt, seine Entdeckungen räumlich im Einklang mit seiner Deutung der Welt und der Wissenschaft darzustellen. Dennoch ist die Darstellung eines komplexen, ganzheitlichen Wissens in einem kartografischen Dokument eine Herkulesaufgabe, denn man steht immer vor der Herausforderung, Informationen auszuwählen und zu vereinfachen. So versuchte Humboldt in seinen kartografischen Aufzeichnungen, die unterschiedlichsten Elemente in Beziehung zu setzen und ihre Verbindung räumlich zu beschreiben. Ein Beispiel dafür ist die Darstellung des Vulkans Chimborazo in Ecuador, den er bestiegen hatte. In einem Querschnitt ordnete Humboldt die Pflanzen nach Höhenlage an. Links und rechts des Bergs stellte er mehrere Säulen auf mit Details und Informationen zu Temperatur, Schwerkraft und Luftfeuchtigkeit.
 
Können die Technologien des Geoprocessing oder Geoverarbeitung heute zu einer Wiederannäherung an die Gedankenwelt Humboldts führen? Helfen sie gewissermaßen, Humboldts Konzepte von Natur und Landschaft zu verstehen?
 
Das ist schwer zu beantworten. Humboldts Denken suchte nach Einheit der lebenden Kräfte und privilegierte dabei nicht nur Vernunft, sondern auch die Empfindsamkeit und die Ästhetik als Methoden zur Erfassung des Lebens und der Veränderungen der Landschaften und ihrer Elemente. Dies geht weit über die rein quantifizierbaren Aspekte der Natur hinaus. Seine Konzepte verschränkten Liebe, Natur, Wissen und Geist – Konzepte, die sich bisweilen ergänzen, bisweilen vermengen. Dieses komplexe Geflecht durchzieht seine Suche nach dem Innern des Wissens selbst, nach der harmonischen Einheit und der Betrachtung der Natur als ein Ganzes. Ich weiß nicht, inwieweit Technologien in der Lage sind oder sein werden, diese Empfindsamkeit und Subjektivität irgendwann zu verinnerlichen. Zudem war Humboldt ein Anhänger und Verfechter der Kontemplation der Natur und der Landschaften sowie des Vergnügens am direkten Kontakt mit der Natur. Forscher sollten laut ihm in direktem Kontakt mit der Natur stehen; möglicherweise der Anstoß zu seinen unzähligen Reisen. Nach meinem Verständnis demotivieren die Technologien der Geoverarbeitung diesen direkten Kontakt mit der Natur.
 
Heißt das also, die neuen Technologien stehen dem, was das Denken von Humboldt ausmacht, entgegen?
 
Technologie ist Teil des heutigen Alltagslebens. Mir persönlich jedoch gefällt der Gedanke der Schule als ein Raum, der losgelöst ist von dieser technologischen Realität. Ich stimme dem Geografen Milton Santos zu, wenn er warnt, dass der Mensch zum Gefangenen der von ihm selbst produzierten Technik wird. So gesehen wird Schule zu einem Raum des Widerstands gegen den exzessiven Gebrauch dieser Technologien. Als Beispiel nenne ich unser Verhältnis zu Handy und Whatsapp. Die Schule und insbesondere der Unterricht sind dabei vermutlich die einzigen Momente, in denen wir uns von dieser virtuellen Welt abkoppeln. Ich sage nicht, dass die Schule komplett gegen die Technologie sein soll, das ist unmöglich. Aber ich stehe zu dem Gedanken, dass Schule nicht unbedingt diese Technologie braucht, um zu bestehen und auch stärker zu werden als ein privilegierter Ort zum Schutz und zur Bildung unserer Kinder und Jugendlichen. Für den Bereich des Geografieunterrichts bin ich der Ansicht, dass man die Technologie mit Bedacht für bestimmte Einhalte bzw. für klar definierte und umrissene Lernziele einsetzen sollte.
 
Kalina Salaib Springer lehrt an der Abteilung für Lernmethoden des Zentrums für Erziehungswissenschaften der Bundesuniversität Santa Catarina.
 

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