Südamerikanische Literatur  Der Einfluss von Humboldts Reisen

Chlorochrysa nitidissima - Tangara multicolo © Erika Torres, 2019

Die lateinamerikanische Literatur trägt Züge der Weltsicht Alexander von Humboldts, sagt die Literaturwissenschaftlerin Lúcia Ricotta in Interview. Sichtbar sei dies unter anderem bei Autoren aus Brasilien, Kolumbien, Venezuela, Kuba und Argentinien. 

Frau Ricotta, inwiefern spiegelt sich Humboldts Geografie in der brasilianischen Literatur?
 
Im Zuge seiner Reisen erarbeitete Humboldt ein reiches Archiv der kolonialen Welt Brasiliens und Lateinamerikas, von deren Ökosystem und Kosmologie. Laut dem Anthropologen Philippe Descola schloss Humboldt aus diesem Repertoire, wie untrennbar die „Naturgeschichte des Menschen (…) von der Kulturgeschichte der Natur“ sei und beobachtete, wie Umgebung das soziale Leben des Menschen bestimmt. Genau das ist der zentrale Punkt der Geografie Humboldts, die sich mit der Erde, ihrer kosmischen Auffassung vom Leben und vom Bewohnen befasst. Zusammengefasst lautet eine entscheidende Frage der humboldtschen Geografie: Ist die Erde ein guter Ort, um von unterschiedlichen Naturen bewohnt zu werden?
 
Insofern war Humboldt für viele Autorinnen und Autoren der brasilianischen Literatur ein Bezugspunkt: Joaquim de Sousândrade, Gonçalves Dias, José de Alencar, Visconde de Taunay, Franklin Távora, Graça Aranha, Euclides da Cunha, Alberto Rangel, Afonso Arinos, José Lins do Rego, Graciliano Ramos, Raquel de Queiroz, Monteiro Lobato, João Guimarães Rosa und João Cabral de Melo Neto, die sich auf die eine oder andere Weise die humboldtschen Topoi des Beschreibens von Raum und der Bedeutung von Raum als einer mächtigen kulturellen Bindung zu eigen gemacht haben.
 
Könnte man in „Os Sertões“ (Krieg im Sertão) des brasilianischen Schriftstellers Euclides da Cunha ein Beispiel für diesen Einfluss sehen?
 
Ja. Ich glaube, Os Sertões vermittelt eine humboldtsche Geografie, stellt es doch das räumliche Element in den Mittelpunkt der poetischen, kulturellen, wissenschaftlichen und historischen Vorstellung. Und der Autor verortet seine biosozialen Typen: den „Sertanejo“, den Viehhirten, die Migranten, die Fanatiker. Os Sertões ist, wie der Brasilianist Ettore Finazzi-Agrò sagt, ein „Versuch, die Geschichte durch Geografie zu ersetzen“, und nähert sich dahingehend Humboldt und insbesondere dessen Behauptung aus der ab 1814 veröffentlichten Relation historique du voyage aux régions équinoxales du Nouveau Continent, an, dass mit der Verlagerung der Perspektive weg von den Meeresexpeditionen eine Reise über Land in das „Innere des Kontinents“ unerlässlich sei.
 
Nicht, dass Euclides da Cunha Humboldt direkt repliziert hätte, aber er war beherrscht von einer humboldtschen Metaphysik der Natur im Hinblick auf deren Weltsicht und das Ausloten innerer Räume. In Os Sertões sagt er: „Die Kräfte, die das Land bearbeiten, greifen es in seinem innersten Gefüge ebenso wie an der Oberfläche an“. Damit zeigt Euclides da Cunha zweifellos, und gibt dies für die Region wieder, was Humboldt „Naturwahrheit“ nannte. Bemerkenswert ist das Inventar an Naturbeschreibungen in Os Sertões, die sich an Reiseliteraturen des 19. Jahrhunderts orientieren, Beschreibungen von Gebirgen, endlosen Hochebenen, Wüstenrändern, des Martyriums der Erde, der Steppe, der „Ipueiras“, ausgetrockneter Seen, Luftspiegelungen, des ausgedörrten Lands der Caatingas und so weiter.
 
Könnte man in diesem Zusammenhang auch „Grande Sertão: Veredas“ des brasilianischen Schriftstellers João Guimarães Rosa nennen?
 
Aus meiner Sicht bedient sich auch Grande Sertão: Veredas dieser humboldtschen Räume. Indem es die zivilisatorische und universalistische Trennung von Natur und Kultur dramatisiert und die historische Gewalt imperialer Prozesse der Territorialisierung und des Unsichtbarmachens in die Literatur einschreibt, überschreitet das Buch anthropologische Grenzen zwischen dem Gebildeten und dem Primitiven, der Stadt und dem Dschungel, dem Intellektuellen und dem „Jagunço“.
 
Lässt sich dieser Einfluss Humboldts auch in der Literatur anderer Länder Lateinamerikas feststellen?
 
Zweifellos! Der Einfluss Humboldts und seiner Reisen durch Amazonien ist spürbar in dem Roman Der Strudel des kolumbianischen Schriftstellers José Eustasio Ribera, der im Regierungsauftrag unterwegs war, um den Grenzverlauf zwischen Kolumbien und Venezuela zu demarkieren. In Die Verlorenen Spuren von Alejo Carpentier wiederum beschreibt der kubanische Schriftsteller Routen und Szenen der Reisen Humboldts durch Amazonien. Eine andere augenfällige lateinamerikanische Rezeption Humboldts ist Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga des Argentiniers Domingo Faustino Sarmiento mit dessen räumlicher Inanspruchnahme der Kultur durch eine Lesbarkeit der alternativen Welt jenseits der Grenze. Und ich erinnere an den venezolanischen Dichter Andrés Bello, der in Alocución a la poesía (1823) eine prototypisch humboldtsche literarische Hinwendung zur amerikanischen Natur unter Vernachlässigung europäischer Modelle unternimmt.
 
In Ihrem Text „A natureza americana em Humboldt” (Die amerikanische Natur bei Humboldt) schreiben Sie und die Wissenschaftlerin Marília Librandi von der Wahrscheinlichkeit, dass der Papagei in „Macunaíma“  des Brasilianers Mário de Andrade aus einem Reisebericht Humboldts stammen könnte.
 
In der Schlussszene von Macunaíma gibt ein einsamer Papagei in der Stille des Uraricoera-Flusses die „Taten des Helden“ wieder, der „in den Himmel gegangen“ ist. Für den Romanschriftsteller und Literaturkritiker Manuel Cavalcanti Proença stellt dieser Papagei, der die Geschichten des Protagonisten Macunaíma bewahrt, eine „Wiederholung“ der Episode Humboldts mit einem Papagei dar, wie sie der preußische Naturforscher in seinem Buch Ansichten der Natur von 1807 beschreibt. Darin erzählt Humboldt von seinem Weg durch die Wasserfälle von Atures und Maipures des Orinoco und notiert an einer Stelle: „Denn in Maipures (ein sonderbares Faktum) lebt noch ein alter Papagei, von dem die Eingeborenen behaupten, dass man ihn darum nicht verstehe, weil er die Sprache der Aturer rede.“
 
Die Aturer hatten sich, verfolgt von den kannibalischen Kariben, in die felsigen Berge um die Wasserfälle des Orinoco zurückgezogen, wo heute Venezuela ist, und verschwanden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Der einzige Überlebende, der Papagei in seiner Trauer um die Aturer, gibt die lebendige Anwesenheit der Toten dieses Landes wieder, die dort immer gewesen waren. In Macunaíma nimmt der Erzähler, der vorgibt, die Rede des Papageis wiederzugeben, nicht nur die Rede des Papageis von Humboldt auf, sondern gibt auch dem Überleben anderer Stimmen und Welten Gestalt, die Humboldt in Amerika aufzeichnete.
 
Ist dieses humboldtsche Erbe auch heute noch in der brasilianischen Literatur spürbar?
 
Ich beobachte den Widerhall Humboldts bei Autoren wie Milton Hatoum aus der Amazonasregion, insbesondere in seinem Relato de um certo Oriente (Brief aus Manaus). Ein anderes Beispiel ist die  amerindische Mythopoetik übertragende Lyrik der Dichterin und Übersetzerin Josely Vianna Baptista aus Paraná. In ihrem Buch Roça Barroca (2011) verweist ihre Suche nach dem ursprünglichen Wort auf die metaphysische Präsenz der Naturwelten Humboldts.

Lúcia Ricotta ist Literaturkritikerin, Professorin für Literaturwissenschaft an der Universidade Federal do Estado do Rio de Janeiro (Unirio) und Verfasserin des Buchs Natureza, Ciência e Estética em Alexander von Humboldt (Natur, Wissenschaft und Ästhetik bei Alexander von Humboldt).
 

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