Aktionskunst kann auch in Zeiten des Social Distancing eine Form des politischen Protests sein. Dies stellt die Performance Marcha à ré (Rückwärtsgang) von Nuno Ramos und Teatro de Vertigem unter Beweis. Nun ist sie auf der Berlin Biennale zu sehen.
Die Performance Marcha à ré, konzipiert von Teatro de Vertigem aus São Paulo in Zusammenarbeit mit dem visuellen Künstler und Schriftsteller Nuno Ramos, ist eine Stellungnahme gegen die aktuelle Politik in Brasilien und zugleich Gedenken an die Opfer von Covid 19 in Brasilien. „Unser Grundgedanke war, auf den Rückschritt, den das Land derzeit in unterschiedlicher Hinsicht durchlebt, hinzuweisen“, sagt Antonio Araújo, künstlerischer Direktor des Teatro Vertigem. Zum Klang von mechanischen Beatmungsgeräten und Überwachungsmonitoren für Vitalfunktionen legt ein Trauerzug mit mehr als 100 Autos im Rückwärtsgang auf der Avenida Paulista die etwa eineinhalb Kilometer lange Strecke vom Gebäude des Industrieverbands des Bundesstaats São Paulo bis zum Friedhof Consolação zurück.Dort spielt von oben vom Eingangsportal ein Trompeter die Nationalhymne, rückwärts, während eines der neun Bilder der Tragischen Serie: meine sterbende Mutter (1949) des 1973 verstorbenen brasilianischen Künstlers Flávio de Carvalho enthüllt wird. Ein anderes Werk von Carvalho, Experiência nº 2 (1931), in dem der modernistische Künstler entgegen der Laufrichtung durch eine Prozession geht, war die Inspiration zu dem Autokorso Marcha à ré. Der aus der audiovisuellen Aufzeichnung der Performance durch den Filmkünstler Eryk Rocha entstandene Kurzfilm wird nun auf der 11. Berlin Biennale gezeigt, die unter anderem den Künstler Flávio Carvalho ehrt.
Antonio Araújo und Nuno Ramos erzählen, wie die Coronavirus-Pandemie sie zu einer Neuerfindung der Ursprungsidee der Performance zwang und stellen im Interview Überlegungen zu künstlerischen Ausdrucksformen in Zeiten physischer Distanzierung an.
Inwiefern haben Hygienemaßnahmen und Abstandsregeln Ihre Ursprungsidee beeinträchtigt?
Antonio Araújo: Es hat alles verändert. Anfang 2019 hat Lisette Lagnado, eine der Kuratorinnen der 11. Berlin Biennale, das Teatro da Vertigem eingeladen, dort eine öffentliche Performance zu machen. Ich fuhr nach Berlin, um den Wedding kennenzulernen und das ExRotaprint, eines der Gebäude der Biennale, und mich für dieses Werk zu orientieren.
Unterwegs auf dem Fahrrad sah ich zufällig, dass dort die Eröffnung eines Tempels der [evangelikalen] Universalkirche vom Reich Gottes geplant war. Wir überlegten uns daraufhin eine Performance Theologien der Prosperität, vom ExRotaprint in Richtung der Stelle, wo dieser Tempel steht, um unter anderem über das Verhältnis der evangelikalen Kirchen zum Neoliberalismus zu sprechen und vom Aufstieg dieses neuen Exportprodukts, der religiösen Commodity des heutigen Brasiliens. Anfang dieses Jahres stieß Nuno Ramos zu uns, dann kam die Pandemie, und alles kam erst einmal zum Stillstand. Da die Biennale uns die Möglichkeit anbot, die Performance in São Paulo zu machen und dann als Aufzeichnung einzuschicken, haben wir die Ursprungsidee so umgestellt, dass sie im heutigen Brasilien einen Sinn ergibt.
Nuno Ramos: Wir wollten eine Performance auf der Avenida Paulista machen, einem der symbolischsten Orte der Stadt, wo seit 2013 zunehmend Demonstrationen der Rechten und Rechtsextremen stattfinden. Vor ein paar Monaten war diese Avenida wie Brasília Schauplatz der berüchtigten Autokorsos, mit denen Bolsonaro-Anhänger die Bevölkerung aufriefen, mitten in der Pandemie die Isolation zu verlassen und wieder arbeiten zu gehen. Mit unserer Performance haben wir diese Sprache umgekehrt und den öffentlichen Raum wieder auf verantwortungsvolle Weise besetzt.
Wir haben uns von Beginn an mit Hygienemaßnahmen beschäftigt, was allein schon eine Form des Protests ist, denn in Brasilien werden diese in weiten Teilen, bis hin zum Präsidenten, ignoriert. Das Auto kommt als ein wichtiges Element ins Spiel, um die Sicherheit der Teilnehmenden zu gewährleisten auf diesem Zug im Rückwärtsgang in Anspielung auf die Richtung, die unser Land, insbesondere in den letzten Jahren, eingeschlagen hat. Es geht dabei aber auch um den Gedanken, gegen die Herde zu laufen.
Als Inspiration diente das Werk Experiência n° 2 des Künstlers Flávio de Carvalho. Anfang der 1930-Jahre beschloss dieser, in umgekehrte Richtung durch eine Prozession zu laufen und wurde von der Bevölkerung fast gelyncht. Antonio, ich und die Schauspieler des Teatro Vertigem kümmerten uns auf der Straße in Sicherheitskleidung darum, die Autofahrer einzuweisen. Diese Live-Performance machen zu können war ein Sieg. Ich hatte noch nie mit Vertigem gearbeitet, aber selbst unter Bedingungen der Isolation und virtuellen Arbeitstreffen war es eine sehr starke, intensive Erfahrung und Begegnung.
Ist Kunst in Zeiten sozialer Distanz durch die Pandemie ein geeignetes Mittel des Protests?
AA: Ja, die Kunst besitzt diese Kraft, sich unter widrigen Umständen neu zu erfinden. Wir mussten diesen Aufschrei inmitten von so viel Ohnmacht tun, darauf aufmerksam machen, welchen Rückschritt das Land im Moment in vielerlei Hinsicht erlebt. Natürlich war es kein leichter Prozess. Unsere Treffen mussten auf Distanz stattfinden, nur zwei Mal haben wir uns physisch getroffen.
Außerdem haben wir alle Vorgaben rigoros eingehalten, um niemanden zu gefährden. Die Performance wurde nicht in den sozialen Netzwerken angekündigt, um Menschenaufläufe zu vermeiden, und die Performer, alles Freunde oder Bekannte von uns, blieben in ihren Autos. Dennoch glaube ich, dass wir eine sehr intensive Arbeit geleistet habe, in der alles geteilt wurde, vom Schaffensprozess bis hin zu den enormen bürokratischen Hürden. Die Performance auf der Avenida Paulista stattfinden zu lassen, war ein Kafka’scher Albtraum und erforderte monatelange Verhandlungen mit der Verwaltung.
AA: Ich glaube, die visuellen Künste sind darauf schon eingestellt. Auch die Berlin Biennale arbeitet mit gestaffeltem Eintritt und Maskenpflicht. Komplizierter ist die Situation am Theater, das ja die Idee von der Agora voraussetzt, vom Kollektiv, einer Gruppe von Leuten, die gemeinsam eine Erfahrung in Echtzeit machen, im Hier und Heute. Im Moment haben die Leute Angst, sich lange zusammen in einem geschlossenen Raum aufzuhalten, einem Theater, einem Kino. Die Angst wird sich wohl erst nach einer Impfung legen.
NR: Die große Frage ist: Wie wird die Menschheit dies überstehen? Wie wird zum Beispiel ein Kind, das ein Jahr lang nur mit seinen Eltern zu Hause war, diese Erfahrung verarbeiten? Wie werden sich Kollektive organisieren? Werden wir Angst vor dem Nächsten haben? Werden wir uns wieder wie vorher küssen? Was das Publikum angeht, bin ich es gewöhnt, wenige Zuschauer zu haben. Ich habe schon Shows und Performances mit kaum mehr als einer Person Publikum gemacht. Von den insgesamt 11 Büchern von mir wurden zusammen vielleicht höchstens 20.000 Exemplare verkauft. Viel in der Kunst wird in Abwesenheit anderer produziert, auch schon vor der Pandemie. In Brasilien produzieren die meisten Künstler weitgehend ohne Publikum. Der Gedanke an weniger Publikum macht mir daher keine Angst, aber wir müssen die Möglichkeit haben, etwas zu produzieren, das in der wirklichen Welt stattfindet. Wir brauchen den Horizont des Realen.
Oktober 2020