José Falero  Zwischen Himmel und Abwassergraben

© Anna Azevedo © Anna Azevedo

Kann man mit einem Dreirad fliegen und Gräben überwinden? Zumindest im Traum, sagt der brasilianische Schriftsteller José Falero. Und beschreibt, wie diese in der Wirklichkeit unüberwindbar bleiben.
 

Die größte Frustration meiner Kindheit war, nie wirklich Freude an meinem dreirädrigen Plastikmotorrad gehabt zu haben. Und nebenbei gesagt, war es nicht einmal meins, sondern gehörte meiner Schwester. In meiner Erinnerung ist es nie wirklich gefahren. Erst klemmte ein Hinterrad. Ich schraubte es ab, um das Problem zu beheben, dann bekam ich es nicht mehr befestigt. Nach ein paar bangen Wochen kam mir ein älterer Cousin zu Hilfe und montierte es mit Zange und Draht. Kurz darauf brach die Lenkstange. Irgendwann reparierte es ein Onkel, dann klemmte das Vorderrad. Irgendetwas war immer.

Mit den Jahren verlor dieses Dreirad in meinem Sichtfeld ein wenig an Bedeutung, mein Bedürfnis, es repariert zu wissen, verkümmerte und verschwand schließlich ganz. Ich spielte mit ihm, so wie es war, was seinen Verfall nur beschleunigte, und irgendwann war die Faszination weg. Bald lagen die sterblichen Überreste des Spielzeugs vergessen in einer Ecke im Hof. Aber anscheinend besetzte es trotz allem in der Unergründlichkeit meines Inneren zumindest einen symbolisch nicht unbedeutenden Raum. Denn mehr oder weniger gleichzeitig fing ich an, regelmäßig von dem Dreirad zu träumen.

Unter anderen Vorzeichen wäre es kaum gelogen, wenn ich behauptete, wir wohnten schön: viel Platz, und am Ende des Grundstücks ein kleiner Bach: Wer fände es nicht schön? Aber es war wie es war und nicht anders. Mangels Kanalisation war, was einmal ein schöner Bach gewesen war, eine offene Abwasserrinne, deren Wasser für alle gut sichtbar die unterschiedlichsten Fäkalien mit sich führte und zum Himmel stank. Und wirklich weitläufig war das Areal auch nicht, denn es drängten sich dort vier Baracken zu einer Art ärmlicher Mietskaserne, in der sich vier Familien den Raum teilten, der möglicherweise für eine gereicht hätte. Sechzehn Personen eng aufeinander mit nur einer einzigen Toilette, man hing aufeinander, an Privatsphäre war nicht zu denken. Und die offensichtliche Unzulänglichkeit wurde noch betont durch den Kontrast zum Nachbargrundstück jenseits des stinkenden Bachs. Das Gelände hinter dem Graben war tatsächlich wunderschön; es war wirklich groß und voller Obstbäume und mit einem gepflegten Rasen; mehrere hundert mal größer als unseres; wahrhaft gigantisch, und seltsamerweise stand nur ein einziges Haus darauf, in dem nur eine einzige Familie wohnte. Manchmal sah man dort Kinderdreiräder mit Motor und nicht nur kaputte Plastikmotorräder.

In dem Traum, den ich ständig träumte, war das Plastikmotorrad meiner Schwester auf einmal wie von Zauberhand ganz, und ich fuhr darauf schnell wie der Wind, trat so kräftig in die Pedale, dass ich schließlich triumphierend über den Graben sprang. Aber anstatt auf dem Nachbargrundstück zu landen, stieg ich weiter und weiter, bis mir von der Kälte, die mich durchdrang, klar wurde, dass ich flog. Und das Grundstück unter mir verlor nach und nach an Bedeutung, denn aus dem Himmel und durch die Wolken hindurch konnte ich die ganze Welt sehen, und dieser Anblick erfüllte mich mit tiefer Freude. Aber schnell überkam mich Verzweiflung, denn ich begann zu fallen, zu stürzen, immer weiter dem Boden zu, und es half nicht einmal, doppelt so kräftig in die Pedale zu treten und mit den Armen zu flattern, wie mit Flügeln, Gott flehend um Hilfe zu bitten oder sonst etwas: Nichts bremste oder hinderte meinen Sturz. Endlich wachte ich auf, angsterfüllt, eine Sekunde bevor ich am Boden zerschellte.

Sehr viel später erst, irgendwann in der Pubertät, hörte ich auf, so zu träumen, jedenfalls nachts im Schlaf; tagsüber jedoch, wenn ich wach war, träumte ich von etwas Ähnlichem: Würde. Ich träumte von Würde und von einem Leben, in dem alles – sogar das Spielzeug – in Ordnung war. Ich träumte von Kanalisation, Privatsphäre, Freiheit. Ich träumte von tief empfundenem Glück. Manchmal sagen die Leute, die meine Texte lesen: „Falero, dich hält nur der Himmel auf!“ Aber bei allem Respekt, dem muss ich widersprechen. Denn ich weiß, sollte ich je in den Himmel steigen, stürze ich unweigerlich und zerschelle am Boden. Und ich widerspreche, denn ich weigere mich, alleine zu fliegen. Weil Wolken obszöne Gestalt annehmen, wenn sie nicht für alle erreichbar sind. Und mein Traum ist nicht nur mein Traum, sondern der einer ganzen Nation. Ich muss widersprechen, muss widersprechen, muss widersprechen! Mich hält nicht der Himmel auf, sondern etwas viel weiter unten. Mich hält dieser verdammte Graben auf, der solange es ihn gibt, den Leuten das Leben schwer macht.

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