Indigene Sprachen  Das südamerikanische Babel geht online

© Marina Camargo, 2020. © Marina Camargo, 2020.

Lateinamerika ist der Kontinent mit dem größten sprachlichen Reichtum weltweit. Aber es ist auch der Ort, wo diese Diversität am stärksten bedroht ist. Digitale Projekte versuchen, die Vielfalt indigener Sprachen zu bewahren.

Sprache prägt unser Denken und umgekehrt. Kein Denken ohne sprachlichen Ausdruck, keine Identität ohne Worte. Sollte sich das allgemeine Sprachensterben so wie bisher fortsetzen, werden in den nächsten 85 Jahren die Hälfte der 7000 Weltsprachen verstummt sein. Obgleich sie nur fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, sprechen die indigenen Völker die meisten dieser Sprachen. Lateinamerika ist der Kontinent mit der größten linguistischen Diversität weltweit und – es ist gleichzeitig der Ort, wo diese Vielfalt am stärksten bedroht ist.

Zu einem beschleunigten Sprachverlust tragen Globalisierung, Urbanisierung und der Klimawandel bei. Immer mehr Menschen müssen in die Städte ziehen, um Arbeit zu finden und dabei verlieren sie meist ihre Sprache, ihre traditionellen Bindungen und Zugehörigkeiten. Zum Sterben der Sprachen trägt auch die Stigmatisierung der Menschen bei, die sie sprechen. Bei ihrer Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft bleiben die indigenen Sprachen auf der Strecke.

Damit verlieren die Sprechergemeinden aber nicht nur ihre besondere Ausdrucksweise, sondern einen substanziellen Teil ihrer Identität. Denn Sprache besteht nicht nur aus Wörtern und Grammatik, sondern ist grundlegend für das Selbstverständnis. Sie speichert Bräuche, Wissen über Flora und Fauna, ganze Kosmologien und eine ganz spezifische Art, die Welt zu begreifen. Wer seine Sprache verliert, verliert auch seine historischen Wurzeln, seine Zugehörigkeit und sein Selbstwertgefühl.

Archive von Sprache und Kultur

Die größte Sprachenvielfalt ist meist in sehr abgelegenen Gebieten vorzufinden, wie zum Beispiel am Oberen Xingu in Mato Grosso, Brasilien. Hier, an einem der Zuflüsse zum Amazonas, arbeitet seit vielen Jahren die Linguistin Bruna Franchetto im Dorf der Kuikuru, eine kleine Sprechergemeinschaft von etwa 650 Personen. Ein von Franchetto für das Internetportal DobeS (Documentation of Endangered Languages) angelegtes Archiv enthält Lexikon, Wort- und Satzlisten, ebenso wie musikalisches und visuelles Material, grammatikalische, ethnographische und historische Studien und von indigenen Lehrern und ihren Schülern verfasste Materialien. Inzwischen haben die Kuikuru das Projekt selbst in die Hand genommen. Als ausgebildete Linguisten und als Cineasten haben sie Filme produziert, einige davon preisgekrönt, wie Imbé Gikegü – Cheiro de pequi (2006) oder As hiper mulheres (2011). So bewahren sie linguistische und kulturelle Besonderheiten. Das neue Bewusstsein über die eigene Kultur und Sprache stärkt auch die Identität der Gruppen am Oberen Xingu und ihr Selbstbewusstsein.

Digitaler Aktivismus

Doch sind nicht nur kleine Sprechergruppen vom Sprachverlust betroffen. Obgleich das Wayuunaiki in Kolumbien auf Märkten, in öffentlichen Verkehrsmitteln zu hören ist und zu den meist gesprochenen Originalsprachen gehört, ist sein Fortbestand in Gefahr. Denn über die Halbinsel der Guajira, im Norden Kolumbiens, wo die Ethnie der Wayúu traditionell siedelt, verläuft eine Route des Drogenhandels. Das setzt sie gewaltsamer Vertreibung aus.

2015 eröffneten Wayúu-Aktivisten einen YouTube-Kanal, der großen Anklang fand. Hier unterrichten sie ihre Sprache, die traditionell auf der Halbinsel La Guajira gesprochen wird – und eben auch in der Diaspora, wie beispielsweise in der Schweiz, wo sich die virtuelle Schülerin Karmen befindet.
 


Die globalen Verflechtungen beschleunigen aber nicht nur die Migration, sondern begünstigen gleichzeitig neue Wege zur Erhaltung indigener Sprechergemeinschaften. Hier erweisen sich die digitalen sozialen Medien als gutes Werkzeug, um den Sprachen eine Atempause zu verschaffen.

Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren in ganz Lateinamerika eine aufstrebende Bewegung formiert, welche die digitalen Medien in ihrer eigenen Muttersprache kreativ nutzen. Über Facebook, Twitter, Instagram oder Whatsapp können sich in alle Welt verstreute Sprecher effizient vernetzen und Materialien, Videos, Podcasts, einfach verbreiten und teilen.
"Twitter: “Activismo Digital de Lenguas Indígenas” (Ativismo Digital de Línguas Indígenas) Twitter: “Activismo Digital de Lenguas Indígenas” (Ativismo Digital de Línguas Indígenas) | © Activismo Digital de Lenguas Indígenas Das Online-Projekt Rising Voices unterstützt diese Initiativen mit Know-how, Schulungen und Mikrofunding und hilft den Gemeinschaften, ihre Geschichten selbst zu erzählen. In den letzten Jahren entstand ein kreatives Netzwerk digitaler Aktivisten indigener Sprachen (Red activismo digital de lenguas indígenas). Sie kommen aus den verschiedensten Regionen Lateinamerikas und arbeiten daran, die Sprachen zu erhalten und online zugänglich zu machen. So entstanden indigene Wikipedias auf Nahuátl (Huiquipedia), auf Quechua (Wikipidiya) und Guaraní (Vikipetã).

Auch das chilenische Projekt Kimeltuwe zielt auf den aktiven Sprachgebrauch der indigenen Sprache Mapudungun über das Internet. Dabei setzt es auf die Vielfalt der Inhalte. Inhalte aus dem täglichen Leben, aber auch kulturspezifische Wissensinhalte, wie Ernährung, Babynamen, Erziehungsmethoden, Möbel und Musikinstrumente erreichen eine sehr hohe Popularität, während Grammatikübungen weniger beliebt sind. Besondere Aufmerksamkeit zog das Projekt zog auf sich, als es die beliebtesten Emoticons in den sozialen Netzwerken „mapuchisierte“, sie also ästhetisch und formal der Mapuche-Kultur anpasste.

Vom Digitalen zurück ins Analoge

Nicht jedes Digitalprojekt trägt gleichermaßen gut zur Wiederbelebung einer Sprache bei. Voraussetzung für den Erfolg digitaler Strategien ist natürlich der Zugang zu den Medien. In Südamerika gibt es aber weite Gegenden, wo die Leute nach wie vor keine dauerhafte Verbindung haben. Daher ist man vielerorts weiterhin auf das gute alte Radio angewiesen.

Doch eine Strategie muss die andere nicht ausschließen. Kimeltuwe stellt seine Materialien auch offline zur Verfügung. Die Aktivisten verteilen Bücher, Poster und Blätter an Schulen. Digitale und analoge Strategien werden in vielen Regionen Hand in Hand gehen müssen, wenn es gelingen soll, die indigenen Sprachen wirksam zu fördern und die kulturelle Vielfalt zu erhalten.

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