Alltag in Kyjiw & Lwiw  Frieden (nur) auf den ersten Blick

Frieden (nur) auf den ersten Blick Illustration: © Tetiana Kostyk

Die Sonne scheint, die Blumen blühen, Vögel zwitschern. Sirenen heulen, Raketen fliegen, Nachrichten überschlagen sich. Der Sommer kommt. Der Krieg ist nicht weg. Aber wie funktioniert jetzt Alltag in der Ukraine? Eindrücke aus Kyjiw und Lwiw, wo sich der Krieg gar nicht so fern anfühlt, wie es auf den ersten Blick scheint.

Seit mehr als 100 Tagen versucht Russland mit aller militärischen Kraft, die Ukraine und ihre Bevölkerung zu vernichten. Das sind mehr als drei Monate, mehr als ein Viertel Jahr. Seit dem russischen Überfall am Morgen des 24. Februar ist in der Ukraine jeder neue Tag, den sie sich gegen den aggressiven Nachbarn verteidigen kann, wertvoll. Frei verfügen können die Menschen im Land aber an jedem dieser Tage nur über höchstens 18 Stunden. Denn von 23 bis 5 Uhr ist selbst in den ruhigeren Regionen Sperrstunde − wer sich während dieser Zeit draußen aufhält, läuft Gefahr, als potentieller feindlicher Saboteur festgesetzt zu werden. Wo aktiv gekämpft wird, kann die örtliche Militäradministration die Sperrstunde auf bis zu mehrere Tage verlängern. Angesichts des Krieges muss jedes Häppchen freier Zeit ausgekostet werden.

Kyjiws blasse Sehnsucht nach Lebendigkeit

Ende Mai terrorisieren die russischen Truppen vor allem die Regionen im Süden und Osten des Landes. In der Hauptstadt Kyjiw hat es seit drei Wochen keine Raketenangriffe mehr gegeben. Wenn die Sirene den Luftalarm verkündet, läuft kaum jemand in die omnipräsent ausgeschilderten Schutzräume. Die Metropole und ihre Menschen holen sich schrittweise zurück, was ihnen der versuchte russische Sturm Ende Februar genommen hatte: das Stadtleben und seine Lebendigkeit. Käffchen im Café, Bierchen in der Bar, mit Freunden am Dnipro-Ufer spazieren. Die Sommermode liebt patriotische gelb-blaue Kombis und Camouflage-Anzüge.
 

„Kiew“ ist die deutsche Version des russischen Namens der ukrainischen Hauptstadt. Auf Ukrainisch heißt es Київ (Kyjiw). Spätestens seit der Invasion ist die Bezeichnung „Kiew“ zu einem symbolischen Überbleibsel der russisch-sowjetischen Kolonialisation geworden. Respektvoller ist es, die Hauptstadt der Ukraine als „Kyjiw“ zu transkribieren. Dasselbe gilt für Lwiw − ukrainisch Львів, russisch Львов | Anm. d. Red.

Neben der Cocktail-Bar im Stadtzentrum türmen sich Sandsäcke und Barrikaden-Gerümpel zu einem Kontrollpunkt auf. Hier verfolgen Uniformierte von Armee, Polizei und Territorialverteidigung das urbane Leben. Manche Straßen sind gesperrt. Schutzgräben säumen große Straßenkreuzungen, wo vor drei Monaten russische Panzer vorfuhren. Mehrere große Parks sind noch geschlossen, bis sie entmint werden. Im Zentrum steht zerstörte russische Militärtechnik aufgereiht zur Straßenausstellung. Mancher Panzer riecht noch nach Feuer und Benzin. Spazierende Familien, Jugendliche und Ältere stecken ihre neugierigen Nasen in die Waffenwracks. Der Krieg ist hier, in jedem Moment. Auf den zweiten Blick zu sehen, noch schwerer zu verdauen.
  Etwa zwei Drittel der Kyjiwer Bevölkerung sind jetzt in der Stadt, nach Ausbruch des Kriegs waren es in den ersten Wochen nur rund 15 Prozent. Stundenlange Staus, wie sie zu Friedenszeiten normal waren, gibt es in der Metropole weiterhin nicht. Viele Menschen kehren zurück, obwohl man ihnen davon abrät: Denn es gibt nicht genug Arbeit, nicht genug Benzin, nicht genug Lebensmittelvorräte und für alles sehr hohe Preise. Und dazu die große Befürchtung, dass doch bald wieder russische Raketen ins Zentrum der Hauptstadt krachen könnten.

Viele Gesichter sind blass, haben den frühen Frühling verpasst − in Metro-Stationen oder Kellerräumen oder Evakuierungszügen und Flüchtlingsunterkünften. Alle Gespräche drehen sich um eins: den Krieg. Wie geht es den Bekannten und Verwandten in der Ferne, im Osten, in der Okkupation? Was jetzt tun, um zu helfen, zu unterstützen? Wegfahren, bleiben? Ob auf Ukrainisch, Englisch oder Russisch − der Tenor ist: Wir wollen leben, dafür kämpfen wir. Wir wollen uns verteidigen, darum bitten wir um schwere Waffen. Wir leiden jetzt, aber wir werden das durchstehen. Und gewinnen. Und wieder aufbauen. Und unsere Zukunft selbst bestimmen.

Lwiws verstecktes Schwanken zwischen Leben und Tod

Auf der Allee der Freiheit in Lwiw spielt ein Straßenmusiker unter dem Denkmal des ukrainischen literarischen Romantikers Taras Schewtschenko die Eurovision-Hymne Stefania der ukrainischen Gruppe Kalush Orchestra: „Mama Stefania, das Feld blüht, aber sie wird grau.“ Minuten später, ein paar Meter weiter spielt eine Jazz-Band um Spenden für die ukrainische Armee. Hunderte Menschen sind an diesem Wochenende in der Altstadt unterwegs. Kaum weniger als zu Friedenszeiten, denn statt der Tourist*innen füllen nun Geflüchtete aus den östlichen Gebieten die Straßen der Unesco-Weltkulturerbestadt. Für sie werden sogar spezielle Stadtrundgänge angeboten.
 
Mai 2022: Straßenmusik im Lwiwer Stadtzentrum − „Stefania“ von Kalush Orchestra in Solo-Version unterm Schewtschenko-Denkmal und eine Jazz-Band sammelt Spenden für die ukrainische Armee.

Die Souvenirläden verkaufen Anti-Kriegs-Merchandising. Manche Geschäfte bitten auf Flyern an den Türen darum, dass doch bitte Ukrainisch statt der Okkupantensprache Russisch gesprochen werden soll. Die Bars sind bis zum Abend gut gefüllt, mit jeder Bier-Runde rutscht aber das Gespräch vom Ukrainischen mehr ins Russische. Noch sitzen auch junge Männer in den Runden, noch sind lange nicht alle an der Front.

Lwiw ist bislang selten Angriffsziel der russischen Angreifer geworden. Sirenengeheul wird darum kaum mehr beachtet als Straßenrauschen oder Vögelzwitschern. Schutzräume sind ausgeschildert − wie in Kyjiw. Durchhalte-Plakate säumen die Verkehrsachsen − wie in Kyjiw. Die wertvollsten Skulpturen und Gebäudemauern sind versteckt unter atmungsaktiver Folie, Holz- oder Metallbrettern. Kulturgüter und Architekturdenkmale werden 3D-gescannt, um im Falle einer Zerstörung nach dem Krieg wieder aufgebaut werden zu können. In der verwinkelten, historischen Altstadt verbreitet sich eine futuristische Baustellenstimmung.
  Das Wetter in Lwiw taumelt zwischen sonniger Hitze und Dauerregen. Die Menschen pendeln zwischen Lebenslust und Totengedenken. Hunderte sammeln sich zu den zahlreichen Gottesdiensten, auch zur Unterstützung der ukrainischen Armee und zum Gedenken der Kriegsopfer. Auf dem jahrhundertealten Lytschakiwski-Friedhof liegen neben österreich-ungarischen, polnischen und ukrainischen Elite-Gruften, den Soldaten-Ehrenreihen für die Verfolgten des Stalin-Regimes und die Kämpfer im Donbas seit 2014 schon jetzt knapp 50 Gefallene des russischen Vernichtungskriegs seit Februar 2022. Auch ihre Gräber sind jetzt ein populäres Spazierziel − zum Weinen, zum wütend Sein, zum Trauern. Denn alle kennen mittlerweile Opfer, alle kennen Kämpfende oder Fliehende. Denn der Krieg ist hier − 24 Stunden am Tag, erst recht während der Sperrstunde. Er ist überall mit den Menschen, wenn auch auf den zweiten Blick. An den Krieg gewöhnt man sich nicht.

Und am frühen Morgen des 5. Juni schlugen erneut fünf Raketen in Kyjiw ein.

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