Hilfsnetzwerke für die Ukraine  Helfen ohne Ende?

Tränenreiches Wiedersehen am polnischen Grenzbahnhof. Auch Ehrenamtliche, die Ukraine-Flüchtende unterstützen, erleben viele emotionale Momente mit.
Tränenreiches Wiedersehen am polnischen Grenzbahnhof. Auch Ehrenamtliche, die Ukraine-Flüchtende unterstützen, erleben viele emotionale Momente mit. Foto: © Peggy Lohse

Seit drei Monaten ist Krieg in der Ukraine. Seit drei Monaten vernichtet die russische Armee Wohngebiete, Schulen, Krankenhäuser und wirtschaftliche Infrastruktur. Seit drei Monaten fliehen Millionen Menschen gen Westen. Seit drei Monaten entstehen dort Hilfenetzwerke, die Spenden sammeln und Flüchtende betreuen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Wie entwickeln sich diese Strukturen? Was motiviert die Freiwilligen? Wie lange reichen die Kräfte und Spenden noch? Unterwegs mit dem internationalen Ukraine Border Collective.

Swetlana und ihre Tochter Ewa sammeln Löwenzahn am Bahnhofvorplatz von Chełm in Ostpolen. Sie sind gerade mit dem Direktzug aus Kyjiw angekommen. „Wir haben dort unser Haus, unseren Garten. Wir lieben Blumen und haben überall welche“, sagt Swetlana wehmütig. Zwölf Stunden Fahrt trennen sie nun von ihren zwei Katzen und ihrem Mann, der bei der Polizei arbeitet. Lange hat sie sich gesträubt, ihr Zuhause zu verlassen. Doch je länger der Krieg − desto größer die Gefahr. In Chełm haben sie Glück: Weil sie eine konkrete Zieladresse bei einer Freundin in Trier haben, können sie direkt mit einem Hilfstransport weiter nach Deutschland fahren. Swetlana ist gerührt: „Wir kommen am Bahnhof an und da stehen überall Übersetzer, es gibt Saft und Brote, wir haben sofort Unterstützung bekommen. Das habe ich nicht erwartet.“
 

„Kiew“ ist die deutsche Version des russischen Namens der ukrainischen Hauptstadt. Auf Ukrainisch heißt es Київ (Kyjiw). Spätestens seit der Invasion ist die Bezeichnung „Kiew“ zu einem symbolischen Überbleibsel der russisch-sowjetischen Kolonialisation geworden. Respektvoller ist es, die Hauptstadt der Ukraine als „Kyjiw“ zu transkribieren. | Anm. d. Red.

Ewa und Mutter Swetlana (rechts) können direkt mit dem leeren Spendenkonvoi mit nach Deutschland fahren, wo sie bei einer Freundin unterkommen werden. Ewa und Mutter Swetlana (rechts) können direkt mit dem leeren Spendenkonvoi mit nach Deutschland fahren, wo sie bei einer Freundin unterkommen werden. | Foto: © Peggy Lohse Seit Monaten sind in ganz Europa Hilfsnetzwerke für Ukrainer*innen in den Kriegsgebieten und auf der Flucht entstanden. Wohlfahrtsverbände und Unternehmen sind darunter wie auch Vereine und engagierte Privatpersonen, die so zu neuen Freundeskreisen und festen Initiativen heranwachsen. Ein solches Beispiel ist das Ukraine Border Collective: Ein Pflegedienst, ein Handwerksmeister und eine Musik-Managerin in Frankfurt (Oder) sowie Dutzende Unterstützende aus der Umgebung, aus Berlin und ganz Mitteldeutschland haben sich zusammengefunden, um Spenden zu akquirieren, Hilfsgüter zu besorgen, diese in die Ukraine zu transportieren und auf dem Rückweg Fliehende mitzunehmen. Sie haben in Chełm an der polnisch-ukrainischen Grenze und an der Kyjiwer Universitätsklinik Partner gefunden, die direkt Bedarfe mitteilen und gelieferte Spenden an diejenigen Orte bringen können, wo sie tatsächlich benötigt werden − in die Vororte der Hauptstadt, aber auch in Kriegsgebiete im Osten der Ukraine.

Social media-Aktionen gegen Spendenmüdigkeit

Am 5. Mai fährt das Kollektiv mit vierzehn Fahrer*innen, sieben Transportern und einem 40-Tonnen-Lkw Spenden in Richtung Ukraine. Im Gepäck: Wasser, Windeln und Fertigsuppen, haltbare Lebensmittel und medizinische Ausstattung. Erstmals ist sogar ein ganzer Rettungswagen für das Kyjiwer Krankenhaus dabei − plus drei Berühmtheiten: Tokio-Hotel-Schlagzeuger Gustav Schäfer, Ex-Bloodhound-Gang-Bassist Jared „Evil“ Hasselhoff und Twitch-Moderator Michael „Krogi“ Krogmann. Letztere werden unterwegs im Online-Livestream von der Initiative berichten und für neue Spenden werben.

Social media ist überall dabei: Wilma, Kerstin und „Krogi” vom Ukraine Border Collective beim Einladen der Ukraine-Spenden in Ostbrandenburg. Social media ist überall dabei: Wilma, Kerstin und „Krogi” vom Ukraine Border Collective beim Einladen der Ukraine-Spenden in Ostbrandenburg. | Foto: © Peggy Lohse Eigentlich wollte Tourmanagerin Wilma solche beruflichen Kontakte nicht für die Ukraine-Hilfsfahrten nutzen. Aber im dritten Kriegsmonat lässt die Spendenbereitschaft nach, während die Nachfrage steigt. „Im Vergleich zu den ersten Kriegswochen sind die Spenden um etwa 75 Prozent zurückgegangen. Gerade habe ich einen Anruf aus Kyjiw bekommen: Die Vorräte sind leer. Vor allem Medikamente fehlen“, erzählt Wilma, die seit Wochen das Ukraine Border Collective koordiniert. Manche Unterstützende verloren ihr Vertrauen in humanitäre Hilfsaktionen, andere haben mit einmaligem Spenden ihr Gewissen beruhigt oder vergaßen den Krieg im Alltag. Der erste Schreckmoment der ersten Kriegstage ist verflogen, die politischen Debatten um militärische Unterstützung verbreiten eine Art Routine und Distanz.

„Deswegen ja meine Verzweiflungstaten in den sozialen Netzwerken“, sagt Wilma etwas gequält. „Um die Menschen daran zu erinnern, dass weiter Hilfe gebraucht wird, und zu zeigen, wie unsere Spenden dann konkret ankommen.“ Sie kann sich zwar jetzt Zeit nehmen für das Ehrenamt, denn die Hauptsaison für Musik-Touren geht erst im Herbst wieder los. Dennoch zehren Organisation, Fahrten und die ständige Medienarbeit natürlich an den Kräften: „Ich habe nicht erwartet, dass es so lange dauern würde. Aber wir dürfen doch jetzt nicht einfach aufhören, oder?“

„Wir tragen das hier alle privat!“

Ein bisschen Erleichterung bringen da Leute wie Kerstin. Sie und ihr Mann betreiben in Podelzig bei Frankfurt (Oder) eine Baufirma und überlassen dem Kollektiv eine geräumige Lagerhalle für die Spendensammlung. „In den ersten Kriegstagen habe ich die Bilder gesehen und gedacht: Wir müssen etwas tun! Seitdem schaue ich mir keine Nachrichten mehr an.“ Wie Kerstin reagierten viele − in ihrer Nachbarschaft, im Faschingsverein und in der Kirche, sodass im Ort mehrere Familien aus der Ukraine privat untergebracht wurden, die ersten Kinder Deutsch-Nachhilfe bekommen und zur Schule gehen. Schwierigkeiten gibt es natürlich: Sprachbarriere, psychische Belastung, zusätzliche Ausgaben für Betriebs- und Nebenkosten. Für Kerstin und die Firma zählt beispielsweise der Arbeitsausfall ihrer Mitarbeitenden, während diese dem Hilfskonvoi mit Gabelstapler beim Beladen helfen − pro Stunde mehr als 100 Euro. Und sie betont: „Wir tragen das hier alle privat!“ Dann schickt sie zwei Hofmitarbeiter zum Bepacken der Spendentransporter.

Einen Sprinter fährt dann Gustav, der eigentlich Schlagzeuger der Band Tokio Hotel ist, aber seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Dauereinsatz als Spendenfahrer. „Von mir in Magdeburg aus bin ich in zehn Stunden an der ukrainischen Grenze − dieser Krieg findet vor unserer Haustür statt“, erklärt er seine Motivation. Über seinen Instagram-Account sammelte er in den ersten drei Wochen so viele Spenden, dass er ab dem dritten Kriegstag jeden zweiten Tag immer wieder Hilfsgüter zum polnisch-ukrainischen Grenzübergang fuhr. Die neue Kooperation mit dem Frankfurter Kollektiv soll jetzt Entlastung bringen.

 
„Eigentlich kennen meine Frau und Kinder das ja, dass ich nicht da bin, von den Touren mit der Band“, erzählt Gustav, während er den schweren Transporter durch Polen lenkt. „Aber durch Corona war es zwei Jahre ruhig, darum hat das mein Familienleben jetzt doch ganz schön durcheinander gebracht.“ Vor dem Ukraine-Krieg war Gustav nie in der humanitären Hilfe engagiert. Das Land kannte er aus den Nachrichten, von Ukrainer*innen in Magdeburg und ein paar Konzerten, die Tokio Hotel dort gespielt haben. Aus der Schule kann er ein paar Sätze Russisch, mittlerweile auch erste ukrainische Floskeln.

Die persönlichen Begegnungen vor Ort sind mittlerweile seine größte Motivation, sagt er, sich mit Spendenabrechnungen fürs Finanzamt und der wegen Hilfsgütereinkäufen überzogenen Kreditkarte zu beschäftigen und dann wieder mit Kaffee, Zigaretten und drei Stunden Schlaf pro Nacht Spenden durch Europa zu fahren. Künftig womöglich auch in andere „erreichbare Krisengebiete“. Denn die Politik enttäusche ihn, setze falsche Prioritäten. „Die Welt ist so krank: Manchmal denke ich, ich mache nicht genug. Dann wieder: Ich mache alles, was ich kann.“ Die eintönig graue Autobahn lässt Raum zum Grübeln. „Ich wünsche mir mehr Spenden, mehr Engagement großer Unternehmen. Und ich hoffe, dass ich keine Angst vor Krieg haben muss. Wenn ich meine schlafende Tochter sehe, dann denke ich: Es gibt doch Weltfrieden.“

Auf den Schnellstraßen hinter Warschau wird die Stimmung lockerer, Witze werden über Walkie-Talkies erzählt. Gustav sendet seiner Tochter Gute-Nacht-Grüße. Und bei der nächtlichen Ankunft in Chełm zeigt sich eine besondere Kraft dieses Graswurzel-Hilfenetzwerkes: Auf dem kaum beleuchteten Parkplatz eines ehemaligen Tesco-Großmarktes, der aktuell mehr als 1500 Notbetten für Flüchtende aus der Ukraine bietet und an diesem Abend auch das Kollektiv und seine bekannten Gäste beherbergen wird, fallen sich die Freiwilligen aus Deutschland und Polen strahlend in die Arme. Zusammen schaffen sie etwas: ein internationales Netzwerk, das auf persönlichen Kontakten und Vertrauen beruht. Am nächsten Morgen werden die Spenden in Lagerräume gebracht, wo sie dann vom Kyjiwer Team abgeholt werden können.
 

Zwischen Spenden und Flüchtenden

In den ersten Kriegswochen kamen in Chełm täglich in fünf Direktzügen aus ukrainischen Metropolen jeweils tausende Flüchtende an, mittlerweile nur noch einige hundert. Aber auch sie wollen untergebracht und versorgt werden: Vielen reicht ein Gratisticket nach Warschau oder weiter gen Westen. Um die Übrigen kümmern sich am Bahnhof ukrainische Studierende und engagierten Chełmer*innen sowie Personal der Kreisverwaltung und Angehörige der polnischen Territorialverteidigung. Die Fäden hält Agnieszka zusammen, die eigentlich in Norwegen arbeitet. Als sie dieses Jahr auf Heimatbesuch war, begann Russlands Krieg gegen die Ukraine. Sie beschloss, in Chełm zu bleiben und zu helfen.

Maciej koordiniert indes die Unterbringung − erst in der Tesco-Sammelunterkunft, dann bei polnischen Familien in Chełm und Umgebung. So wie für Katerina und ihre Tochter Anastasia aus Dnipro: Schon nach einer Nacht haben Maciej und Agnieszka eine Familie gefunden, die die zwei langfristig in ihrem Mehrfamilienhaus unweit des Stadtzentrums aufnehmen kann. Im Erdgeschoss lebt bereits eine ältere Ukrainerin mit zwei Enkeln im Schulalter. Anastasia macht sich gleich auf zum Kennenlernen, während Mutter Katerina noch skeptisch in der Küche steht und sich fragt, wie es nun weitergeht.

Im Nachbarzimmer sitzt mit derselben Frage indes ein älteres ukrainisches Ehepaar aus Ternopil beim Tee. Sie sind gerade aus Deutschland nach Polen zurückgekehrt. Dort, zeigen sie, hatten sie nur Info-Papiere auf Deutsch bekommen, mussten mehrere Wochen in einer Sporthalle schlafen. Niemand habe ihnen da weitergeholfen. Also fuhren sie dorthin zurück, wo die Menschen ihnen offener erschienen. Kein Einzelfall, erzählen die polnischen Freiwilligen immer wieder.

Wir-Gefühl gegen Kriegsangst

Die geografische und kulturelle Nähe, die Ähnlichkeit und Verständlichkeit der Sprachen − all das ist für Helfende und Flüchtende eine wichtige Orientierungshilfe. „Wir haben ja auch eine eigene lange, auch schwierige Geschichte mit der Ukraine“, meint Maciej nachdenklich. „Aber wenn wir ihnen jetzt helfen, dann würden sie uns sicher auch unterstützen, wenn wir Hilfe brauchen sollten.“
 
Für Agnieszka ist auch das entstandene Hilfenetzwerk selbst eine große Motivation: „Wir nennen uns schon ‚Bahnhofsfamilie‘, weil wir uns so zuhause fühlen, wenn wir kurz vor Ankunft der Kyjiw-Züge zum Bahnhof kommen. Wir kannten uns vorher nicht, jetzt sind wir Freunde.“ Diese neuen Beziehungen können stärken: „Am Anfang hatte ich große Angst, dass der Krieg zu uns kommt. Und natürlich weiß niemand, was passieren wird. Aber jetzt habe ich eigentlich keine Angst mehr, jetzt habe ich viel zu tun.“

Ausblick: Was kommt nach dem Ankommen?

Und die benötigte Unterstützung wird auf absehbare Zeit nicht weniger werden, das ist allen klar. In Polen werden die einreisenden Ukrainer*innen an der Grenze registriert, die ja auch EU-Außengrenze ist. Dann können sich ukrainische Kinder sofort für Schule oder Kindergarten anmelden, Erwachsene die PESEL-Nummer beantragen, danach Arbeit und eigene Wohnungen suchen. In Deutschland warten Termine bei Migrationsamt, kommunaler Ausländerbehörde, Sozialamt und Jobcenter. Sprachkurse müssen überall gefunden und besucht werden, dem Abrutschen gut ausgebildeter Fachkräfte in ausbeuterische Niedriglohnbereiche muss individuell und strukturell vorgebeugt werden. Viele Freiwillige wissen das und unterstützen schon jetzt oft auch noch als Übersetzer*innen und Begleiter*innen vor Ort.

24 Menschen kann das Ukraine Border Collective dieses Mal mit nach Deutschland nehmen. Dort warten nach dem Ankommen dann viele Ämtertermine auf die Flüchtenden, aber auch auf die Helfenden. 24 Menschen kann das Ukraine Border Collective dieses Mal mit nach Deutschland nehmen. Dort warten nach dem Ankommen dann viele Ämtertermine auf die Flüchtenden, aber auch auf die Helfenden. | Foto: © Peggy Lohse Dennoch: Bevor der deutsche Kollektiv-Spendenkonvoi wieder leer zurück fährt, treffen sich Wilma und ihre Mitstreitenden noch einmal mit den Maciej und Agnieszka vor dem ehemaligen Tesco, um noch 24 Menschen mit konkreten Zieladressen nach Deutschland mitzunehmen. Swetlana und Tochter Ewa sammeln noch einmal frische Blumen für die Fahrt. Die Freiwilligen sind platt, aber froh. Der Livestream mit den eingeladenen Stars und die Medienarbeit rund um den Konvoi werden letztlich rund 9000 Euro einbringen. Zwei Wochen später werden sie wieder mit Medikamenten, Hygiene-Artikeln und Konservenlebensmittel in die Ukraine aufbrechen.
 

Spenden für das Ukraine Border Collective direkt nach Kyjiw und in ukrainische Regionen:
ukraine-border-collective.com

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