Alla und Slawa flüchteten mit ihren drei Kindern vor dem Beschuss aus Charkiw. Sie fanden Zuflucht in einem kleinen Dorf in der Schweiz. Das Dorfleben ist für die Familie, die immer in einer Großstadt gelebt hat, völlig neu. Es ist eine große Herausforderung für sie, sich an das neue Lebensgefühl anzupassen. Die Wärme, mit der die Familie in die Dorfgemeinschaft aufgenommen wurde, tut gut, und dennoch überlegen sie jeden Tag, was sie nach dem Ende des Kriegs tun sollen.
Sonderstatus
Der Herbstmorgen hüllt die gemütlichen Häuser, die Bauernhöfe und die Felder der beiden kleinen Schweizer Dörfer Egolzwil und Wauwil im Kanton Luzern in Nebel. Waren die Dörfer früher vorwiegend landwirtschaftlich geprägt, sind sie heute dank ihrer zentralen Lage zu einem sehr attraktiven Wohnort geworden. Es wird viel gebaut, denn von hier aus erreicht man in bequemer Zeit Basel, Zürich oder Bern.Beatrice Brunner und Käthy Krütli, die örtlichen Aktivistinnen, sind längst pensioniert. Jeden Monat organisieren sie im katholischen Pfarrheim ein „Café International“, eine Begegnungsstätte für die Einheimische und Geflüchtete, die in Egolzwil und Wauwil leben. Unter den Stammgästen sind Frauen aus Afghanistan, aus Syrien, aus Eritrea und vom Balkan. Beatrice kocht für alle Kaffee, und Käthy verteilt Schokokuchen. Die Frauen sitzen rund um einen großen Tisch und unterhalten sich, im Zimmer nebenan spielen die Vorschulkinder, die ihre Mütter begleitet haben.
Beim ersten Besuch des „Café International“ konnte die 37-jährige Ukrainerin Alla noch nicht viel über sich erzählen. Sie gab in Google Maps „Charkiw“ ein und zeigte, wie nahe die Stadt an der russischen Grenze liegt. Heute aber, nach einigen Monaten im Deutschkurs, kann Alla mit ihren neuen Dorfgenossinnen schon ziemlich gut über Alltagsthemen plaudern.
![Beatrice Weber Brunner und Alla im „Café International“ Beatrice Weber Brunner und Alla im „Café International“](/resources/files/jpg1191/1-1-formatkey-jpeg-w983.jpeg)
In der Schweiz wird immer noch über den Sonderstatus der ukrainischen Geflüchteten gestritten. Tatsächlich haben die Ukrainer*innen mehr Möglichkeiten bekommen, zum Beispiel gab man ihnen generell eine Arbeitserlaubnis, die es für Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan bis heute nicht gibt. „Der Hauptgrund dafür ist, dass sich die Ukrainer*innen viel leichter ins gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben der Schweiz integrieren können“, kommentiert Käthy. „Man erwartet Außerdem, dass die meisten von ihnen nach Kriegsende wieder heimkehren. Meiner Meinung nach sollte die Schweizer Regierung aber allen Geflüchteten die gleichen Rechte gewähren!“
Nun muss ich ständig um Hilfe bitten. Das ist schwer. Das ist für mich, als hätte ich mein Leben nicht mehr im Griff.“
Arbeitserlaubnis – aber keine Arbeit
Obwohl die Ukrainer*innen eine Schweizer Arbeitserlaubnis haben, gelingt es nicht allen, sofort Arbeit zu finden. Gründe dafür sind mangelnde Deutschkenntnisse und fehlende Qualifikation in bestimmten Arbeitsbereichen.Der 48-jährige Slawa, der in Charkiw ein Unternehmen leitete, das Damenbekleidung für herstellte und vertrieb, sucht seit einigen Monaten Arbeit. Seine Anfragen in der örtlichen Bäckerei oder einer Fabrik blieben bisher erfolgslos. Slawa, der Familienvater, und seine Angehörigen bekommen von der Kantonsregierung eine minimale Hilfe. Er schlägt sich mit kleinen Jobs durch, die ab und zu bei benachbarten Bauern anfallen. „In Charkiw hatten wir ein komfortables Leben“, erzählt Slawa. „Haus, Business, Familie, Freunde – das haben wir uns über mehrere Jahre erarbeitet und aufgebaut. Wir hatten unsere Ärzte, unsere Handwerker, unsere Mechaniker, denen ich vertrauen und an die ich mich jederzeit wenden konnte. Es gab kein Problem, das ich nicht lösen konnte. Nun muss ich ständig um Hilfe bitten. Das ist schwer. Das ist für mich, als hätte ich mein Leben nicht mehr im Griff.“
![Die Kinder Sawa, Ksenia und Karolina im Schewtschenko-Park in Charkiw, Sommer 2021 Die Kinder Sawa, Ksenia und Karolina im Schewtschenko-Park in Charkiw, Sommer 2021](/resources/files/jpg1191/2-formatkey-jpg-w983.jpg)
Wir alle wollten, dass sich die Ukrainer*innen hier wie zu Hause fühlen!“
Verschiedene Länder, derselbe Aggressor
Amy Nemes und Tobias Knüsel bewirtschaften zusammen einen Bauernhof in Egolzwil und erziehen zwei Kinder im Vorschulalter. Die Videos aus den ukrainischen Städten, die durch russische Bomben rücksichtslos zerstört wurden, schockierten sie. Und so beschlossen sie, den Ukrainer*innenn irgendwie zu helfen. Amy stammt aus Australien. Sie lebt seit fast zehn Jahren in der Schweiz, daher versteht sie, dass man es hier als Neuankömmling manchmal schwer hat. „Ich hatte noch dazu eine persönliche Motivation, den Ukrainer*innen zu helfen“, erzählt Amy. „Mitte der 1950er Jahre musste die Familie meines Vaters fliehen, als Ungarn von russischen Panzern überrollt worden war. Großmutter erzählte immer, wie schwer es war, ein neues Leben aufzubauen, noch dazu so weit weg von Zuhause. Es ist ironisch und zugleich traurig, dass wir fast 70 Jahre später Geflüchtete aufnehmen, die vor demselben Aggressor geflohen sind.“![Amy Nemes und Tobias Knüsel und die Töchter Ivy und Lily Amy Nemes und Tobias Knüsel und die Töchter Ivy und Lily](/resources/files/jpg1191/3-formatkey-jpeg-w983.jpeg)
Ein Friseurbesuch ist Luxus
Das alte Holzhaus der Familie Knüsel steht an der Hauptstraße des Dorfes. Ein Teil des Gebäudes wird für Wirtschaftszwecke verwendet. Zurzeit ist dort ein Teil der Apfelernte gelagert. Vor dem Haus parkt ein Auto mit ukrainischem Kennzeichen. Fast ein halbes Jahr hat Slawa das Fahrzeug aber nicht bewegt: Es ist einfach kein Geld für Treibstoff da. Alla und Slawa rechnen Benzin in Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs um. Und Lebensmittel sind ihnen wichtiger als Autofahren.Damit die Familie ein bisschen mobiler ist und wenigstens einkaufen fahren kann, sorgte die Sozialvorsteherin von Egolzwil für die Finanzierung von ermäßigten Jahresfahrkarten. Die ersten Wochen nach der Registrierung in Egolzwil fanden Alla und Slawa nicht in ihren gewohnten Lebensrhythmus. Denn solange die bürokratischen Verfahren noch liefen, hatten sie nichts zu tun, konnten nirgends hingehen. Jetzt wird der Wochenablauf der ukrainischen Familie von den Stundenplänen der Kinder und dem Deutschkurs der Erwachsenen bestimmt. Ksenia (15 Jahre), Karolina (11) und Sawa (7) besuchen noch keine allgemeine Schule, sondern lernen in einer Integrationsklasse für ukrainische Kinder. Die paar Freund*innen, die die Geschwister mittlerweile kennengelernt haben, sind ebenfalls ukrainische Geflüchtete.
Zweimal in der Woche fahren die Erwachsenen nach Luzern zum Sprachkurs. Dieser festgelegte Wochenablauf verleiht ihnen das Gefühl einer gewissen Normalität. In Charkiw mussten die Kinder zu ihren Freizeitbeschäftigungen gebracht und von dort wieder abgeholt werden. Sawa ging zum Schwimmen, zum Taekwondo und in den Schachklub. Karolina trainierte ebenfalls Taekwondo und ging zum Schwimmen. Die älteste Tochter Ksenia besuchte einen Tanzkurs. Die Wochenenden verbrachte die Familie gerne auf dem Land in ihrem Wochenendhaus. Manchmal blieben die Kinder bei der Großmutter, so hatten die Eltern ein wenig Zeit für sich. Im Sommer war die Familie oft im Charkiwer Gorki-Park unterwegs. Dagegen sind hier, in diesem kleinen Schweizer Dorf, die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung sehr begrenzt.
![Alla, Karolina, Ksenia und Sawa aus Charkiw im Schweizer Dorf Egolzwil Alla, Karolina, Ksenia und Sawa aus Charkiw im Schweizer Dorf Egolzwil](/resources/files/jpg1191/161-formatkey-jpg-w983.jpg)
Bleiben oder heimkehren?
Die Familie muss sparen, immerzu. Fleisch kaufen sie nur im Sonderangebot, Großeinkauf wird in den preiswerteren Supermärkten erledigt. Vieles an Kleidung haben sie von den Dorfbewohnern bekommen. Alla fällt es schwer, diese lieb gemeinte fremde Hilfe anzunehmen – denn noch vor kurzem haben beide Ehepartner gut verdient und für alle Bedürfnisse der Familie selbst gut aufkommen können. Alla konnte problemlos das Abo für den Fitnessklub bezahlen, ganz zu schweigen von Essen, neuer Kleidung oder den Kosten für die diversen Freizeitaktivitäten der Familie. Slawa vermisst am meisten die Möglichkeit, regelmäßig schwimmen zu gehen.Dass meine Frau und ich keine gemeinsame Lösung finden können, liegt mir schwer auf der Seele. Das zerstört unsere Familie.“
![Alla, Karolina, Ksenia und Sawa auf einem Spaziergang Alla, Karolina, Ksenia und Sawa auf einem Spaziergang](/resources/files/jpg1191/4-formatkey-jpeg-w983.jpeg)
Diese Frage – nach Hause oder nicht – steht zwischen den Partnern. Slawa will nicht zurück. Er ist davon überzeugt, dass ein ukrainischer Sieg keine Garantie dafür ist, dass Russland nicht in einigen Jahren wieder angreift. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das alles noch einmal durchmachen müssen“, sagt Slawa. „Wir werden dort ständig wie auf einem Pulverfass leben. Dass meine Frau und ich keine gemeinsame Lösung finden können, liegt mir schwer auf der Seele. Das zerstört unsere Familie.“
November 2022