Ukrainische Gegenwartsliteratur  Durchhalten und siegen

Durchhalten und siegen - Ukrainische Gegenwartsliteratur Illustration: © Tetiana Kostyk

Die ukrainische Journalistin Sonia Koshkina, Chefredakteurin der unabhängigen Nachrichten- und Analyseplattform LB.ua, war auf der Tagung der tschechischen Schriftsteller*innen-Vereinigung zu Gast. In ihrem Vortrag gab sie einen Überblick über Phänomene und Trends in der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Welche Genres reflektieren den Krieg auf welche Weise? Was für eine Literatur entsteht unmittelbar an und von der Front?

„Ich glaube daran, dass der Mensch nicht nur durchhalten, sondern siegen wird. Denn er ist unsterblich, nicht, weil er unter den Kreaturen allein die einzige nie verstummende Stimme hat, sondern weil er eine Seele und einen Geist hat, beide zu Erbarmen, zu Aufopferung und zu Standhaftigkeit fähig. Die Aufgabe des Dichters und des Schriftstellers ist, das Herz des Menschen zu erheben, indem er ihn an Mut, Ehre, Hoffnung, Stolz und Erbarmen, Mitleid und Opfermut erinnert, an das, was einst seinen Ruhm begründete.“

Das ist ein Fragment aus der Rede, die der große amerikanische Schriftsteller William Faulkner anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 1950 hielt.

Ich denke, dass diese Worte auch von einem ukrainischen Schriftsteller oder Dichter stammen könnten.

„Literatur in den Zeiten des Krieges“ — das ist heute das Thema meines Vortrags. Es ist für mich eine große Ehre, hier auf dieser Bühne stehen zu dürfen.

Ich möchte eines klar stellen: Ich bin keine Schriftstellerin. Ich bin Journalistin, Chefredakteurin und Miteigentümerin eines großen Online-Mediums, das nicht nur von Krieg, Politik und Wirtschaft berichtet, sondern auch über die moderne ukrainische Literatur. Ich selbst habe bis jetzt nur ein Buch veröffentlicht, und selbst das ist eine investigative Dokumentation: Majdan. Eine unerzählte Geschichte (Майдан. Нерозказана історія).

Dennoch habe ich meine journalistischen Möglichkeiten genutzt und für diese Tagung viel recherchiert und über ein Dutzend Interviews mit Literaten, Verlegern, weiteren Akteuren auf dem Buchmarkt und sogar Abgeordneten geführt. Somit sehe ich heute meine Aufgabe darin, Ihnen – mit meiner ganzen journalistischen Pedanterie – die ukrainische Literaturszene zu beschreiben, so wie sie sich momentan darstellt, wie sie sich seit 2014 entwickelt hat und wie sie sich nach dem Sieg gegen Russland weiter entwickeln könnte.

Also, fangen wir an.

Teil eins.
Aktuelle Literaturprozesse in der Ukraine

Die aktuelle Kulturszene erinnert die bekannte ukrainische Literaturwissenschaftlerin, Journalistin und Übersetzerin Iryna Slawinska an die Blütezeit der ukrainischen Kultur in den 1920er Jahren. Die Literatur war damals das Zugpferd dieser Entwicklung, Theater und Musik folgten.

Leider war die Ukraine damals nicht unabhängig, und so kam diese Blütezeit zu einem schnellen, gewaltigen Ende – mit der so genannten Erschossenen Renaissance.

Die Erschossene Renaissance ist ein Sammelbegriff, eingeführt von Jerzy Giedroyc, einem polnischen Schriftsteller, Journalisten und Politiker, dem Herausgeber der wichtigsten polnischen Exilzeitschrift Kultura (1947 - 2000). Mit diesem Begriff bezeichnete Giedroyc Vertreter*innen der ukrainischen intellektuellen und künstlerischen Elite der 20er und 30er Jahre, wie zum Beispiel die Schriftsteller Walerjan Pidmohylnyj, Mykola Kulisch, Mykola Serow, Mykola Chwylowyj, Jewhen Pluschnyk und viele andere mehr. Das Schicksal der meisten von ihnen war tragisch — sie sind im Gulag umgekommen, wurden hingerichtet und aus Lehrbüchern und Monografien gestrichen. Jegliche Veröffentlichungen waren verboten, sogar die Erwähnung ihrer Werke wurde untersagt.

Hundert Jahre später findet eine neue „Renaissance“ in Freiheit und Demokratie statt und mit der Unterstützung des Staates.

In der modernen ukrainischen Literatur ist eine breite Vielfalt von Genres vertreten, von anspruchsvoller Literatur bis zu Krimis, Liebesromanen und Fantasy. Man kann wohl darüber streiten, ob es genügend dieser Genres gibt, aber dabei ist der Standpunkt nicht selten von subjektiven Aspekten geprägt.

Auf jeden Fall wurde in den letzten fünfzehn Jahren viel mehr übersetzt als früher. So sind inzwischen alle wichtigen internationalen Klassiker ins Ukrainische übersetzt und für Leser*innen zugänglich. Vor dem Ausbruch des Großen Krieges im Februar 2022 und der Pandemie fanden in vielen ukrainischen Städten Buchmessen und Literaturfestivals statt, unter anderem das Bücherarsenal in Kyjiw, das Bookforum in Lwiw und Meridian Czernowitz in Tscherniwtsi. Die Verlage haben ihre Neuerscheinungen parallel zu den Literaturevents veröffentlicht und konnten sie so gleich einem großen Publikum vorstellen. Es gab einen großen Andrang bei solchen Events.

Während der Pandemie verabschiedete die ukrainische Regierung ein Programm, um die Impfbereitschaft der Ukrainer zu steigern: Nach der zweiten Impfung erhielt jeder vom Staat 1000 Hrywnia (damals rund 36 Euro). Viele haben diesen Betrag in Bücher investiert. Nachdem das Programm eingeführt wurde, stieg der Umsatz der ukrainischen Buchhandlungen um das Zweieinhalbfache.

Ich weiß noch, wie die Russen gigantische Staatsgelder in ihre Buchindustrie investierten, um damit auch die Ukraine fluten zu können. Im Grunde haben sie unseren Büchermarkt kontrolliert. Das ist keine russophobe Spinnerei, das ist eine Tatsache.“

Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan

Das 2016 eingeführte Importverbot für Bücher von russischen Verlagen (vor allem für die mit einem offensichtlich antiukrainischen Charakter) erwies sich als wichtige Stütze für das ukrainische Verlagswesen. Vor 2016 machten die in Russland verlegten Bücher über die Hälfte der Titel in den ukrainischen Buchhandlungen aus.

Noch einmal: Über die Hälfte der Titel stammte aus Russland!

Das war definitiv ein wichtiger Teil der russischen Außenpolitik, der russischen Kulturexpansion.

Einer der bekanntesten ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan sagt dazu Folgendes: „Selbst in den 90er Jahren, als bei uns fast überhaupt keine Bücher veröffentlicht wurden, und wenn überhaupt nur auf Zeitungspapier gedruckt wurden, flogen die Russen auf Kosten ihres Staates massenweise zu Buchmessen nach Paris, Frankfurt oder New York. Liberale und Konservative, Imperialisten und alle anderen. Sie waren sich der Bedeutung dieses Kulturengagements bewusst.“ Und noch ein Zitat von Zhadan: „Ich weiß noch, wie die Russen gigantische Staatsgelder in ihre Buchindustrie investierten, um damit auch die Ukraine fluten zu können. Im Grunde haben sie unseren Büchermarkt kontrolliert. Das ist keine russophobe Spinnerei, das ist eine Tatsache.“

Ich glaube, diese Erklärung ist aussagekräftig.

Im Juni dieses Jahres hat das ukrainische Parlament zusätzliche Beschränkungen für Bücher beschlossen, die im Aggressorland oder in Belarus herausgebracht wurden. Der Eigentümer und Generaldirektor eines der größten ukrainischen Verlage Folio Oleksandr Krassowitskyj hat das folgendermaßen kommentiert: „Dieses Gesetz beinhaltet zwei wichtige Aspekte. Erstens das Verbot, Autor*innen, die einen russischen Pass besitzen oder besaßen, in der Ukraine zu verlegen. Das betrifft jedoch nicht diejenigen, die in der Sowjetunion gelebt haben und einen sowjetischen Pass oder den des Zarenreichs besaßen. Somit ist die Herausgabe von Autoren wie Bulgakow oder Puschkin keinesfalls gefährdet. Zweitens geht es um das Verbot, in der Ukraine Bücher herauszugeben, die in Nicht-EU-Sprachen übersetzt sind, darunter die Sprachen der Russischen Föderation und der Republik Belarus. Rein praktisch bedeutet das, dass wir die Rechte für das Buch eines modernen englischen Schriftstellers nicht kaufen können, um seine Übersetzung ins Russische zu veröffentlichen. Wir müssen es ins Ukrainische übersetzen lassen. Diese Norm gleicht den Normen, die auch den Buchmarkt in Europa regeln“.

Eine kleine, aber wichtige Fußnote ist, dass nun bereits drei Monate seit der Verabschiedung des Gesetzes vergangen sind, es aber immer noch nicht von Präsident Selenskyj unterzeichnet wurde.

Mein Bericht über die Veränderungen in der ukrainischen Literaturszene wäre unvollständig, würde ich nicht auf die Reform der größten ukrainischen Auszeichnung für Kulturschaffende, den Schewtschenko-Preis, eingehen. Er wird seit 1961 für einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung von Kultur und Kunst verliehen. In der Sowjetzeit wurde er an Künstler*innen des sozialistischen Realismus (und sogar an Nikita Chruschtschow) verliehen. Nach Erlangung der Unabhängigkeit wurde er oft für „jahrelange Tätigkeit“ verliehen und nicht für ein bestimmtes, wirklich herausragendes Werk. Oft wurden weniger bekannte Persönlichkeiten damit ausgezeichnet. Die breite Öffentlichkeit, insbesondere die Literaten*nnen, standen dem Preis sehr kritisch gegenüber. So gab es im Umfeld der Preisverleihungen nicht selten Skandale.

So machte der berühmte ukrainische Schriftsteller Andriy Kurkow, ein Mitglied des Nominierungsausschusses in den Jahren 2008 bis 2010, öffentlich, dass ihm Bestechungsgelder angeboten worden waren. Im Jahr 2011 bat der Schriftsteller Wassyl Schkljar, die Verleihung des Preises so lange aufzuschieben, bis „der bekannte Ukrainophobe“ seinen Posten geräumt habe; er meinte damit den damaligen Bildungsminister Dmytro Tabatschnyk (der nach dem Sturz des Janukowytsch-Regimes 2014 schließlich aus der Ukraine nach Russland floh). Diese Liste ließe sich beliebig erweitern.

Infolgedessen wurde 2016 eine spezielle Kommission gegründet, die direkt dem Präsidenten der Ukraine unterstellt werden sollte, um den Preis zu reformieren. Alle Mitglieder des alten Ausschusses wurden entlassen, eine neue Kommission wurde zusammengestellt und von höchster Ebene genehmigt: Mitglieder wurden der Schriftsteller Serhiy Zhadan, die Schauspielerin Ada Rohowtsewa, der Filmregisseur Myroslaw Slaboshpytskyi, der Künstler Anatoliy Krywolap, die Kunstkritikerin Maria Zadorozhna und einige andere mehr. Im Ausschuss waren nun auch verschiedene Regionen vertreten: Kyjiw, Krywyj Rih, Charkiw, Lwiw und Odesa.

Gemäß der neuen Verordnung hatte jedes Mitglied des Ausschusses das Recht, Kandidaten und Kandidatinnen für die Auszeichnung zu nominieren. Auch Kultureinrichtungen, zum Beispiel der ukrainische PEN-Klub oder die Museumseinrichtung Art Arsenal. Zuvor konnten nur das Kulturministerium, das Staatliche Komitee für Fernsehen und Radio, die Akademie der Wissenschaften, die Akademie der Künste, Künstlerverbände, der Ukrainische Kulturfonds und die Bildungsorganisation Proswita (Просвіта, deutsch: „Aufklärung“) Kandidaten für den Preis nominieren.

Die Verleihung des Preises wurde jetzt zu einem wichtigen Ereignis des ukrainischen Kulturlebens. Jetzt werden damit vor allem Werke und nicht Menschen ausgezeichnet. Im Ausschuss sind allgemein anerkannte Expert*innen. Die Beweggründe für die Vergabe sind inzwischen transparent und verständlich.

Sonia Koshkina auf der Tagung der tschechischen Schriftsteller*inne-Vereinigung Sonia Koshkina auf der Tagung der tschechischen Schriftsteller*inne-Vereinigung | Foto: © David Konečný

Teil zwei.
Literatur und Krieg

Nun möchte ich zu wichtigen Texten, die seit 2014 in der Ukraine erschienen sind, übergehen. Chronologisch.

Die heiße Phase der Revolution der Würde endete am 24. Februar 2014. Das war ein Montag. Am Morgen wurde bekanntgegeben, dass das Regime von Viktor Janukowytsch endgültig gestürzt war, der Diktator war nach Russland geflohen. Er wurde in der Nacht von Sonntag auf Montag von der Halbinsel Krim evakuiert. Ein spezielles Landungsboot der Schwarzmeerflotte der Russischen Föderation transportierte ihn in neutrale Gewässer, wo er an Bord eines russischen Schiffes gehen konnte und so (nach internationalem Recht) auf dem Territorium der Russischen Föderation war.

Die Geschichte seiner Flucht habe ich ausführlich in meinem bisher einzigen Buch Maidan. Eine unerzählte Geschichte (Майдан. Нерозказана історія), das im Februar 2015 erschienen ist, beschrieben. Die Ereignisse im Umfeld der Revolution der Würde waren (und sind) für die junge ukrainische politische Nation systembildend. Daher war es äußerst wichtig, sie aufzuzeichnen und zu verarbeiten.

Wir alle haben gesehen, was auf den Bühnen des Maidans passierte – von Kyjiw bis in die kleinsten Siedlungen im ganzen Land. Wir haben die Reden der Anführer und ihre Aufrufe zum Handeln gehört. Aber keiner von uns hat damals verstanden, was in den hohen Ämtern vor sich ging, wie die Kommunikation zwischen Regierung und Opposition funktionierte, wie Janukowytsch die Entscheidung getroffen hatte, die Integration in die EU abzulehnen, wie darauf wiederum die Oligarchen reagierten, und wer eigentlich befohlen hatte, Gewalt gegen den Maidan anzuwenden.

Alle diese Ereignisse plastisch darzustellen, vor allem zu rekonstruieren, was hinter den Kulissen geschah, das war mein Ziel. „Die Hauptrecherche zu den Ereignissen der Revolution der Würde“ — das ist der Slogan, den mein Verleger für das Buch gewählt hat. Der Slogan traf ins Schwarze. Leider.

Ich sage „leider“, weil ich feststellen muss, dass die Ereignisse im Umfeld der Revolution der Würde in der modernen ukrainischen Literatur bis jetzt immer noch nicht angemessen beschrieben, reflektiert und analysiert wurden.

Hoffentlich wird das noch nachgeholt.

Die Gründe dafür liegen jedoch auf der Hand. Zwischen dem Ende der Revolution der Würde (für dieses Datum hält man, wie ich bereits erwähnt habe, den 24. Februar 2014) und dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, liegen nur zwei Tage. Geben Sie zu, dies ist eine sehr kurze Zeit. Der Sturm auf das Parlament und den Ministerrat der Krim, durchgeführt durch die „grünen Männlein“ [Spöttische Bezeichnung für die russischen Soldaten ohne Rang- und Hoheitsabzeichen, die bei der Invasion der Krim eingesetzt wurden, Anm. d. Red.], fand in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar statt. Seitdem herrscht in meinem Land Krieg.

Die Besonderheit dieses Autors besteht darin, dass er seine Bücher schrieb, ohne Hände und nur mit einem Auge — er schrieb, indem er den Stylus mit einer Prothese hielt.

Aus einer gewissen Logik heraus entstand ein neuer Trend in der Literatur. Und hier möchte ich der Schriftstellerin und Kriegskorrespondentin Jewhenia Podobna, das Wort erteilen, die für ihr Buch Die Mädchen schneiden sich die Zöpfe ab (Дівчата зрізають коси) 2020 den Schewtschenko-Preis erhalten hat. Das Buch handelt von Frauen in der ukrainischen Armee, die an den Kriegshandlungen in der Ostukraine teilgenommen haben. Ich zitiere Podobna:
 
„In diesen acht Jahren sind mehr als 900 Bücher zu Kriegsthemen erschienen – von Romanen bis zu Comics, von Memoiren bis zu Handbüchern, von Reportagen bis zu Kinderbüchern über den Krieg und Fotoalben. Der Kriegsliteraturmarkt ist mit allen möglichen Genres gefüllt. Für jeden Geschmack ist etwas dabei. Die Bandbreite der Autorinnen und Autoren reicht von professionellen Schriftsteller*innen bis zu Volontär*innen und Journalist*innen, wichtig dabei ist, dass das Militär in den Vordergrund getreten ist. Die Kriegsliteratur wurde sowohl zu einem Werkzeug für Reflexion und Selbstpsychotherapie als auch zu einer Quellenbasis für künftige Forschungen.

Einige Verlage brachten ganze Spezial-Reihen zur Kriegsliteratur auf den Markt (zum Beispiel Folio mit einer Sachbuchreihe). Es wurden neue Verlage gegründet, die sich ausschließlich auf Militärliteratur spezialisieren, zum Beispiel der Veteranenverlag DIPA. Ein interessanter Trend: Die Autoren der beliebtesten Bücher über den Krieg hatten vor dem Krieg selbst keinen Bezug zur Literatur. Sie kamen jedoch sofort in die engere Auswahl für renommierte Auszeichnungen und gewannen wichtige Literaturwettbewerbe. Soldat*innen und Volontär*innen, die auf einmal über den Krieg schrieben und die Zuneigung der Leser*innen gewannen, beschäftigten sich dann weiter mit anderen Themen und Gattungen.

So schrieb zum Beispiel der Kriegsteilnehmer Wlad Jakuschew nach seinem ersten Buch über den Krieg noch ein Buch über die ‚graue‘ Archäologie [Es geht um das Hobby, mit einem Metalldetektor Gegenstände zu suchen, Anm. d. Red.]. Waleriy Ananjews (Markus) Buch Spuren auf der Straße (Сліди на дорозі) wurde zu einem Phänomen, da es sich ohne Beteiligung eines Verlags, ohne klare Marketingstrategie – einfach dank der Persönlichkeit des Autors – in wahnwitzigen Auflagen verkaufte. Das Buch Der Welpe (Цуцик) von Witaliy Zapeka, einem Fotografen und Freiwilligen aus Poltawa, der zuvor nie etwas geschrieben hatte, erreichte mehrere Auflagen. Nachdem er im Krieg gewesen war, schrieb Zapeka vier Bücher. Besonders erwähnenswert ist Oleksandr Tereschtschenkos Das Leben nach 16:30 (Життя після 16:30). Die Besonderheit dieses Autors besteht darin, dass er seine Bücher schrieb, ohne Hände und nur mit einem Auge — er schrieb, indem er den Stylus mit einer Prothese hielt. Dieses Buch ist beim Militär als Motivationsbuch sehr beliebt geworden.“

Wenn wir über konkrete Themen sprechen, so gibt es eigentlich wenig Literatur, die direkt den Frontgebieten gewidmet ist. Sie beschäftigt sich wenig mit den Menschen in Donezk und Luhansk, mit der Transformation ihres Bewusstseins nach 2014. Es gibt fast gar nichts über das Leben unter der Besatzung (nur eine Sammlung von Artikeln von Stas Assejew und sein Heller Weg (Світлий Шлях), ein Buch über die Gefangenschaft im Folterlager). Es gibt im Allgemeinen wenig Literatur über diese Regionen (unbedingt zu erwähnen ist aber das bemerkenswerte Buch der Wissenschaftlerin und Zwangsumsiedlerin Elena Stjazhkina, Der Tod von Lew Sesil hatte Sinn (Смерть лева Сесіла мала сенс).“

Wie Sie sehen, es gibt noch viel zu tun.

Nun, der dritte Akzent gilt der Poesie. Auf ihre stürmische Entwicklung weist Iryna Slavinska hin. Ihrer Ansicht nach „gibt es derzeit kraftvolle Stimmen, vor allem sind es weibliche Stimmen: Kateryna Kalytko, Halyna Kruk, Marjana Kyjanowska, Marjana Sawka, Kateryna Babkina und viele andere“.

Teil 3.
Wie geht es weiter?

„Ich denke, dass sich die Rolle der Schriftsteller*innen verändert hat. Schriftsteller*innen müssen nun die ganze Erfahrung wie ein Schwamm aufsaugen, und sie müssen mitten im Geschehen sein. Viele ukrainische Schriftsteller gingen als Freiwillige an die Front. Schriftstellerinnen wurden Sanitäterinnen. Praktisch jeder und jede engagiert sich auf die eine oder andere Weise ehrenamtlich“, sagt der bekannte ukrainische Schriftsteller und Übersetzer Andriy Ljubka. Mit Kriegsbeginn wurde er selbst zum Freiwilligen und hat bereits mehr als vierzig Autos für die Armee gekauft.

„Und nach dem Krieg, wenn wir endlich verschnaufen können, werden wir diese Erfahrung, die wir gemacht haben, nutzen können, um uns an alles zu erinnern, was wir gesehen haben. Der Krieg ist eine große Enzyklopädie der menschlichen Charaktere, der menschlichen Psychologie. Das ist das Material, an dem wir jetzt keine Zeit haben, zu arbeiten, aber später werden wir in der Lage sein, einige Texte darüber zu schreiben. Aber für mich geht das erst nach dem Krieg“, fasst Ljubka zusammen.

Heute ist also die Zeit für Kurzformen: Kolumnen, Essays, Poesie. Als Aufzeichnung von Ereignissen, Stimmungen, Emotionen im „Hier und Jetzt“ sind sie äußerst wichtig.

Im Allgemeinen stimmen ihm seine Kolleg*innen zu. Um an etwas Großem arbeiten zu können, braucht man adäquate Bedingungen. „Natürlich schreibe ich über die aktuellen Ereignisse keine Belletristik“, sagt Serhiy Zhadan. „Ich kann nicht einmal darüber nachdenken, denn die Realität ist bisher viel stärker, viel schrecklicher und viel wahrhaftiger als alle Versuche, sie irgendwie zu reflektieren.“

Heute ist also die Zeit für Kurzformen: Kolumnen, Essays, Poesie. Als Aufzeichnung von Ereignissen, Stimmungen, Emotionen im „Hier und Jetzt“ sind sie äußerst wichtig.

Zudem sind diese Kurzformen dem Leser durchaus zugänglich — sie werden in der Regel im Internet veröffentlicht. Die Veröffentlichung von „großen Büchern“ ist schwieriger, denn die wichtigsten ukrainischen Druckereien und Verlage befinden sich in den Regionen Charkiw und Kyjiw. Ein erheblicher Teil dieser Produktionsanlagen ist beschädigt oder sogar vollständig zerstört worden. Trotz allem beginnt sich schon jetzt das Verlagsgeschäft allmählich zu erholen. Aber das grenzt an ein Wunder und kann noch nicht als der Beginn einer irgendwie gearteten Normalität gesehen werden.

„Oft wird darüber diskutiert, wann der beste Zeitpunkt wäre, um über den Krieg zu schreiben. Sofort oder erst in etwa zehn Jahren, wenn die Emotionen heruntergefahren und die Erfahrungen verarbeitet sind. Meines Erachtens sollte man immer über den Krieg schreiben – wenn man sich als Autor*in dafür stark genug fühlt und den Wunsch verspürt, darüber etwas zu sagen“, meint Jewhenija Podobna. „Wie wird diese Literatur aussehen? In den nächsten Jahren wird es darin sicher viel Schmerz geben. Ganz sicher wird es auch viel Verarbeitung geben. Das Interesse für das Eigene, Authentische wird wachsen, für Persönlichkeiten der Zeitgeschichte und historische Bücher. Zugleich wird die Gesellschaft ein Bedürfnis haben, sich auszusprechen, auszutauschen, deshalb wird die Zahl der Bücher, darunter auch über den Krieg, in der nächsten Zeit wachsen“, betont sie.

Meinerseits erlaube ich mir in die Zukunft zu blicken und eine Vorhersage zu treffen: Die ukrainische Nachkriegsliteratur, das wird die Literatur einer Siegernation sein, daran gibt es keinen Zweifel.

Darin werden sowohl die reine Kriegsthematik, als auch die Verarbeitung der Leiden der Zivilbevölkerung ihren Platz finden, sowie Dokumentationen und die Erfahrung der erzwungenen vorübergehenden Emigration. Eines ist sicher: Im Mittelpunkt dieser Literatur wird der Mensch stehen, seine Bestrebungen und Gefühle, sein Wesen. Aber auch die ukrainische Gesellschaft, die durch diesen Großen Krieg absolut grundlegend und für immer verändert wird.

Zum Schluss möchte ich noch einmal zum Faulkner-Zitat vom Anfang zurückkommen. Genauer gesagt zu seinem ersten Satz: „Ich glaube daran, dass der Mensch nicht nur durchhalten, sondern siegen wird.“ Ich erlaube mir, das umzuformulieren: die Ukraine wird sicher durchhalten, sie wird sicher siegen. Und mit ihr auch die moderne ukrainische Literatur: eine tiefe, vielfältige und reiche Literatur.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Ruhm der Ukraine!
 

Dieser Vortrag wurde am 16. September 2022 auf der Schriftstellertagung in Prag gehalten, die von der tschechischen Schrifsteller*innen-Vereinigung Asociace spisovatelů organisiert wurde.

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