Eine Mehrheit der Slowak*innen wünscht sich im Krieg gegen die Ukraine einen Sieg Russlands! So das Ergebnis einer Umfrage, die im Herbst viel Aufsehen erregte – auch in der Ukraine, wo die Slowakei bislang als engagierte Unterstützerin ukrainischer Interessen galt. Ein Irrtum? Die ukrainische Journalistin Yuliya Bair lebt derzeit als Geflüchtete im slowakischen Košice und teilt ihre subjektiven Beobachtungen.
Dieser Artikel erschien zuerst im ukrainischen Magazin Zbruč. Die zum Teil sehr subjektiven Eindrücke der Autorin geben nicht das Gesamtbild der slowakischen Gesellschaft wieder. Sie dokumentieren jedoch sehr gut, wie gesellschaftliche Diskurse und Konflikte in den Ländern Mittelosteuropas in der Ukraine und von Exil-Ukrainer*innen wahrgenommen werden.
Umso überraschender fielen die Ergebnisse einer Umfrage aus, die zwei kommerzielle Institutionen in Kooperation mit zwei Abteilungen der Slowakischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt hatten. Sie zeigte nämlich: Die Mehrheit der slowakischen Bevölkerung wünscht sich einen Sieg Russlands. Woher rührt diese Dissonanz?
„Welchen Ausgang des Krieges in der Ukraine wünschen Sie sich?“
Ein eindeutiger Sieg Russlands (Rot 1) – Ein eindeutiger Sieg der Ukraine (Blau 10) / Unentschieden (Grau) | Quelle: © Denník N Der Krieg brachte es mit sich, dass ich die Slowakei und das Leben in diesem Land kennenlernen durfte. Bevor ich die slowakische Grenze passierte, wusste ich so gut wie nichts von diesem Land. Erst nachdem ich in gastfreundlichen slowakischen Familien gelebt, Seite an Seite mit slowakischen Freiwilligen, die sich unermüdlich für Ukrainerinnen und Ukrainern einsetzten, gearbeitet hatte, und erst als ich Artikel über vertriebene Ukrainerinnen für The Slovak Spectator, dem einzigen englischsprachigen Portal in der Slowakei, schreiben sollte, stürzte ich mich in einen Crashkurs in slowakischer Sprache, Geschichte, Kultur und Mentalität.
Ohne einen Anspruch auf tiefreichende Analyse der Situation und Perspektiven zu erheben, teile ich meine persönlichen Eindrücke und erlaube mir einige Schlüsse zu ziehen.
Anna Kolesárová – Tragödie als Mahnung
Um Platz zu sparen, verweise ich an dieser Stelle auf einen Wikipedia-Eintrag, und zwar über eine junge Slowakin namens Anna Kolesárová, erschossen 1944 von einem Soldaten der Roten Armee.Es ist ein Schicksal, dass auch viele andere Menschen ereilt hat und gerade jetzt wieder ereilt. In den Hauskellern der von Russen besetzten ukrainischen Gebiete wiederholt sich zur Stunde die Geschichte – allerdings auf noch viel grausamere Art und Weise. Die beiden Schüsse in Kopf und Brust, die Anna Kolesárovás beigebracht wurden, scheinen dagegen beinahe „human“.
„Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs – am 22. November 1944 – endete das Leben eines 16-jährigen Mädchens, das dem Tod gegenüber der Sünde den Vorzug gegeben hat“. Dieser Text, der unter Kolesárovás Bild an der Wand des berühmten (und bezaubernd schönen) Doms der Heiligen Elisabeth in Košice steht, fasst die tragische Geschichte der slowakischen seligen Märtyrerin prägnant zusammen. Desweiteren werden die Tugenden des Mädchens näher beschrieben und gelobt. Ein Pfarrer, der mit Zeug*innen jener Tragödie damals gesprochen hat, ist für diese Beschreibung verantwortlich. Wir erfahren kein Wort über die Person des Täters, keine Details über Kolesárovás Tod. Warum wohl? Nur um die Russophilen nicht zu beleidigen?
Ich sehe mir Fotos an von den hunderten namenlosen Kreuzen an einem der Massengräber im vor kurzem befreiten Isjum. Die Tragödie Anna Kolesárovás könnte durchaus die Geschichte einer der vergewaltigten, verstümmelten, ermordeten und zu Tode gefolterten jungen ukrainischen Frauen sein. Nur in Annas Geschichte liegt die Betonung auf der Religiösität des Opfers, die für die Pilger viel wichtiger ist, als die mahnende Geschichte über die Gräuel der Besatzung verübt von den Apologeten des russischen Imperialismus.
Erst vor vier Jahren, im Jahr 2018, hat Papst Franziskus das Martyrium Anna Kolesárovás anerkannt und das Dekret über ihre Seligsprechung unterzeichnet. Kurz darauf wurde sie während einer feierlichen Zeremonie in Košice selig gesprochen. Das Grab des Mädchens ist zu einem Wallfahrtort für die Jugend geworden. Fleißige slowakische Katholiken gedenken an sie, vermeiden es jedoch historische Parallelen zu dem heutigen Krieg zu ziehen. Sie sprechen nicht über die Umstände ihres Märtyrertodes und meiden Vergleiche mit den ukrainischen Opfern der Moskauer Folterknechte.
Slowakische Kunstschaffende und die slowakische Regierung hatten hingegen keine Angst über das ukrainische Butscha zu sprechen und dabei Parallelen zu ziehen.
Anmerkung der JÁDU-Redaktion:
Viele slowakische Katholik*innen und insbesondere das Pastorale Anna-Kolesarová-Zentrum haben sich frühzeitig und eindeutig mit der Ukraine solidarisiert und engagieren sich aktiv in der Hilfe für ukrainische Geflüchtete in der Slowakei.
„Die Russkis schlagen euch alle tot!“
Diesen Satz rief ein älterer sehschwacher Mann mir und meiner fünfjährigen Tochter zu, nachdem er uns Ukrainisch sprechen gehört hatte. Zuvor hatte ich ihm auf seine Bitte hin das Verfallsdatum auf einer Joghurtverpackung vorgelesen. Er war sich nicht einmal zu schade nachzufragen, ob wir aus der Ukraine kämen. Kaum hatten meine Tochter und ich dies bejaht, ernteten wir einen Schwall von Flüchen begleitet von einigen schwachen Stockhieben.Nichts Außergewöhnliches sollte man meinen: Er war eben ein alter, eingefleischter Kommunist, der eine Gelegenheit fand, seinen politischen Standpunkt lauthals zu verkünden. Viele haben ihm freilich nicht zugehört. Anders verhielt es sich bei einer Ansprache des slowakischen Ministerpräsidenten Eduard Heger vor der ukrainischen Gemeinde in Košice. Er sagte: „Wir brauchen keinen Kommunismus. Wir brauchen Demokratie und Freiheit. Heute machen die Ukrainer das, was uns 1968 nicht gelungen ist.“
„Die Russkis waren schon einmal hier“
Die interessantesten Dinge hört man in der erzwungenen Nachbarschaft von irgendwelchen unbekannten Leuten, etwa im öffentlichen Naherkehr. Ich musste oft mit dem Bus zu der Unterkunft fahren, wo die örtliche katholische Kirchengemeinde Dutzende ukrainische Vertriebene betreute. Ich habe sie als ehrenamtliche Dolmetscherin, Sozialarbeiterin und einfach als „verwandte Seele“ unterstützt. Auf den Busfahrten konnte ich viele spannende Gespräche mitanhören. Wenn sich diese Gespräche um die Ukraine drehten, kochten nicht selten meine Emotionen hoch und ich mischte mich ein.„Niemand will Frieden, weder die NATO noch Selenskyj, und die Slowaken haben für deren Krieg zu zahlen. Wir hätten uns nicht einmischen und sie allein gegeneinander kämpfen lassen sollen. Sie kämpfen gegeneinander und bei uns wird alles teuer“, meinte einer der Fahrgäste. Er war davon überzeugt, dass die Preise auf Vorkriegsniveau sinken und die Slowak*innen wieder sorglos leben könnte, sobald die Ukraine an Russland „übergeben“ würde.
Auf meine Frage hin, was er täte, wenn die Besatzer in sein Haus kämen, antwortete er immer wieder stur, dass sie ohnehin nicht kommen würden. Und wenn sie doch kämen, dann würde auch nichts passieren: „Die Russkis waren schon einmal hier – sie haben nichts Schlimmes angerichtet und sind irgendwann wieder weggegangen“. Die anderen im Gespräch beteiligten Fahrgäste, die zuvor seinen Aufforderungen zur Preissenkung eifrig zugenickt hatten, – ehrlich gesagt, die Preise sind hier in der letzten Zeit kaum gestiegen, – haben geschwiegen. Vielleicht fühlten sie sich an die russische Besatzung erinnert beziehungsweise an das, was die Älteren ihnen davon erzählt hatten.
Interessant ist auch der Impfstatus: Die Mehrheit der Befragten, die eine Auffrischungsimpfung (Boosterimpfung) gegen Corona haben, wünschen der Ukraine einen Sieg. Geimpfte, jedoch nicht Geboosterte sind ich ihrer Meinung geteilt. Ungeimpfte hingegen favorisieren einen Sieg des Aggressors. | Quelle: © Denník N
„Euer russischer Mrázik“
Während einer Schulung zur Verbesserung der Bildung ukrainischer Kinder in der Slowakei ging es vor allem um das Thema Inklusion. Bei einer Übung hatten die Teams die Bilder von Märchenfiguren den korrekten Namen zuzuordnen. Einige jener Figuren konnte ich wiedererkennen. Manche hatte ich erst während meines Aufenthalts in Košice kennengelernt, wie etwa Pat und Mat aus der gleichnamigen tschechoslowakischen Puppenserie. Auch Disney-Figuren kamen vor. Die kannten selbstverständlich alle. Es gab unter den Bildern aber auch Figuren, die ich nicht identifizieren konnte. „Wer ist denn das?“, fragte ich meine slowakische Teamkollegin, als ich auf eines der mir fremden Bilder stieß. „Das ist doch euer russischer Mrázik!“, hörte ich daraufhin. Ende der Szene…Bloß keine „ruštinárka“
Es ist wohl erklärungsbedürftig, weshalb ich die Szene genau an der Stelle abgebrochen habe, wo meine Antwort auf die Bemerkung der jungen slowakischen Teamkollegin hätte folgen sollen, nämlich, dass Mrázik und Seinesgleichen nicht zu uns gehören.In den slowakischen Schulen lernen alle immer noch Russisch, ganz wie in den Zeiten, als das Land noch zum „sozialistischen Lager“ gehörte, – nach dem Trägheitsgesetz sozusagen. Dieser Umstand führt ohne Umschweife zum Konsum russischer Kulturgüter. Und das ist der Punkt! Genau hierin besteht das Teuflische an der aufgezwungenen Russophilie. Nehmen wir als Beispiel die für ukrainische Verhältnisse eher kleine Stadt Košice (die Einwohnerzahl ist nur um 30.000 Personen höher als in Bila Zerkwa, einer Stadt in der Nähe von Kyjiw). In Košice sind unzählige Straßen nach russischen Städten benannt oder nach russischen Schriftstellern, die weder in der Stadt gewesen waren noch von ihr gehört hatten. Hammer und Sichel haften nach wie vor an Stelen und sowjetischen Denkmälern.
Die Slowakische Republik ist zwar seit 18 Jahren EU-Mitglied, ist aber der Union beigetreten, ohne eine Entkommunisierung durchgeführt zu haben. Sehr viele Slowak*innen, egal ob jung oder alt, beherrschen Russisch zumindest auf Anfängerniveau. Wenn Fremde meine Tochter und mich Ukrainisch sprechen hörten, versuchten sie manchmal uns eine Freude zu machen, indem sie uns auf Russisch ansprachen. Und sie wunderten sich darüber, dass meine Tochter sie nicht verstand. Einige fühlten sich sogar beleidigt, als ich sie aufforderte, Slowakisch mit uns zu sprechen. Sie wollten uns doch ihr Wohlwollen und ihre Gastfreundschaft zeigen.
Tatsächlich verlor Russisch unmittelbar nach der Samtenen Revolution im November 1989 den Status als Pflichtsprache an slowakischen Schulen. Die meisten Slowak*innen unter 40 Jahren haben daher nie in ihrem Leben Russisch gelernt. Nach dem Englischen war laut EU-Statistiken 2017 die meistgelernte Fremdsprache in der Slowakei Deutsch, auch Französisch und Spanisch erfreuen sich unter Sprachlernenden in der Slowakei größerer Beliebtheit als das Russische.
Die Geflüchteten, mit denen ich gearbeitet habe, konnten ihn schon nachempfinden. Keine*r von ihnen, die oft untereinander und mit den Slowak*innen Russisch sprachen, hat mir jemals gesagt, dass er oder sie kein Ukrainisch verstünde. Alle Ukrainerinnen und Ukrainer verstehen Ukrainisch. Die Kinder aus dem Donbas, die während der Sommercamps viel Zeit mit mir verbrachten, haben irgendwann begonnen in ihrem Alltag Ukrainisch zu sprechen. Ihre Mütter sangen mit mir ukrainische Lieder. Die Rentner*innen drückten mir anerkennend die Hand für meine politische Einstellung. Und einige Kinder aus den ukrainischen Familien weigerten sich, in der Schule Russisch zu lernen.
Ein Blick auf die Karte verrät, dass vor allem die Bewohner der Region Bratislava der Ukraine einen Sieg wünschen; und zwar signifikant mehr als in den anderen Regionen. Auf der anderen Seite des Spektrums stehen die Bezirke Nitra und Prešov. | Quelle: © Denník N
Ohne Illusionen
Meinem persönlichen Eindruck nach, der auf meinen Erfahrungen im Alltag beruht, hat eine große Zahl (vielleicht sogar die Mehrheit) der Slowak*innen den ukrainischen Geflüchteten geholfen und hilft ihnen weiterhin. Im Verhältnis zu den Ressourcen des Staates ist der Umfang der geleisteten Hilfe enorm. Die Slowak*innen halfen und helfen unabhängig von ihrer politischen Einstellung, wobei zu bemerken ist: eine bewusste, eigene politische Position haben nur wenige in der Bevölkerung. Die meisten Slowaken sind verwirrt. Sie haben Angst vor Veränderungen. Die meisten kennen nur das Leben unter dem permanenten ideologischen und kulturellen Einfluss Russlands, manifestiert durch die Vergangenheit der Besatzung, durch die Sprache, durch Toponyme, durch die ununterbrochene Arbeit der russischen Propaganda, die von russischen Agent*innen in der slowakischen Presse und Politik geleistet wird. Ja, es gibt viele Menschen, die naiv glauben, dass die Weltwirtschaft und im gleichen Zuge die slowakische Wirtschaft auf magische Weise zum Vorkriegszustand zurückkehren würden, wenn die ukrainischen Territorien einmal den Besatzern „übergeben“ worden sind. Daher rühren auch die Ergebnisse der Umfrage, die einen klaren Siegeswunsch für die „Moskals“ ausweisen. Aber wir fragen das Opfer mit dem Stockholm-Syndrom nicht, was wir zu tun haben. Wir nehmen es mit dem Aggressor auf, um selber nicht länger Opfer zu sein und für andere als Vorbild zu wirken.Anmerkungen der JÁDU-Redaktion:
Repräsentative Umfragen vor und nach der russischen Invasion in die Ukraine legen nahe, dass der Anteil der Slowak*innen, die sich eine außenpolitische Orientierung ihres Landes nach Westen wünschen, steigt (knapp 40 Prozent im April 2022), langfristig gleich bleibt der Anteil derjenigen, die sich eine Orientierung nach Russland wünschen (etwa 8 Prozent). Zwei Drittel der Befragten gaben im April 2022 an, dass sie Russland als „gefährlichen Staat“ wahrnehmen.
Vor allem junge Slowak*innen kennen mitnichten nur das Leben unter russischem Einfluss. 2019 haben knapp 20 Prozent der Studierenden aus der Slowakei im Ausland studiert. Im OECD-Vergleich ist die Slowakei damit gleich nach Luxemburg das Land mit zweitmeisten Studierenden mit Auslandserfahrung – Tendenz steigend.
Unterstützung für die Ukraine nach Parteipräferenz
OĽANO = Obyčajní ľudia a nezávislé osobnosti (Gewöhnliche Leute und unabhängige Personen) – (53 Sitze im Parlament) – nach den Ergebnissen einer Befragung im September wird die Partei von 7,9 % Slowaken unterstützt.
PS = Progresívne Slovensko (Progressive Slowakei) — (0) – 10,0 %
SaS = Sloboda a Solidarita (Freiheit und Solidarität) (13) – 12,9 %
KDH = Kresťanskodemokratické hnutie (Christlich demokratische Bewegung) – (0) – 6,2%
Sme rodina (Wir sind eine Familie) – (17) – 7,6 %
Hlas (Stimme) (0) – 19,3 %
Republika (Republik) – 0,06 % (0) – 5,2 %
Smer (Richtung) – (38) – 15,0 %
ĽSNS = Ľudová strana Naše Slovensko (Volkspartei Unsere Slowakei) – (13) – 4,2 % | Quelle: © Denník N
P.S.: Der Teufel steckt wie immer im Detail. Die aus ukrainischer Sicht skandalösen Umfrageergebnisse haben vorige Woche [der Artikel wurde am 20.09.2022 online veröffentlicht – Anm. d. Red.] in den slowakischen und somit auch in den ukrainischen Medien für Aufregung gesorgt. Die bereits erwähnte Umfrage wurde jedoch bereits im Zeitraum vom 18. bis 22. Juli 2022 durchgeführt – lange vor der großen Gegenoffensive der Ukrainischen Streitkräfte im Osten und im Süden der Ukraine, als die russischen Einheiten mancherorts chaotisch flohen und anderenorts hilflos versuchten die Zähne zu zeigen. In jedem Fall entfernten sie sich im Krebsgang aus den besetzten Gebieten. Die Umfrage wurde auch durchgeführt, ehe weitere Fakten zu den sadistischen Praktiken der russischen Besatzer bekannt geworden waren. Es wäre durchaus denkbar, dass die Ergebnisse einer ähnlichen Umfrage heute anders bzw. diametral gegensätzlich wären, zumal diese nunmehr vor dem Hintergrund der neuen überraschenden Machtverhältnisse und der neuen Aussichten für die Ukraine stattfände. Voraussetzung dafür wäre freilich, dass die slowakischen und internationalen Medien über die ukrainischen Realitäten angemessen berichten.
September 2022