Viele ukrainische Schüler*innen lernen lieber weiterhin online per Fernunterricht in der Ukraine. Viele Integrationsprobleme ukrainischer Kinder sind die Folge eines unzureichenden Vorgehens des tschechischen Schulministeriums, sagt Anna Demtschuk. In der NGO Nesehnutí arbeitet sie mit Jugendlichen und als Freiwillige engagiert sie sich in der Hilfe für (nicht nur) ukrainische Geflüchtete.
Dieser Artikel erschien zuerst auf der Internetplattform Deník Referendum. Wir bedanken uns für die Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
Ich versuche Max zu beruhigen: Das braucht Zeit und Ausdauer. Ich erinnere mich selbst noch, wie es am Anfang hier für mich war und an die unendlich langen Abende in der Kneipe. Als ich da saß, umgeben von Tschech*innen, ihren Witzen, dem Bier, Witzen über Bier, oder dem Tratschen über Leoš Mareš und Dáda Patrasová [Tschechische celebrities, Anm.d.Red.], deren Namen ich damals zum ersten Mal hörte. Und dann das Gefühl, dass ich nur ein einziges Wort sagen muss, damit alle in Gelächter ausbrechen über mein „niedliches“, angeblich „ein bisschen nach der Region Ostrava klingendes“ Tschechisch.
„Die Jungs sind echt schlau“ fährt Max fort. „Sie sind irre gut und schlau, da komme ich überhaupt nicht ran. Ich versteh auch den Humor nicht. Geschichte oder Physik, das ist easy, das kann ich... Gerade mussten wir einen Aufsatz schreiben, alles gut. Aber die Witze, das ist einfach richtig schwer. Ich muss so gut Tschechisch können, dass ich Witze reißen kann, sonst bin ich out.“
Max ist fünfzehn und kommt aus Melitopol, das zurzeit von Putins Armee besetzt ist. Er ist einer der Teilnehmer*innen des Projekts Sei mein Buddy (Buď můj druh), das ich das letzte halbe Jahr für die NGO Nesehnutí geleitet habe. Dessen Ziel ist es, die Integration junger Ukrainer*innen in die tschechische Gesellschaft zu beschleunigen.
Aber die Witze, das ist einfach richtig schwer. Ich muss so gut Tschechisch können, dass ich Witze reißen kann, sonst bin ich out.“
In den Gesichtern ein paar Jahre älter
„Als wir aus Krementschuk geflohen sind,“ erzählt mir der 17-jährige Artem, ein ernster und zu schnell erwachsen gewordener Junge, der mit seinen Eltern und der kleinen Schwester herkam, „war der ganze Bahnhof voller Menschen und man kam nicht zu den Zügen durch. Wir haben gleich am zweiten Tag gepackt, weil überall die Bomben gefallen sind. Da gab es Panik, Leute haben ihre Kinder durch die Fenster in den Zug gereicht. Auch wir haben es am Ende irgendwie in den Zug geschafft. Die ganze Fahrt nach Lwiw waren wir dann eingeklemmt wie die Sardinen…“ Er lächelt traurig und erzählt von weiteren Schrecken des Krieges.Bei fast jedem unserer Treffen erzählen die Kinder von ihren Erinnerungen an den Beginn des Krieges und davon, was sie erlebt haben. Einige Geschichten höre ich sogar mehrmals. Wie kann sich ein junger, verwirrter Mensch, der solch ein schweres Trauma erlebt hat, in ein fremdes Land einfügen, blitzschnell eine Sprache lernen, sich im Bildungssystem orientieren und neue Freunde finden, wenn die alten zuhause geblieben oder in alle Windrichtungen geflohen sind? Ich schaue in die Gesichter der Kinder und sehe ein Erwachsensein durchscheinen, das da noch gar nicht sein sollte.
Ein halbes Jahr Krieg hat ihnen ein paar Jahre mehr ins Gesicht gezeichnet. Eine gemeinsame Sprache mit den Gleichaltrigen in der Tschechischen Republik zu finden, die andere Sorgen und ihre eigenen sozialen Bindungen haben, ist für sie wirklich schwierig. Auf Jugendlichen aus der Ukraine liegt hier oft auch die Last, den Eltern helfen zu müssen, die Notwendigkeit Geld zu verdienen, und sich um jüngere Geschwister zu kümmern.
In Kombination mit dem Druck, mit der Schulbildung fortzufahren, ist das für verletzliche und unsichere Teenager eine riesige Belastung. Sie benötigen Unterstützung, Verständnis und Rat von Personen, die ihre Probleme verstehen. Aber die Chance, solche Menschen unter Gleichaltrigen zu finden, ist nicht sehr groß.
Sie brauchen das Angebot einer helfenden Hand von Lehrer*innen, Trainer*innen, Beamt*innen, Mitschüler*innen, weil sie alleine keine Chance haben, die Situation zu bewältigen. Bekommen sie die, wie es Premierminister Petr Fiala im Fernsehen behauptet?
„Ich wollte nie Konditorin werden“
Ich sitze mit Lera vor einem Musikclub, in den ich unsere Gruppe aus der Ukraine zu einem Noise-Konzert mitgenommen habe. Lera sehnt sich, wie immer, nach ihrem Leben in Sumy. Sie erzählt mir, wie sie sich vier Tage im Keller versteckte, wie sie die Explosionen hörte, wie sie aber trotzdem nicht weggehen wollte. Wie sie das Tanzen liebt und wie sehr sie wieder nach Hause zurückkehren will.Lera ist fünfzehn, zuhause war sie Teil einer prestigeträchtigen Tanzgruppe, in der sie ihre besten Freundinnen gefunden hatte. Sie wollte etwas mit Fotografie oder Design machen. Hier ist Lera einsam, leidet an Ängsten und es fällt ihr schwer, neue Freund*innen zu finden. Obwohl es in ihrer Stadt immer noch gefährlich ist und sie von Maschinengewehren und Tod träumt, will sie zurück nach Hause.
Ich will nach Hause. Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier mache. Die Schule macht mir keinen Spaß, ich wollte nie Konditorin werden.“
Nächstes Jahr könnte sie es nochmal versuchen, sie hofft aber, dass sie dann schon wieder daheim und dieser Horror für sie vorbei ist. „Gestern habe ich meine Mama gebeten, dass sie mich von der Schule abmeldet. Meine Mitschüler sind ok, aber manche Lehrer und Lehrerinnen mögen uns nicht und zeigen uns das. Als mir eine Mitschülerin im Informatik-Unterricht bei einer Aufgabe geholfen hat, die ich überhaupt nicht verstanden habe, hat die Lehrerin sie ermahnt, dass sie mir nicht helfen soll. Wenn ich schon hier bin, solle ich Tschechisch können oder nach Hause fahren…“, beschreibt sie diese unangenehme Erfahrung, die leider kein Einzelfall ist.
„Oder die Verkäuferin im Schuhladen, die mir keine Schuhe zum Anprobieren geben wollte, solange ich die Zahl 38 nicht richtig aussprechen kann. Nach ungefähr fünf Versuchen hat sie mir welche gegeben, aber in 39…“, erzählt sie.
Eine gemeinsame Sprache mit Gleichaltrigen in der Tschechischen Republik zu finden, die andere Sorgen und ihre eigenen sozialen Bindungen haben, ist für sie wirklich schwierig. | Foto: © Alexandra Šalgunovová
Wozu die Schule da ist
Integration ist eine Bedingung dafür, dass Ankommende die Chance erhalten, gleichberechtigte Mitglieder einer Gesellschaft werden und ihr gesamtes Potenzial zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit nutzen können. Sie ist eine wichtige Voraussetzung für ihre Emanzipation und aktive Beteiligung am gesellschaftlichen Leben.Am einfachsten lässt sich das am Beispiel einer Schulklasse veranschaulichen. Wenn eine neue Mitschülerin in die Klasse kommt, dann werden wir ihr wahrscheinlich gerne erklären, wo die Schulkantine ist, welche Toiletten die besten sind, welche Lehrer*innen wie Freunde sind und bei welchen wir vorsichtig sein müssen. Wir helfen ihr auch, wenn sie eine Aufgabe oder einen Vorgang nicht versteht, leihen ihr unsere Hefte oder laden sie in wichtige Gruppen in den sozialen Netzwerken ein.
Und wenn wir sie mögen, dann weihen wir sie in die Welt des Tratschs und anderer interner Geheimnisse darüber ein, wie man die Schule meistert und überlebt. Wir warten nicht, bis sie selbst danach fragt, denn wir wissen, dass es für jede*n angenehmer ist, von der Gruppe mit offenen Armen empfangen zu werden.
Dasselbe, nur im größeren Maßstab, sollte sich auch in der gesamten Gesellschaft abspielen. Es ist die Bedingung dafür, dass sich hier keine Ghettos oder geschlossene Gruppierungen bilden, in denen die Menschen eher eine parallele, isolierte Existenz leben und nicht in Gemeinschaft und mit Interesse am öffentlichen Geschehen.
Was den Prozess der Integration angeht, ist die Schule eine sehr wichtige Institution. Sie ist nicht nur der Ort, an dem wir das Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern wahrscheinlich vor allem die Beziehungen zu anderen Menschen, die Kommunikation und Zusammenarbeit mit ihnen erlernen. All diese Fähigkeiten sind für ein zufriedenes und erfolgreiches Erwachsenenleben nötig, ob wir nun im Handwerk arbeiten oder Menschen heilen wollen.
Das sind Fähigkeiten, die die Gesellschaft als Ganzes stärken und vereinen – sie machen widerstandsfähiger gegenüber Krisen, politischer Manipulation, Desinformation und allen Formen der Ausbeutung. Die Realität an tschechischen Schulen sieht aber ganz anders aus.
Integration dem System zum Trotz
Viele Lehrer*innen sind nach zwei Jahren Covid erschöpft und oft sich selbst überlassen. Zudem ist ein Teil der Lehrer*innen Verschwörungserzählungen und Desinformation aufgesessen, was besonders im Kontext des Kriegs in der Ukraine gefährlich ist. Dazu erwartet die Lehrer*innen eine zusätzliche Belastung durch die vielen ukrainischen Schüler*innen. Bisher bekommen sie jedoch keine systematische Unterstützung vom Schulministerium.Bildungsminister Vladimír Balaš und Premierminister Petr Fiala lobten sich zu Beginn des Schuljahres selbst, wie gut die Lehrer*innen auf das Schuljahr vorbereitet seien. In Wirklichkeit ist die einzige tatsächliche Veränderung an den Schulen die Einführung eines Tschechisch-Kurses für ukrainische Schüler*innen und Student*innen.
Eine andere methodische, psychische oder finanzielle Unterstützung bekommen die Lehrer*innen in dieser anspruchsvollen Situation nicht. Sie haben weder Supervision noch Raum, um sich über ihre Erfahrungen auszutauschen und sich von ihrer emotionalen Last zu befreien.
Kein Wunder, dass viele entnervt sind, und dass manche ihren Frust schlussendlich an den Schüler*innen auslassen. Integration geschieht unter solchen Bedingungen dem System zum Trotz, nicht dank ihm: Überlastete Lehrer*innen und traumatisierte Kinder müssen selbst herausfinden, wie sie miteinander kommunizieren, sich gegenseitig annehmen können. Und die Kinder auch noch, wie sie neue Freund*innen finden.
Das Bildungsministerium kann im europäischen Vergleich nicht mithalten
Das Bildungsministerium erwartet von den Lehrer*innen, dass sie selbst wissen, wie man ukrainische Kinder miteinbezieht und ihre Integration bewältigt. Es erwartet von Bürgerinitiativen, dass sie methodische Unterstützung und soziale Programme entwickeln. Aber was tut das Ministerium selbst?Vorerst scheint es, als würde es keine bedeutenden Schritte zur Eingliederung dieser großen Zahl von Kindern in das tschechische Schulsystem vornehmen. In manchen Fällen verkompliziert es die Situation im Gegenteil sogar. Gerade erst hat das Ministerium zum Beispiel den Leitungen von Mittelschulen das Recht eingeräumt, darüber zu bestimmen, welchem Jahrgang Schüler*innen zugeordnet werden.
In der Praxis kann das bedeuten, dass ältere Kinder in niedrigere Jahrgänge geschickt werden, was für noch mehr Frustration sorgen, sie demotivieren und ihre erfolgreiche Integration erschweren kann. Für das Schulministerium ist es oberste Priorität, dass ukrainische Kinder Tschechisch lernen – erst danach ihre Bildung. Wie aber Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, führt dieser Weg nicht zum Erfolg. Denn es stigmatisiert ukrainische Kinder in gewissem Maße und kann den Eindruck vermitteln, dass es nicht möglich sei, sie vollwertig in den Unterricht miteinzubeziehen, solange sie kein Tschechisch können.
Andere Staaten Europas verfolgen hinsichtlich der Bildung und Integration ankommender Kinder jedoch einen ganz anderen Ansatz. Ein ausgearbeitetes System sprachlicher Vorbereitung zusammen mit einem inklusiven Ansatz in der Bildung ermöglicht die schnellere Eingliederung der Kinder in den allgemeinen Unterricht.
In Finnland zum Beispiel ist es oberste Priorität, die Kinder in die Gruppen und Klassen einzugliedern. Und neben intensiven Sprachkursen verlässt man sich hier auf Unterrichtsmethoden, die es den Kindern ermöglichen auch ohne perfekte Kenntnisse des Finnischen am Unterricht teilzunehmen.
Finnland unterstützt dabei auch den Unterricht der Muttersprache – ermöglicht damit eine funktionale Zweisprachigkeit, stärkt die bürgerliche Identität der Kinder und gibt ihnen die Möglichkeit, sich im Einklang mit dem eigenen kulturellen Fundament zu entwickeln. Das ist für Kinder, die in einem fremden Land leben, natürlich eine große psychologische Unterstützung.
Fehlende Informationen und Probleme mit der Integration haben zur Folge, dass so viele junge Menschen, die aus vom Krieg zerstörten Städten zu uns kommen, paradoxerweise auf eine schnelle Rückkehr nach Hause hoffen. Viele von ihnen lernen lieber per Online-Unterricht weiterhin an ukrainischen Schulen und planen auch, per Online-Unterricht ukrainische Hochschulen zu besuchen.
Auch Unterschiede im Bildungssystem zwischen beiden Ländern haben ihren Anteil daran. Trotz einer vor kurzem ratifizierten Reform ist die gängigste Bildungsform in der Ukraine eine allgemeine elfjährige, die mit dem Abitur abschließt. Es wäre natürlich in jedem Fall sehr schwierig, für jedes Individuum das entsprechende Bildungsniveau im tschechischen Schulsystem zu finden. Aber die Tatsache, dass das tschechische Bildungsministerium über keine ausgearbeitete Methodik verfügt, macht die ganze Situation erheblich komplizierter.
Obwohl die Tschechische Republik eine große Anzahl Geflüchteter aus der Ukraine aufgenommen hat, weisen die beschriebenen Probleme mit der Integration Jugendlicher darauf hin, dass hier immer noch eine tief verwurzelte Angst vor anderen Kulturen besteht. Es zeigt sich, dass die tschechische Gesellschaft trotz der einmalig unternommenen Anstrengungen heute nicht auf dem Prinzip der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe gegründet ist. Denn sonst wäre sie dazu fähig, mehr wirkungsvolle Instrumente anzubieten, um anderen bei der Verarbeitung ihrer traumatischen Erfahrungen zu helfen und sie in das gesellschaftliche Leben zu integrieren.
Eine solche Gesellschaft baut auf Mitgefühl und wird gestützt durch Menschlichkeit gegenüber allen, ohne jeden Unterschied. Genau daran erinnert übrigens die Äußerung des „Lehrers der Nation“ J. A. Comenius, der sich des tschechischen Schulsystems annahm, dem jedoch nur wenige Beachtung schenkten: „Wir stehen alle im Theater der großen Welt, und was auch immer hier geschieht, es betrifft alle, das gesamte menschliche Geschlecht ist von einem Blut, eine Familie, ein Haus.“
Oktober 2022