Viele Tausende ukrainische Geflüchtete leben seit einem Jahr in Tschechien. Dieser Umstand stellte die tschechische Gesellschaft vor große Herausforderungen. Aber auch in schwierigen Zeiten gibt es Mittel und Wege, Vorurteile zu überwinden und einen Dialog zwischen den Kulturen herzustellen. Ein praktisches Beispiel hierfür liefern Kunstprojekte. Wie diese wirken können, erzählt der ukrainische Migrant und Theatermacher Yerko Krasovskyi.
„In den EU-Staaten leben laut UN-Schätzungen mittlerweile über acht Millionen Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine…“, „Fast ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung wurde zur Flucht gezwungen. Damit ist dies eine der größten Migrationskrisen der Welt…“…Es sind vor allem Zahlen und Schlagzeilen wie diese, die einem ins Bewusstsein dringen. Sie lassen ein imaginäres Zählwerk im Gehirn entstehen, dessen Ziffernrollen sich wild um die eigene Achse drehen. „Ich bin auch eine dieser Ziffern…“, klingt es dann in unserem Kopf, und die Realität dieser Tatsache tritt noch klarer ins Bewusstsein.
Es ist ein ganz normaler Tag auf dem Prager Wenzelsplatz, der im Volksmund auch „Václavák“ genannt wird: Fremde Gesichter strömen an mir vorbei, Tourist*innen lachen vergnügt und die Einheimischen der Stadt sind in angeregte Gespräche vertieft. Ab und an höre ich in diesem Gewimmel ein ukrainisches Wort, einen ukrainischen Satz. Die ukrainische Sprache ist hier sehr präsent, ebenso wie die russische.
Die Tschechische Republik hat über 470.000 Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen. Man könnte meinen, dass diese Unterstützung bedingungslos ist, und der Dialog zwischen beiden Völkern reibungslos funktioniert. Wer so denkt, könnte die Geschichte bemühen: Man denke an die Vertreter der sogenannten Prager Schule ukrainischer Exilliteraten in den 1920er Jahren, an Tomáš Garrigue Masaryks Toleranz gegenüber der ukrainischen Minderheit während der Ersten Tschechoslowakischen Republik, oder an die Welle von Arbeitsmigrant*innen in den Neunziger- und Nullerjahren. Auch die nicht unwesentliche Unterstützung der aktuellen Regierung von Petr Fiala könnte oben erwähnte Annahme untermauern. Doch allen schönen Schlagzeilen und historischen Reminiszenzen zum Trotz, verläuft der interkulturelle Dialog keineswegs problemfrei.
Der Krieg begleitet einen Kriegsgeflüchteten überallhin
Nach dem 24. Februar 2022 mussten sich sowohl Tschech*innen als auch Ukrainer*innen mit einer neuen Erscheinung vertraut machen: den ukrainischen Geflüchteten. Diese hatten nicht nur das Schicksal, ihre Heimat verloren zu haben, sie mussten auch mit den Widersprüchen unterschiedlicher kultureller Prägungen zurecht kommen und so manche falsche Vorstellung über sich und ihr Land korrigieren. Letzteres galt insbesondere für Stereotype, die sowohl unter den Tschechen als auch unter den eigenen Landsleuten kursierten.Die ukrainischen Geflüchteten mussten darüber hinaus erkennen, dass man vor dem Krieg ebenso wenig fliehen kann, wie vor dem eigenen Schatten. Der Krieg begleitet einen Kriegsgeflüchteten überallhin, ganz gleich, wohin man geht, ganz gleich, wo man sich aufhält. Der Kriegsgeflüchtete ist eine Erscheinung des Kriegs, er ist eine Folge des Krieges, er ist der Krieg selbst. Auch wenn es einem im friedlichen Europa so scheinen mag, als habe man den Donner des Krieges hinter sich gelassen, holt er einen doch immer wieder ein, etwa, wenn man in den endlosen Schlangen vor Hilfseinrichtungen und Sozialämtern steht, wenn man die unendliche Müdigkeit in den Gesichtern sieht, wenn man weinende Kinder in den Armen hält, oder wenn einen schlicht und einfach die Kräfte verlassen…
Der Kriegsgeflüchtete ist eine Erscheinung des Kriegs, er ist eine Folge des Krieges, er ist der Krieg selbst.
Es bleibt wohl nur die traurige Feststellung, dass die Ukraine zu wenig für den interkulturellen Dialog mit der Tschechischen Republik getan hat. Es war ein Irrtum zu hoffen, die repräsentative Funktion würde von den Arbeitsmigrant*innen übernommen werden. Diese hatten andere Ziele im Leben. Die Einheimischen wiederum haben von der äußeren Erscheinung und dem nicht immer vorbildhaften Verhalten der ukrainischen Arbeitsmigrant*innen auf alle Ukrainer*innen geschlossen – das hat der Reputation der Ukraine geschadet.
Die Ukrainer*innen wurden dämonisiert
Im Frühherbst 2022 konnten wir uns hier in Prag damit vertraut machen, was hybride Kriegsführung eigentlich bedeutet. Damals wurde der Václavák zum demonstrativen Schlachtfeld zweier Narrative: Während die einen ihre Unterstützung für die Ukraine bekundeten, artikulierten die anderen entgegengesetzte Parolen. Die Rhetorik letzterer reichte von der Empörung über den Anstieg der Energiepreise vor dem Hintergrund der „ungerechtfertigten Bevorzugung ukrainischer Flüchtlinge“ über die Forderung nach der „Aufhebung des temporären Schutzstatus für Ukrainer*innen, damit sie nach dem Krieg nicht in Tschechien bleiben können“ bis hin zum Slogan: „Stopp der planvollen Verwässerung der tschechischen Nation“.Die öffentliche Meinung wurde effektiv manipuliert. Die Ukrainer*innen wurden dämonisiert, sodass deren Bild in der tschechischen Öffentlichkeit Schaden nahm. Die Folge waren offener Hass und Schuldzuweisungen. Selbst für die eigenen wirtschaftlichen Probleme wurden die Ukrainer*innen verantwortlich gemacht. Der Hass war deutlich zu spüren – an der Supermarktkasse, auf der Straße, an Bushaltestellen; an Metro-Waggons waren Schmierereien zu lesen wie: „Petr Fiala ist der Premierminister der Ukraine!“.
Die Risse in der Gesellschaft werden immer tiefer und drohen, alle guten Absichten, alles Menschliche, alle wohlmeinenden Ideen, Programme, Erklärungen, ja, das Leben selbst, in ihre tiefen Abgründe hinabzuziehen.
In meine Gedanken vertieft, verlasse ich den Václavák. Über eine gepflasterte Straße erreiche ich den Hauptbahnhof, einen Ort, an dem jeden Tag Menschen aus allen möglichen Ländern ankommen. Auch viele meiner Landsleute sind hier. Die einen arbeiten bereits in Tschechien, andere sind zum ersten Mal hier, wobei man letztere an ihren ratlosen und irritierten Gesichtern erkennen kann. Wieder jagen Bilder und Gedankenfetzen durch meinen Kopf: Schlagzeilen, Politikergesichter, Phrasen, Versprechungen, Drohungen… Ich spüre, wie sich mein Herz zusammenkrampft. Ich hole tief Luft. Ich will endlich eine Antwort auf die scheinbar so einfache Frage finden: Gibt es tatsächlich keinen Ausweg?
Kunst, die uns verbindet
Im allgemeinen Trubel fällt mein Blick auf eine kleine Gruppe von Menschen, die sich neben einem Stand mit der Aufschrift „Städtische Theater Prag“ versammelt hat. Offensichtlich handelt es sich um Leute, die es nicht eilig haben. Sie stehen zu zweit oder vereinzelt, und gerade weil sie nirgendwohin streben, ziehen sie die Aufmerksamkeit der Passant*innen auf sich. Eine Performance scheint unmittelbar bevorzustehen. Ich schließe mich der Gruppe an. Wir werden dazu angehalten, Kopfhörer aufzusetzen. Es ist der Beginn einer mentalen Reise…Schon mit den ersten Klängen beginnt sich die als bekannt empfundene Realität zu verändern und von einem zu entfernen. In diesem „Stück“ gibt es keine Schauspieler*innen wie im Theater. Nur die Stimmen der Protagonist*innen sind über die Kopfhörer zu vernehmen. Deren Worte und Sätze könnten jeder Passantin, jedem Passanten gehören, die sich da auf dem Bahnsteig drängen. Satz für Satz entfaltet sich die Geschichte, und man wird unmerklich in sie hineingezogen.
Die Geschichte handelt vom Leben vor dem Krieg, dem Leben, das sich irgendwo in Kyjiw abspielt, in den Wohnungen und auf den Straßen, dem Leben mit seinen Sorgen, Träumen und Plänen. Die Geschichte handelt von einem gewöhnlichen Leben, in dem man nicht damit rechnet, dass morgen die Sirenen heulen und alles anders werden könnte. Schritt für Schritt, Klang für Klang, Stimme für Stimme entfaltet sich die Geschichte, die auf den Interviews mit verschiedenen Ukrainerinnen und Ukrainern basiert. Die Interviews, die mitunter wie eine Beichte anmuten, haben eine Gesamtdauer von über 20 Stunden und thematisieren das Schicksal einfacher Menschen, die der Krieg aus ihrem gewohnten Dasein gerissen hat. Die Protagonist*innen führen uns durch den Prager Hauptbahnhof und zeichnen zugleich ihren eigenen Lebensweg nach. Sie tun dies mittels der Fragen und Gedanken, die der Krieg in ihnen ausgelöst hat. Die Protagonist*innen, aber auch wir selbst, werden dazu angeregt, alte Gewissheiten neu zu überdenken und neue Bewertungen anzustellen, über unsere „Erinnerungen“, „Träume“, „die Vergangenheit“, „unerfüllte Wünsche“, „Werte“, „das Wichtige und das Unwichtige“, über „Kleinigkeiten“…
Das beste Heilmittel bei allen Kommunikationskrisen ist die Kommunikation selbst.
Uns wird Gelegenheit gegeben, etwas in uns selbst zu akzeptieren oder uns mit etwas abzufinden, mit dem wir uns aus Angst nicht auseinandersetzen wollen. Wir lernen zu verstehen, dass wir mit unserer Gewissensqual nicht alleine sind, dass auch andere entscheiden mussten, ob sie ihr Zuhause verlassen oder bleiben sollten, dass auch andere, die ihr Zuhause verlassen haben, sich nun fragen, ob sie zurückkehren sollen oder nicht. Wir begreifen, dass wir nicht alleine auf der Suche sind nach einem neuen Sinn im Leben, dass sich auch andere in unserer Lage befinden, dass wir nicht alleine sind mit unserem Wunsch, trotz allem glücklich zu sein, und dass wir nicht alleine sind mit unserem Versuch, weiter nach dem Glück zu streben.
Mit diesen Gedanken beschäftigt, bemerken wir gar nicht, dass die Vorführung bereits zu Ende ist. Die Performance hat allerdings auch gar kein herkömmliches Ende. Die Protagonist*innen verlassen einen leise und unmerklich, und auf einmal findet man sich auf dem pulsierenden Bahnsteig wieder, allein mit den eigenen Gedanken, Fragen und Antworten. Wir vernehmen Musik und das Rattern der Züge. Alle schweigen. Einige meiner Landsleute weinen, andere umarmen sich, wieder andere haben den Blick auf den fernen Horizont gerichtet, wo sich Eisenbahngeleise verlieren. Und dann geschieht etwas kaum Fassbares, lediglich Spürbares, ein magischer Moment: Unser Blick verändert sich. Wir alle scheinen uns näher gekommen zu sein, obwohl wir uns durch Sprache, Kultur und Geschichte unterscheiden... Wir sind uns einig in dem, was uns verbindet: universelle Werte, gemeinsame Bedürfnisse, und der Wunsch, glücklich zu sein.
Wir gehen unserer Wege und langsam verlieren wir die anderen aus dem Blick. Aber etwas ist nicht mehr so, wie es vorher war: Wir haben uns verändert; und alles, was wir dazu gebraucht haben, war ein einfaches Gespräch mit Menschen, denen wir noch nie zuvor begegnet waren. Genau das hat jedem von uns ermöglicht, in sich selbst zu schauen und so die anderen um sich herum wahrzunehmen.
Obwohl wir uns in vielerlei Hinsicht unterscheiden, und Politiker*innen immer wieder versuchen, dies auszunutzen, haben wir stets die Chance, alles, was uns trennt, durch einfache Gespräche zu überbrücken, und dabei einmal mehr zu der simplen Wahrheit zu gelangen, dass das beste Heilmittel bei allen Kommunikationskrisen die Kommunikation selbst ist.
Dank solcher Kunstprojekte haben die Ukrainer*innen die Möglichkeit, sich auf neue Weise zu präsentieren und dem Einfluss der Propaganda entgegenzuwirken. Auch das ist in einem hybriden Krieg überaus wichtig. Auch das sind Bausteine für unseren gemeinsamen Sieg.
Der Audiowalk Різні люди (Rizni liudy, deutsch: Unterschiedliche Menschen) des Theaters uzahvati, dem Vorreiter des immersiven Theaters in der Ukraine, ist das Ergebnis einer Kooperation mit den Städtischen Theatern Prag (Městská divadla pražská). Diese Koproduktion erfolgte im Rahmen des langfristigen Projekts Imagine UA, organisiert vom den Städtischen Theatern Prag. Das Projekt soll ukrainische Kunstschaffende in Tschechien und in der Ukraine unterstützen.
Die Premiere fand am 10. und 11. September 2022 statt. Der Aufführungsort ist der Hauptbahnhof in Prag. Das Stück wird auf Ukrainisch, Tschechisch und Englisch aufgeführt.
Produktionsteam
Drehbuch: Anna Bilenka, Yurii Solonets, Roman Varyvoda
Regie: Polina Baranichenko
März 2023