Butscha ein Jahr nach dem Massaker  Badebomben

Badebomben - Butscha ein Jahr nach dem Massaker
Badebomben - Butscha ein Jahr nach dem Massaker Illustration: © Tetiana Kostyk

Die Stadt Butscha wurde im April 2022 zum Symbol für die Gräueltaten russischer Soldaten an der ukrainischen Zivilbevölkerung. Die Dichterin und Illustratorin Julia Stakhivska ist in Butscha zu Hause. Sie schreibt über die (Un)Vertrautheit des Lebens in dem Kyjiwer Vorort und welch unterschiedliche Facetten das Wörtchen „nur“ haben kann.

Es ist nun ein Jahr her, dass die russischen Truppen aus den Kyjiwer Vororten abgezogen sind. In Hostomel sind Haus und Studio eines mir bekannten Musikers zerstört worden, in Irpin hat die Wohnung einer meiner Freundinnen einen „Dachschaden“ erlitten, und ein Foto von zerstörten Hochhäusern in Borodjanka machte letztes Jahr weltweit die Runde. In Butscha haben die Gebäude weniger gelitten als die Menschen. Ein Außenstehender, der die russische Invasion und die Besatzung der Kyjiwer Vororte nur aus den Medien kennt, würde sich vielleicht wundern, wie schnell diese Städte wieder zum Leben erwacht sind, und wie sich die Menschen an die permanente Gefahr, mit der sie seit einem Jahr leben müssen, angepasst haben. Ich versuche, mit einigen wenigen Strichen das heutige Bild der Stadt zu skizzieren, mit der (Un)Vertrautheit ihres Lebens, mit ihren Erinnerungen und ihrer Symbolik.

Wir alle hier sind einander nähergekommen, zumindest für den Augenblick.“

 

„Nur“

Die Blumenverkäuferin an meiner Haltestelle, bei der ich immer Blumen für zu Hause kaufte, erkennt mich. „Oh, Sie waren aber lange nicht mehr bei uns!“ Sie lächelt erfreut. Sie ist ganz in ihrem Element: Rund um sie herum stehen zarte Blumen. Die Geschichten, die sie zu erzählen hat, sind weniger zart. „Als alles begann, konnte ich es nicht glauben. Die Russen wollen uns angreifen? Wieso denn? Wozu? Ich habe all die Nachrichten für Stimmungsmache gehalten. Als mich um fünf Uhr morgens meine Patentante aus Wasylkiw anrief, um mir mitzuteilen, dass sie bombardiert wurden, habe ich es auch nicht geglaubt. Nach dem Telefonat habe ich entschieden, die Wände fertig zu tapezieren – schließlich war ich sehr früh aufgestanden und musste etwas tun. Als ich aber nach einigen Stunden sah, wie unser Flughafen in Hostomel angegriffen wurde und ein Haus auf dem anderen Flussufer brannte, warf ich alle Papiere und Sachen in Sekundenschnelle auf die Tagesdecke, band sie zusammen und lief mit den Sachen zum Auto. Es gelang uns mit dem Auto wegzufahren. Das war zu diesem Zeitpunkt noch möglich. Nur unsere Garage und der Kleintransporter, der dort stand, und unsere Sommerküche wurden zerstört. Das Haus selbst blieb, Gott sei Dank, unversehrt. Den Sohn unserer Nachbarin haben die Russen entführt. Er ist immer noch in Gefangenschaft, irgendwo in Belarus…“
  Ich nehme die gelben Narzissen und denke an das Wörtchen „nur“. Wie viele Facetten hat es doch, wenn es darum geht zu bestimmen, was wir verloren haben: Die einen haben „nur“ Erinnerungen an getötete und gefallene Angehörige und Freunde, bei den anderen ist „nur“ alles verbrannt, bei wieder anderen haben Splitter „nur“ eine Fensterscheibe durchschlagen. Die Blumenverkäuferin und ich verabschieden uns so, als ob wir lange miteinander befreundet wären: Wir alle hier sind einander nähergekommen, zumindest für den Augenblick.

Die Sonne scheint. Auf dem Weg zum Park stößt man hin und wieder auf krumm stehende Zäune. Es scheint alles wie früher zu sein. An einer Stelle wird ein neues Townhouse gebaut. Die Investoren haben sich wohl entschieden, dieses Risiko einzugehen. Es gibt aktuell viele Menschen, die in Butscha eine Wohnung mieten oder kaufen wollen. Denn der Krieg in der Ukraine dauert an: Im Osten wird gekämpft, ein Teil des Südens ist entweder besetzt oder wird nach wie vor beschossen – die Binnengeflüchteten werden also nicht weniger. In einem Hof findet eine Gedenkfeier für Jurij statt. Jurij hat hier gelebt. Er hat Butscha sehr geliebt. Für jeden Baum in der Stadt hat er sich eingesetzt. Seit den ersten Tagen des Angriffs hat Jurij die Stadt verteidigt. Sein Haus blieb nur halbfertig gebaut zurück. R.I.P.

Die Menschen hier leben ihr Leben weiter. Die einen kommen nie wieder zurück, die anderen sind zurückgekehrt und glücklich.“

Die Menschen begegnen der neuen Realität oft mit Humor

Im Laufe des Jahres und insbesondere zum Jahrestag der Gräueltaten in Butscha besuchten viele offizielle Delegationen die Stadt. Diese Zeichen der Solidarität und des Gedenkens sind sehr wichtig. Einer meiner Bekannten bemerkte ironisch, dass der Kriegstourismus diesen Monat besonders stark gewesen sei. Aber auch diese Ironie ist ein Zeichen für ein gewisses Zurück zur Normalität, für das Streben danach. Die Menschen hier leben ihr Leben weiter. Die einen kommen nie wieder zurück, die anderen sind zurückgekehrt und glücklich. In einem anderen Szenario hätte mein Bekannter kaum Anlass für Ironie. Jeder Besuch, sei es offiziell oder privat, ist Ausdruck der Unterstützung: Wir sind nicht allein.

Der Frühling liegt in der Luft. Die Straßenlaternen leuchten wieder und oben, unter den Wipfeln der Kiefern, sieht man die Sterne am Himmel glänzen. Die größte Gefahr droht gerade vom Himmel. Luftalarm warnt in der Region Kyjiw oft vor Raketenbeschuss und Drohnenangriffen. Zum Glück werden die meisten Objekte abgefangen. Ein Risiko besteht dennoch. Die Menschen, die sich an die neue Realität gewöhnt haben, begegnen der Gefahr nicht selten mit Humor. „Wo soll ich bitte in der Nacht hinrennen und Schutz suchen? Etwa in den Schutzkeller? Ich bleibe lieber zu Hause und nehme ein Bad. Aber keine Kerzen – diese Romantik habe ich seit der Winterzeit mit ihren Stromausfällen ziemlich satt. Möge nur eine Badebombe in meiner Wanne landen!“

Ich betrete die Bibliothek und gebe die Bücher zurück, die ich vor einem Jahr ausgeliehen habe. Heute kommt es mir beinahe unglaublich vor. Nebenan im Co-Working-Raum hängt ein Plakat, das ein Treffen mit der Autorin N. ankündigt. In dem Haus oben, im vierten Stock, wo alle Fenster zu Bruch gegangen waren, wurden neue Fenster montiert. Auf dem Balkon steht eine Frau. Sie trinkt Kaffee und raucht. Sie blinzelt wegen der Sonne und es kommt mir vor, als ob sie lächelt.

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