Die Held*innen hinter den Helden  „Wir machen Witze, damit wir nicht weinen müssen“

Wir machen Witze, damit wir nicht weinen müssen Illustration: © Tetiana Kostyk

Über 100.000 Freiwillige sollen sich im ersten Kriegsjahr den ukrainischen Streitkräften angeschlossen haben. Wie viele im Kampf gefallen sind, ist unbekannt. Andrej war einer von ihnen. Für seine Witwe Anna ist Andrej ein Held. Die Armee wirbt um Männer und Frauen wie Andrej. Doch auch deren Familien und Freunde bringen große Opfer für den Kampf gegen den Aggressor. Wann ist ein Held ein Held?

Auf die Terrasse des Cafés Vanil in einem Wohnviertel südlich von Odessas Stadtzentrum scheint die Sonne. Anna sitzt zusammen mit ihrer Schwester Zheniya bei einer Kanne Schwarztee an einem Tisch neben der Eingangstür. Anna ist 27 Jahre alt, ihr Mann Andrej war ebenfalls 27 als er starb.
 
Anna: Er ist am 27. Juli 2022 als Soldat in der Nähe von Bachmut gefallen. Wir haben einen gemeinsamen Sohn, er ist sechs Jahre alt, sein Name ist Miron.

Annas Stimme klingt sachlich, aber leise, als sie in russischer Sprache ihre Geschichte erzählt. Ihre Körperhaltung ist aufrecht. Dem Gespräch mit der Journalistin hat sie zugestimmt, weil sie es wichtig findet, dass über „diese Dinge“ berichtet wird, sagt sie. Die englischen Fragen versteht Anna selbst, nur das Englisch-Sprechen fällt ihr schwer, deshalb hat sie Zheniya gebeten, sie zu begleiten.

Anna (rechts) und ihre Schwester Zheniya Anna (rechts) und ihre Schwester Zheniya | Foto: © Lieselotte Hasselhoff Eigentlich wohnte Anna mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Polen. Nur Zheniya lebte in Odessa als der Krieg losging. Anna arbeitete in Polen als Reinigungskraft, Andrej arbeitete als Schweißer. Nach ein paar Jahren, wenn sie genug Geld gespart hätten, wollten sie zurückkehren in die Ukraine, in Andrejs Heimatdorf Petrodolynske ein Haus kaufen und ihr eigenes kleines Lebensmittelgeschäft eröffnen. Es war Zufall, dass Andrej eine halbe Woche vor Kriegsausbruch nach Odessa geflogen war, um dort seinen Führerschein erneuern zu lassen.
 
Anna: Er kam am 20. Februar 2022 in Odessa an, am 22. Februar war mein Geburtstag, er war hier und ich war in Polen. Er hatte ein Rückflugticket für den 23. Februar und der Krieg begann am 24. Februar. Aber es gab eine Verzögerung in der Behörde, die den neuen Führerschein ausstellen sollte, und sie sagten ihm, er solle einen Tag später wiederkommen. Andrej kaufte ein neues Flugticket für den 25. Februar, aber die Flughäfen waren seit dem 24. Februar geschlossen.

Zheniya: Andrej versuchte, die Ukraine zu verlassen und nach Polen zu fahren, aber er konnte den Bus nicht nehmen. Das gesamte Verkehrsnetz war zusammengebrochen. Die Menschen liefen durch die Straßen und versuchten, Bargeld von den Bankautomaten zu bekommen, Lebensmittel zu kaufen, es herrschte eine solche Panik. Ich war hier, wir gingen zusammen durch die Straßen, ich und Andrej, Anna war in Polen, alle hier waren in Angst erstarrt. Alle bekamen Anrufe von ihren Verwandten: „Oh nein, der Krieg hat begonnen, was ist passiert? Was sollen wir jetzt tun?“ Es war seltsam, nicht zu wissen, was im nächsten Moment passieren würde.

Vor dem Krieg Anna, Andrej und Miron Vor dem Krieg: Anna, Andrej und Miron | Foto: © privat Anna wollte nie, dass Andrej freiwillig in den Krieg zieht.
 
Anna: Zuerst wusste ich nicht, dass er zum Rekrutierungsbüro gegangen war. Er hat es niemandem erzählt.

Zheniya: Er hat es ihr erst gesagt, als er seine Sachen gepackt hat.

Anna: Als der Krieg anfing, rief er mich an und sagte: „Ich will ein Krieger werden“. Ich sagte: „Nein, ich brauche dich, wir brauchen dich“. Aber er sagte: „Ich habe eine große Familie“. Er hat acht Brüder und er war der Meinung:  „Keiner meiner Brüder kann etwas für das Land tun. Ich bin der Einzige aus meiner Familie, der etwas für die Rettung unseres Landes tun kann, und ich werde es tun.“ Er sagte, er wolle es für unseren Sohn tun. Was ihn inspiriert hat, war unsere Familie, sein Sohn, und er hat die Ukraine, sein Land, sehr geliebt.

Zheniya: Wir alle lieben die Ukraine.

Anna: Andrej ist nie nach Polen zurückgekehrt. Später bin ich zweimal von Polen aus in die Ukraine gefahren. Einmal fuhr ich allein, um ihn zu besuchen, als er im Ausbildungscamp für die freiwilligen Soldaten war. Das zweite Mal fuhr ich mit unserem Sohn Miron hin, um Andrej ein letztes Mal zu besuchen, kurz bevor er nach Bachmut ging. Ende Mai wurde Andrej angeschossen. Er erlitt eine Kopfverletzung und kam ins Krankenhaus.
  Mehr als 100.000 Freiwillige sollen sich wie Andrej allein im ersten Kriegsjahr für den Frontdienst gemeldet haben. Angaben über die Höhe der ukrainischen Verluste unterscheiden sich je nach Quelle stark. Offizielle Informationen dazu sind öffentlich nicht zugänglich. US-Geheimdienstdokumenten zufolge, die Anfang April geleakt wurden, sollen bis März 2023 zwischen 15.000 und 17.500 ukrainische Soldat*innen im Einsatz getötet worden sein. Die Zahl der Verwundeten lag demnach zwischen 109.000 und 113.500.

Zheniya: Ich dachte, das wäre das Ende für Andrej, dass sie ihn nicht mehr in die Armee zurücknehmen würden. Aber er hatte einen Vertrag für ein Jahr unterschrieben. Sie sagten nur: „Oh, du bist jetzt wieder in Ordnung, dann geh zurück“. Und das war sein letzter Einsatz, es ging alles sehr schnell.

Zheniya ist aufgebracht, als sie das erzählt. Sie spricht lauter als ihre Schwester und gestikuliert dabei mit den Händen – als wolle sie dem Schmerz, den Anna selbst nicht offen zeigt, Ausdruck verleihen.

Anna hatte Andrej nach seiner Verletzung im Krankenhaus besucht. Es war das letzte Mal, dass sie ihn lebend getroffen hat.

Zheniya: Andrej wurde auf einer Mission getötet: Sie sollten einen Deserteur einfangen – einen ukrainischen Soldaten, der große Angst hatte und fliehen wollte. Andrej und einige andere bekamen den Auftrag, ihn mit einem Auto zu suchen. Aber als sie zurückkamen, gab es Artilleriebeschuss. Andrej saß am Steuer und wurde getroffen.

Anna: Ich habe einen offiziellen Anruf erhalten und sie haben mir den Screenshot eines Briefes geschickt, in dem steht, dass er gestorben ist, wo er gestorben ist, wann er gestorben ist und um wie viel Uhr er gestorben ist. Es geschah am 27. Juli, am 28. Juli habe ich den offiziellen Anruf erhalten, dass er tot ist. Wir haben Andrej in seinem Heimatdorf Petrodolynske begraben.

Zheniya: Bei der Beerdigung haben sie seiner Mutter eine große Fahne geschenkt.

Anna: Sie haben eine große ukrainische Flagge auf seinem Grab aufgestellt.

Andrejs Grab am Tag der Beerdigung Andrejs Grab am Tag der Beerdigung | Foto: © privat
Zheniya: Es war so – ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Selbst in unserer Sprache weiß ich nicht, wie ich es ausdrücken soll. – Während der Beerdigung knieten alle Leute aus dem Dorf neben dem Sarg nieder. Das ist ein Brauch für gefallene Soldaten. Die Lebenden danken ihnen damit für ihre Taten. Soldaten trugen Andrejs Sarg auf ihren Schultern durch das ganze Dorf. Und alle Leute kamen vorbei. Jeder kannte ihn, jeder wusste, wer Andrej war. Alle liebten ihn.

Anna: Er war ein Arbeiter, er konnte alles machen. Er konnte alles reparieren, was kaputt war. Er konnte mit seinen Händen ein Haus bauen. Dieser Mann konnte alles machen. Und wenn er nicht wusste wie, fand er trotzdem einen Weg. Und er war hilfsbereit. Auch deshalb liebten ihn alle.

Zheniya: Es hat mir an diesem Tag das Herz gebrochen, weil alle auf die Knie gingen, sogar alte Leute, sogar Leute mit Krückstöcken. – Anna weinte nicht, sie konnte nicht. Sie sagte: „Ich werde nicht weinen, Andrej würde es nicht wollen.“ Und ich sagte: „Okay, ich werde an deiner Stelle weinen“. Und ich weinte alle Tränen, die ich hatte. Ich weinte für meine Schwester.

Zheniyas Stimme wird brüchig und ihre Augen beginnen zu glänzen. „Es tut mir leid“, sagt sie und lacht ein wenig. Anna laufen jetzt einzelne Tränen über die Wangen, mit den Fingern wischt sie sie unauffällig fort.

Zheniya: Ja, es ist schwer. Aber ich weine jetzt nicht, weil ich alle meine Tränen bei der Beerdigung gelassen habe. – Als die Prozession zu Ende war, durften wir uns von Andrej verabschieden, und alle kamen, um ihre Hände auf den Sarg zu legen. Auch ich legte meine Hand auf den Sarg und ich konnte sie nicht mehr wegziehen. In dem Moment, als ich meine Hand auflegte, spürte ich mit einem Mal den ganzen Schmerz, der in diesem Sarg war, und dieser Schmerz ging durch mich hindurch, und ich wurde danach für zwei Wochen krank. Ich bin froh, dass Anna ihre Hände nicht auf den Sarg gelegt hat. Denn sie ist sehr sensibel, sehr einfühlsam.

Auf ihrem Smartphone zeigt Anna einen Videozusammenschnitt von der Beerdigungsprozession und der Trauerfeier auf dem Dorfplatz: Es ist ein heller Sommertag, der Himmel ist strahlend blau und langsam ziehen die Soldaten mit dem geschmückten Sarg auf ihren Schultern und die Menschenmenge an einem großen Plakat vorbei, das am Straßenrand steht. Darauf zu sehen ist ein ukrainischer Soldat in Uniform. Zheniya übersetzt den Slogan auf dem Plakat: „Glaubt an die ukrainische Armee“.
  Es ist eines der zahlreichen Mobilisierungsplakate, die im ganzen Land die Hauptstraßen der Städte säumen. Mit Slogans wie „Mach deine Wut zur Waffe“ oder „Gemeinsam nähern wir uns dem Sieg“ werben die ukrainischen Streitkräfte um neue Rekruten.

Die Plakate erinnern wie Mahnmale daran, dass nur einige Hundert Kilometer entfernt ein blutiger Kampf tobt. Meterhohe Schriftzüge wie „Sei mutig wie die Ukraine“ oder nur schlicht „сміливість“ („smiliwist“, deutsch: Mut) appellieren an den Durchhaltewillen der Bevölkerung, und an die Wehrfähigen unter ihnen, sich für den Kampf zu melden. Denn Mut und Widerstandsgeist sind im Laufe der Jahrzehnte Teil des ukrainischen Selbstverständnisses geworden: Im Zuge ihrer Abnabelung von Russland hat die post-sowjetische Ukraine begonnen, ihre eigene Geschichte neu zu erzählen. Zu den Helden zählen die spätmittelalterlichen Kosaken ebenso wie Literaten späterer Jahrhunderte oder die getöteten Demonstrant*innen des Euromaidan 2013/14. Seit Ausbruch der Kämpfe im Donbass im Jahr 2014 gehören auch die Gefallenen, die der russische Angriffskrieg auf ukrainischer Seite gefordert hat, dazu.
 
Ein Video von der Front. Andrej unter Beschuss.
Jede*r getötete Soldat*in wird als Held*in begraben. Denn sie haben sich für ihr Land aufgeopfert. Das zumindest symbolisieren die Fahnen, die den Müttern an den offenen Gräbern ihrer Söhne und Töchter überreicht werden. Sie sollen das Opfer der Gefallenen würdigen. Manche erhalten auch Orden oder die höchste staatliche Auszeichnung „Held der Ukraine“. Andrej bekam keinen Orden.

Auf ihrem Handy zeigt Anna jetzt den Screenshot eines Videocalls zwischen ihr und Andrej.

Anna: Es ist das letzte Foto, das ich von ihm habe.

Zheniya: An jenem Tag, dem 27. Juli, haben Anna und Andrej miteinander gesprochen. Er saß in dem Auto, mit dem er auf seine letzte Mission fuhr.

Anna: Für mich ist ein Held jemand, der nicht nur an sich selbst denkt und nicht nur an seine eigene Familie, sondern auch an die anderen Menschen. Andrej war so jemand. Ich finde, er hätte deshalb einen Orden verdient. Aber wo bleibt dieser Orden? Inzwischen ist fast ein Jahr vergangen, seit Andrej gestorben ist.

Zheniya: Nicht alle unsere Kämpfer sind meiner Meinung nach Helden. Viele Krieger haben Angst – nicht nur Angst, sondern sie verstecken sich vielleicht. Andererseits: Der Krieg ist so furchtbar, so grausam. Ich denke, wir können sie nicht für ihre Angst oder für ihre schlechten Taten verurteilen. Denn wir sind Frauen und wir wissen nicht, wie es ist, mitten an der Front im Krieg zu sein. Wir haben all die grausamen Dinge nicht gesehen, die sie erleben müssen.

Laut Informationen der Ukrainischen Streitkräfte bekleiden rund 30.000 Frauen militärische Positionen in der ukrainischen Armee. 109 von ihnen sind Kommandierende ihrer Einheiten. [Anm. d. Red.]

Anna: Der Krieg verändert die Menschen. Der Krieg zeigt, wer man im Inneren wirklich ist. Auch wenn man nicht an vorderster Front ist. Der Krieg zeigt jedem, wer man ist. Im Fall von Andrej hat der Krieg ihm die Chance gegeben, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Er wurde ein besserer Mensch.

Zheniya: Anna hat uns gesagt, er habe angefangen, über Gott nachzudenken. Er begann zu beten. Er begann, die ganze Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Anna: Er hat sich zum Guten verändert.

Zheniya: Ja.

Mit ironischem Unterton fügt Zheniya hinzu: „Deshalb hat Gott ihn wahrscheinlich zu sich genommen.“ – Noch immer mit Tränen in den Augen beginnen die beiden Schwestern zu lachen.

Anna: Wir machen Witze, damit wir nicht weinen müssen. So ist es etwas einfacher, mit all dem hier zurechtzukommen.

Screenshot des letzten Videocalls zwischen Anna und Andrej. Es war das letzte Mal, dass sie ihn lebend gesehen hat. Screenshot des letzten Videocalls zwischen Anna und Andrej. Es war das letzte Mal, dass sie ihn lebend gesehen hat. | Foto: © privat
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