Die 28-jährige Ukrainerin Olga Zhurba lebt schon seit mehr als einem Jahr in der Slowakei. Sie hat Slowakisch gelernt, einen Job gefunden und versucht nun, ihren Landsleuten zu helfen, die wie sie von einem Tag auf den anderen ihre Heimat verlassen mussten. Dem Krieg ist Olga zwar entkommen, aber ihr Herz und ihre Gedanken sind immer noch in der Ukraine.
Olga hat zwei Hochschulabschlüsse. Bis März 2022 lebte sie mit ihrer Familie in Kyjiw und hatte einen guten Job bei einem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, wo sie PR- und Marketingmanagerin war. Sie hatte viele Freunde, sie lebte so, wie ihre Altersgenossen in der Slowakei. Doch der russische Angriff stellte das Leben der 28-Jährigen auf den Kopf. „Obwohl in den Zeitungen stand, dass wir Notfallpakete vorbereiten sollten, obwohl wir wussten, was an unseren Grenzen passierte, waren wir nicht auf einen Krieg vorbereitet. Meine Freundin wollte zum Beispiel nach Griechenland in den Urlaub fliegen und ihre größte Angst war, dass ihr Flug gestrichen werden könnte. Niemand hat im Traum daran gedacht, dass etwas viel, viel Schlimmeres passieren könnte. Wir lebten ganz normal unser alltägliches Leben und konnten nicht glauben, dass im 21. Jahrhundert so etwas Schreckliches passieren kann. An dem Tag, der mein Leben veränderte, machte ich mich wie immer für die Arbeit fertig. Doch um neun Uhr morgens riefen mich Kollegen an, sie sagten, ich solle nirgendwo hingehen, das Nötigste einpacken und mich in einem Schutzraum verstecken“, erinnert sich Olga an den Tag im März, als ihre Flucht vor dem Krieg in ihrem Heimatland begann. Die russischen Truppen standen damals etwa 20 Kilometer vor Kyjiw und bombardierten das Land, und selbst der größte Optimist konnte erkennen, dass die Lage mehr als ernst war.
Unheimliche Stille
Zunächst versteckten sich Olga und ihre Freunde im Haus von Olgas Eltern. Einfamilienhäuser sind nämlich sicherer als die normalen Wohnblocks und man kann im Notfall schnell in den Keller gehen. „Das, was man in so einem Fall fühlt, kann man Leuten, die das nicht erlebt haben, überhaupt nicht wirklich erklären. Es ist eine totale Angst, die einen völlig lähmt. Diese unheimliche Stille, das Wissen, dass man jeden Moment sterben kann, zum Beispiel wenn man nur schnell in ein Geschäft geht, um so grundlegende Dinge wie Brot oder Wasser zu kaufen. Sirenen, rennen in einen Schutzraum... Ich selbst erlebte regelrechte Panikattacken. Denn ich habe die Raketen, die in die Häuser einschlugen, mit eigenen Augen gesehen. Es war schrecklich. Alles, was man aus Actionfilmen kennt, gab es hier live. Und so etwas live, glauben Sie mir, das wollen Sie nicht", fügt Olga hinzu. Packen konnte sie nur das Allernötigste, so die junge Frau, und nach drei Tagen floh die ganze Gruppe von Kyjiw zunächst raus aufs Land und von dort aus später mit dem Bus in die Slowakei. Auch ihre jüngere Schwester, 20 Jahre alt, war mit dabei. Die Mutter entschied sich schließlich, in Kyjiw bei der Oma zu bleiben, die so eine anstrengende Reise nicht hätte schaffen können.Touristinnengefühl
Olga entschied sich für die Slowakei, weil sie hier Freunde hat. Sie hatten sich im Urlaub kennengelernt, und so hatte sie mehr Glück als viele andere Ukrainer*innen, die im Ausland völlig auf sich allein gestellt sind. Die slowakischen Freunde halfen ihr und ihrer Schwester bei der Wohnungssuche, den Formalitäten und dabei, sich in der Slowakei zurechtzufinden. „Wir erledigten alles Schritt für Schritt. Meine Schwester hat zu Hause Architektur studiert, also suchten wir nach einer Hochschule, die für sie am besten geeignet ist. Ich fing an, mich nach einem Job umzusehen“, erinnert sich Olga. Ihre Schwester studiert jetzt an der Slowakischen Technischen Universität und Olga hat einen guten Job. Zunächst arbeitete sie im Kultur- und Informationszentrum in Bratislava, später fand sie über das ein slowakisches Jobsuche-Portal eine Stelle bei der Bürgervereinigung Mareena, die Geflüchtete unterstützt. „Aber überall waren gute Slowakisch-Kenntnisse erforderlich, und meine Schwester und ich merkten, wie wichtig die Sprache ist. Ab April begannen wir mit einem Slowakisch-Kurs, das waren zwei Stunden pro Tag, und gleichzeitig nutzen wir jede sich bietende Möglichkeit, uns in der Sprache zu unterhalten“, erklärt sie ihr gutes Sprachniveau.Olga und ihre Schwester haben ihren Schilderungen zufolge nur gute Erfahrungen mit den Slowak*innen gemacht. Sie waren in allen Belangen hilfsbereit und beide erfuhren keinerlei Ablehnung oder Anfeindungen. Dennoch fühlt sie sich auch nach fast einem Jahr in diesem Land nicht zu Hause und möchte auch nicht für immer hier bleiben. „Ich fühle mich immer noch wie eine Touristin. Physisch bin ich hier, aber mein Herz und meine Gedanken sind woanders: in Kyjiw. Auch meine Schwester empfindet das so. Man kann einen Job und neue Freunde finden, aber das Haus, in dem man geboren wurde, in dem man seine Eltern, seine Kindheitserinnerungen und seine ganzen Sachen hat – das ist das Zuhause“, sagt sie.
Wer hilft?
Viele Ukrainer*innen, die sich in der Slowakei aufhalten, machen Jobs, die ihnen angeboten werden und die sie zu Hause vermutlich nicht machen würden. Durch selbst verdientes Geld haben sie nämlich mehr Freiheiten, aber ohne perfekte Slowakisch-Kenntnisse finden sie meist keine Stelle, die ihrer Ausbildung entspricht. Olga hat Glück. Sie hat in der Slowakei einen Job gefunden, der sie ausfüllt. Bei Mareena hilft sie ihren Landsleuten, die vor dem Krieg hierher geflohen sind, sich um alle notwendigen Angelegenheiten zu kümmern. Da sie das alles selbst durchgemacht hat, kann sie sehr gut Tipps und Orientierungshilfen geben.Die Bürgervereinigung Mareena ist seit 2015 in der Slowakei tätig. Zunächst in Form der Initiative Kto pomôže? (Wer hilft?), die als Reaktion auf die zunehmende Migration in Europa ins Leben gerufen wurde. Im Jahr 2017 wurde dann die Bürgervereinigung gegründet, die sich aus dieser Initiative entwickelte. Damals konzentrierte sich Mareena natürlich vor allem auf die Unterstützung von Menschen aus Syrien, doch heute sind die Mehrheit der Antragsteller*innen eben Ukrainer*innen auf der Flucht vor dem Krieg.
„Bis Anfang 2022 waren wir auf 15 Mitarbeiter geschrumpft, aber seit letztem Februar sind wir richtig gewachsen. Jetzt haben wir etwa 70 Mitarbeiter, einige von ihnen kommen direkt aus der Ukraine. Außerdem unterstützen uns hunderte Freiwillige, die meisten davon in Bratislava“, erklärt Zuzana Hallová, die Leiterin des Gemeinschaftsprogramms bei Mareena, und fügt hinzu, dass die Bürgervereinigung außer in der Hauptstadt Bratislava auch in Nitra, Košice, Gabčíkovo, Banská Bystrica, Trenčín und auch an der ukrainischen Grenze in Vyšné Nemecky tätig ist. „Wir haben schon tausenden Ausländern geholfen. Die meisten von ihnen kommen derzeit aus der Ukraine, aber wir helfen auch weiterhin Geflüchteten und Migranten aus anderen Ländern. Wir unterstützen Geflüchtete bei ihrer Integration in die slowakische Gesellschaft, wir organisieren Slowakisch-Kurse, unsere Freiwilligen helfen Kindern oft mit der Sprache oder bei der Vorbereitung auf die Schule, und wir versuchen auch jeweils, die slowakische Gemeinschaft vor Ort mit den Neuankömmlingen in Kontakt zu bringen. Ziel ist es, Stereotype und Vorurteile abzubauen und ihnen bei der Integration in die slowakische Gesellschaft zu helfen. Deshalb organisieren wir Gemeinschaftsabende und verschiedene kulturelle Veranstaltungen“, fügt Zuzana Hallová hinzu.
Stolz auf die Ukrainer*innen
Auch Olga organisiert diese Gemeinschaftsabende mit, denn sie möchte, dass die Slowak*innen so viel wie möglich über Geschichte und Kultur der Ukraine erfahren. Dies ist der beste Weg, um Vorurteile abzubauen und die Menschen einander näher zu bringen. Wenn das Schlimmste überstanden ist, wollen Olga und ihre Schwester auf jeden Fall zurück nach Hause. „Nach dem Krieg wartet eine Menge Arbeit auf uns. Alles wird wieder aufgebaut werden müssen, es wird große Veränderungen geben. Und ich fühle, dass ich Teil dieser Veränderungen sein möchte. Ich will nicht erst dann zurückkommen, wenn schon alles fertig ist“, sagt Olga und fügt hinzu, dass sie sehr stolz auf die Ukrainer*innen ist.Viele ihrer Freunde haben enorme Tapferkeit bewiesen. Zum Beispiel zogen ehemalige Manager oder andere hochrangige Personen, die vorher ein recht komfortables Leben führten, in den Kampf, sie haben keine Angst vor harter Arbeit oder Schmutz und helfen bei Evakuierungen. Einige ihrer engen Freunde sind im Krieg umgekommen, was sie natürlich schwer getroffen hat, aber trotzdem gibt sie die Hoffnung nicht auf. „Alle Ukrainer*innen wollen einfach nur, dass der Krieg endlich vorbei ist. Es ist hart, aber ich hoffe, dass unser Volk nicht zu sehr ermüdet und dass wir gewinnen.“
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
Oktober 2023