Die Deutschen liefern Waffen, haben Angst um Sicherheit und machen Unsummen für Aufrüstung locker. Seit Krieg in der Ukraine herrscht, sehen die Deutschen vieles in einem anderen Licht. Verändert das die deutsche Identität?
Perspective Daily – „Für einen Journalismus, der fragt: Wie kann es weitergehen?“
Wir bedanken uns für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.
Natürlich ist diese Metapher überspitzt formuliert und verallgemeinert. Aber tatsächlich beschäftigt sich eine Strömung der Außenpolitikforschung mit der Identität von Staaten – also damit, wie sich Länder selbst wahrnehmen.
Mit Identität und wie sie das außenpolitische Verhalten eines Staates beeinflusst, beschäftigt sich im Besonderen die sozialkonstruktivistische Außenpolitikforschung. Der „Sozialkonstruktivismus“ ist eine der 3 großen Theorieschulen der Internationalen Beziehungen. Daneben gibt es noch den „Realismus“ und den „Liberalismus“, bei denen Identität keine wichtige Rolle spielt.
Ein atypisches Verhalten würde auf viel Gegenwind stoßen.
Ein Beispiel: Die USA sieht sich als auserwähltes Volk, als demokratisches Vorbild und Weltmacht. Demokratie in andere Länder zu „exportieren“, indem man sich zum Beispiel in einen internen Konflikt einmischt, wird somit von einem Großteil der Bevölkerung eher als legitim wahrgenommen. Würde Deutschland im Alleingang in einem Konflikt mitmischen wollen, gäbe es einen Aufschrei – für Deutschlands Identität gilt aufgrund der eigenen Vergangenheit das Gebot der Zurückhaltung. Wenn also in anderen Ländern interveniert wird, dann äußerst bedacht und nur im Rahmen gemeinsamer Aktionen der UNO oder der EU.
So einen Schock erlebte Europa mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Das hat eine Reihe an Umbrüchen in den politischen Entscheidungen europäischer Länder angestoßen. Unter anderem zeigen sich diese Veränderungen darin, wie in der Öffentlichkeit – in Talkshows, Zeitungsartikeln oder von Politiker*innen – über Aufrüstung, Waffenlieferungen und nationale Sicherheit gesprochen wird.
Ich habe einen genaueren Blick auf diese neuen Argumente und Debatten geworfen, die der Krieg in Deutschland – und auf ähnliche Weise in mehreren EU-Ländern – angestoßen hat. Ich möchte verstehen: Wie wandelt sich die öffentliche Meinung zum Thema Sicherheit? Und was macht das mit Deutschlands Identität? Entwickelt sich die zurückhaltende Freundin, die stets versuchte, Kompromisse zu finden, in eine andere Person? Und wenn ja – in was für eine?
Wenn der Kampfmuffel plötzlich über Karateunterricht nachdenkt
Viele europäische Länder entwickeln gerade eine neue Position zum Thema Sicherheit und zur Frage, wie sie bewahrt werden kann. Vor Kurzem hätte Europa geantwortet: Sicherheit und Frieden können vor allem durch Wohlstand, Diplomatie und Zusammenarbeit bewahrt werden. Jetzt nehmen Waffen und Militär wieder mehr Raum im Denken europäischer Regierungen ein.Das zeigt sich etwa am Beispiel von Finnland und Schweden: Zwei Länder, die bislang keinem Militärbündnis angehörten, um ihre „Neutralität“ auszudrücken, reichten im Mai offiziell Beitrittsgesuche bei der NATO ein.
Die finnische Premierministerin Sanna Marin will ihr Land in die NATO führen. | Foto: Laura Kotila | Finnish Government, CC BY 3.0 Zurück zu unserem Freundeskreis. Sowohl die USA als auch Russland waren schon immer eher skeptische Zeitgenoss*innen. Um sich sicher zu fühlen, haben beide von klein auf Karatetraining genommen, um vorbereitet zu sein, sollte sich jemand aus der Clique gegen sie richten.
Andere aus der Gruppe, wie etwa Finnland und Schweden, setzen bei Streit hingegen auf Pazifismus und Neutralität. Sie stellen sich auf keine Seite, versuchen stattdessen, den Konflikt im Gespräch zu überwinden. Ihr Karatetraining vernachlässigten sie, denn sie gingen nicht davon aus, es jemals zu benötigen. Nun wurden die beiden Freund*innen von der Aggressivität Russlands überrascht und bitten die USA eilig, ob sie nicht bei dem Karatekurs mit einsteigen können, den die USA schon lange besucht.
Auch Deutschland stellt seine bisherige Außen- und Sicherheitspolitik infrage. Die Öffentlichkeit diskutiert wieder über Krieg und Frieden. Darüber, ob Deutschland die moralische Pflicht hat, Waffen an ein anderes Land, die Ukraine, zu liefern. Oder wie sinnvoll es ist, mehr Geld für das Militär auszugeben. Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnete das Umdenken als „Zeitenwende“.
„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. [...] Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“
Olaf Scholz, Bundeskanzler
Wann aber passiert ein Wandel in der Gesellschaft? Wann also wird der Karatemuffel Finnland zum Kampfsportchampion?
Damit Finnland die Entscheidung trifft, den Karateunterricht wieder aufzunehmen, muss in seinem „inneren Monolog“ ein neuer Wertekanon dominant werden, der dafür sorgt, dass er äußere Umstände neu interpretiert und andere Schlüsse als früher daraus zieht.
Anders gesagt: Der Diskurs eines Landes muss sich wandeln. Was bedeutet das genau?
Im „inneren Monolog“ eines Landes
Diskurse sind politische Debatten, in denen über ein bestimmtes Thema diskutiert wird. Die oben genannten Debatten über Waffenlieferungen etwa drehen sich um das Thema Sicherheit und lassen sich deshalb als „Sicherheitsdiskurs“ zusammenfassen.Ein Diskurs besteht immer aus verschiedenen Positionen, die das Thema anders interpretieren. Konkret ergibt sich eine Position im Diskurs daraus, dass Argumente mit bestimmten Werten, die der Staat vertritt, verstrickt werden.
Dass Diskurse immer aus Werten und deren unterschiedlichen Interpretationen bestehen, zeigen die unterschiedlichen Argumente, die in Deutschland häufig zum Thema Sicherheitspolitik angebracht werden. Zum Beispiel: „Wir (als liberale Demokratie, die Menschenrechte fördert,) haben die moralische Pflicht, das Leid der Ukrainer*innen zu verringern. Wir müssen daher das Land mit Waffen beliefern, damit sie sich schützen können.“ – Hier wird der Wert der moralischen Verantwortung mit militärischen Mitteln verknüpft.
Eine zweite Position könnte lauten: „Krieg und Waffen verursachen immer mehr Leid. Wir haben die moralische Pflicht, dieses Leid der Menschen zu verringern, und sollten daher keine Waffen liefern“ – in dieser Position wird moralische Verantwortung anders interpretiert und stützt das Argument des Pazifismus.
Diskursforscher*innen nennen solche verschiedenen Positionen „Diskursformationen“.
Einer Studie zufolge gibt es 4 Formationen im deutschen Diskurs zur Außen- und Sicherheitspolitik:
- Die Diskursformation der „unbedingten Zurückhaltung“: Vertreter*innen dieser Strömung argumentieren, Deutschland hätte eine moralische Verantwortung, militärische Mittel und Interventionen im Ausland auf alle Fälle abzulehnen. Sie empfehlen daher, ausschließlich auf Diplomatie zu setzen.
- Die Diskursformation der „bedingten Zurückhaltung“: Diese Gruppierung argumentiert, die moralische Verantwortung müsse darauf abzielen, das Völkerrecht zu wahren. Werde dieses verletzt, sei Gewalt gerechtfertigt, wenn auch als allerletztes Mittel.
- Die Diskursformation der „Westlichen Normalisierung“: Für diese Formation zählt es, ein guter Partner westlicher Bündnisse zu sein. Vertreter*innen dieser Position plädieren dafür, sich den Entscheidungen der NATO anzupassen.
- Die Diskursformation der „Autonomen Normalisierung“: Diese Position betont Deutschlands Verantwortung als „reife“ Demokratie. Ihre Vertreter*innen finden es in Ordnung, wenn Deutschland auch mal eine Führungsrolle einnimmt, und lehnen dementsprechend auch Auslandseinsätze im Alleingang nicht unbedingt ab.
Wer steckt hinter einer Diskursformation?
Innerhalb einer Partei kann es verschiedene Diskursformationen geben. Die Grünen werden oft mit Pazifismus in Verbindung gebracht, sind aber gespalten. Seit den 2000er-Jahren wurden die Grünen laut Glassner empfänglicher für Auslandseinsätze, sofern Menschenrechte verletzt werden. Als sich Deutschland 2011 bei der Abstimmung der UNO darüber, ob im Libyenkonflikt eine Flugverbotszone eingeführt werden sollte, enthielt, übten die Grünen Kritik. Sie argumentierten mit der Verantwortung Deutschlands – ein klassisches Argument der Diskursformation der bedingten Zurückhaltung.
Ein solcher Wandel wurde in Deutschland zum Beispiel 2011 nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima ausgelöst. Die damalige deutsche Regierung sprach danach plötzlich anders über Atomenergie und krempelte ihre Energiepolitik zu großen Teilen um. Von der Bevölkerung erhielt sie für ihre Entscheidung, aus der Atomenergie auszusteigen, mehrheitlich Unterstützung. Ohne diesen externen Schock hätte die Regierung unter Angela Merkel (CDU) diesen Schritt wohl nicht so einfach rechtfertigen können.
Das ist eine wichtige Folge von Diskurswandel: Verschiebt sich der Diskurs oder die Identität eines Staates, verschiebt sich auch das Fenster der möglichen Entscheidungen, die ein Staat treffen kann, ohne dass es von Seiten der Bevölkerung einen Aufschrei gibt.
Wie aus „Nie wieder Krieg“ ein „Nie wieder auf der falschen Seite“ wurde
Eine solche Neupositionierung der Bevölkerung zeigt sich auch nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Dieses Mal zum Thema Aufrüstung, wie Umfragewerte des ARD-Deutschlandtrends zeigen: Über 65 Prozent der Befragten finden es richtig, einen Kredit von 100 Milliarden Euro für die von Olaf Scholz angekündigte Aufrüstung der deutschen Bundeswehr aufzunehmen. Auch Waffenlieferungen an die Ukraine stoßen auf größere Zustimmung: Anfang Februar – vor dem russischen Angriff auf die Ukraine – sprachen sich nur 20 Prozent dafür aus, jetzt finden es hingegen 61 Prozent der Befragten richtig, Waffen an die Ukraine zu liefern.Sebastian Glassner erforscht seit einigen Jahren Diskursverschiebungen. Der Dozent und Doktorand am Lehrstuhl für Internationale Politik der Universität Passau sagt zu den derzeitigen Entwicklungen in Deutschland: „Im deutschen sicherheitspolitischen Diskurs gab es schon immer die Seite, die für mehr Aufrüstung plädiert hat. Sie war aber einer sehr dominanten pazifistischen Strömung unterlegen.“
Historisch gesehen war dieses pazifistische Narrativ in Deutschland lange Zeit vorherrschend. So war „Nie wieder Krieg“ die Forderung der Friedensbewegung nach dem Ersten Weltkrieg, die sich gegen den Einsatz und die Weiterverbreitung von Waffen stellte. Besonders prominent machte den Spruch die deutsche Künstlerin und Friedensaktivistin Käthe Kollwitz mit einem ihrer bekanntesten Kunstwerke aus dem Jahr 1924.
Wie sich der Wandel im Verantwortungs- und Sicherheitsdiskurs jedoch verändert, zeigt ein Beispiel aus den sozialen Medien.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock twitterte am 8. Mai, der Gedenktag der Nazikapitulation und des Endes des Zweiten Weltkriegs solle daran erinnern, „#NieWieder auf der falschen Seite zu stehen“. Damit unterstrich sie die besondere deutsche Verantwortung, alles dafür zu tun, ähnliches Leid wie während des Holocaust zu vermeiden. Nach dieser Logik liegt es auch in Deutschlands Verantwortung, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen.
Annalena Baerbocks Tweet zeigt: Die Diskursformation der absoluten Zurückhaltung, und somit die damit verbundenen Argumente und Handlungsempfehlungen („Nie wieder Krieg“), wird zurückgedrängt und vom Argumentationsmuster der bedingten Zurückhaltung („Nie wieder auf der falschen Seite stehen“) ersetzt. Ein und derselbe Wert, nämlich die moralische Verantwortung Deutschlands, aus alten Fehlern zu lernen, wird auf zwei unterschiedliche Weisen interpretiert.
Das Plakat „Nie wieder Krieg“ wurde von der deutschen Künstlerin und Friedensaktivistin Käthe Kollwitz 1924 gemalt. | Quelle: geautobalanced | gemeinfrei
Politikwissenschaftler Glassner erklärt: „Der Diskursformation der bedingten Zurückhaltung und auch der Westbindung gelingt es gerade besser, die neue Realität des Ukrainekrieges in die Argumentation einzubinden und damit logische Handlungsempfehlungen zu geben.“
Die Resonanz in der Bevölkerung für Waffenlieferungen und Aufrüstung sei deshalb größer. Das erklärt, warum es eine große Zahl von Deutschen legitim findet, dass 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr gesteckt und Waffen an die Ukraine geliefert werden sollen.
Glassner verweist auf eine ähnliche Verschiebung im Sicherheitsdiskurs im Jahr 1999, als Deutschland sich dafür entschied, Soldat*innen der Bundeswehr in den Kosovo zu schicken – ebenso ein Konflikt vor der eigenen Haustür. „Je näher der Konflikt an uns dran ist, desto stärker verändert sich unsere Wahrnehmung von Bedrohung. Und das führt dazu, dass sich unser Diskurs über Gefahr und darüber, wie man ihr begegnet, verändert.“
Deutschland: Für immer eine neue „Persönlichkeit“?
Wird sich Deutschlands Identität durch die aktuellen Debatten zur Sicherheitspolitik verändern? Darüber ist sich Glassner nicht sicher: „Ich denke, die Aufmerksamkeit, die man der Ukraine gerade schenkt, wird auf lange Sicht abebben. Der Krieg wird somit in den Argumentationen keine übergeordnete Rolle mehr spielen, wodurch die aktuell dominanten Handlungsempfehlungen, wie zum Beispiel Aufrüstung, wieder stärker herausgefordert werden.“ Die Konsequenz: mehr Kontroverse im Diskurs.Glassner findet es gut, dass Menschen gerade viel über Sicherheit und Außenpolitik sprechen – ein Thema, das früher der politischen Elite überlassen wurde. „Das führt in meinen Augen zu einer Demokratisierung der außenpolitischen Entscheidungsfindung“, so der Politologe. Denn wenn sich die Menschen ein eigenes Bild von der globalen Lage machten, so müssten Regierungen auch mehr darauf hören, was die eigene Bevölkerung darüber denke.
Diskursforschung lädt uns ein, darüber nachzudenken, warum wir die Welt sehen, wie wir sie sehen – und dazu, uns zu fragen: Warum sehe ich die Welt auf einmal anders?
Was in einem Moment als unanfechtbar richtige Entscheidung dargestellt wird, ist immer nur eine von mehreren möglichen Interpretationen einer Gegebenheit.
Juni 2022