Fußball-WM 2022  „Der größte symbolische Erfolg des modernen Katars“

Das Stadium 974 am Rand der katarischen Hauptstadt Doha ist einer der Austragungsorte der Fußball-WM 2022.
Das Stadium 974 am Rand der katarischen Hauptstadt Doha ist einer der Austragungsorte der Fußball-WM 2022. Foto: Ben Koorengevel via unsplash | CC0 1.0

Nun geht sie also bald los: Die erste Fußball-WM im Winter. Es gibt viel zu kritisieren, wenn es um das Gastgeberland Katar geht. Der Experte für die Golfregion Sebastian Sons plädiert für eine konstruktive und differenzierte Betrachtungsweise– gleichzeitig müsse man im Westen aufpassen, nicht zu eurozentrisch zu denken. Welche Rolle soll und wird Katar in der Welt spielen? Ein Gespräch über Fußball, Erdgas und Arbeitsmigration.

Erinnern Sie sich an Ihre erste Reaktion, als Sie hörten, dass die Fußball-WM nach Katar ging?

Ich war natürlich überrascht, dachte aber dann, dass es ein smarter Zug ist, um der arabisch-islamischen Welt die Möglichkeit zu geben, die WM auszurichten. Die Verkündung war im Dezember 2010 kurz vor Ausbruch des Arabischen Frühlings [am 17. Dezember, Anm. d. Red.]. Ich habe damals gedacht, warum man nicht ein anderes Land gewählt hat, das stärker im Fußball verhaftet ist wie etwa Ägypten. Durch den Arabischen Frühling hat sich gezeigt, dass es gar nicht so viele Orte gibt, an denen man die WM in der arabischen Welt hätte stattfinden lassen können.

„Auf der einen Seite werden die Verletzungen der Menschen- und Arbeitsrechte in Katar von der Politik, den Medien und der Zivilgesellschaft massiv kritisiert. Auf der anderen Seite haben deutsche Unternehmen mit dem katarischen Staat milliardenschwere Verträge zum Bau der WM-relevanten Infrastruktur geschlossen. Einerseits fordern Faninitiativen einen Boykott der WM, andererseits ist der europäische Spitzenfußball ohne Katar als Investor nicht mehr denkbar“, heißt es in Ihrem Buch. Sie kritisieren auch die „moralisierende Weltsicht“ und „beanspruchte Deutungshoheit“ des Westens. Wie soll man dieser Doppelmoral begegnen?

Ich bin gerade aus Katar zurückgekommen und dort gibt es einhellig die Meinung, man werde unfair behandelt, die Kritik wird als eurozentrisch bewertet. Es gibt zwei Ebenen der Kritik: Eine ist die am globalisierten, kommerzialisierten Fußball und somit an der FIFA selbst. Katar als Austragungsort zu bemängeln ist somit zu kurzgefasst, weil es eigentlich um die FIFA und ihre Austragungsmodalitäten geht. Katar ist nicht das große Problem im Weltfußball, sondern ein Symptom.

Auf der anderen Ebene ist die Frage, was wir eigentlich kritisieren. Da wären die angeblich mangelnde Fußballkultur und -tradition, die WM im Winter und der Alkoholkonsum vor Ort, und das beinhaltet die kulturelle Perspektive. Aus meiner Sicht ist das problematisch, weil so der Westen für sich die Deutungshoheit über die WM beansprucht, und in dem Fall kann ich verstehen, wenn Menschen in der Region das als eurozentrisch wahrnehmen.

Einen Sport nur nach westlichen Regeln stattfinden zu lassen ist nicht Sinn einer WM. In der Region lieben viele den Fußball, und auch wenn sie vielleicht nicht mit Katar als Austragungsort einverstanden sind, freuen sich die Leute trotzdem, dass es endlich eine WM in der arabisch-islamischen Welt gibt.

Katar ist nicht das große Problem im Weltfußball, sondern ein Symptom.“

Katar und der internationale Fußball sind inzwischen nicht mehr voneinander zu trennen. Wieso hat der kleine Golfstaat das große Bedürfnis, ausgerechnet im Sport so mitzumischen?

Das ist kein neues Bedürfnis, sondern steht im Einklang mit der modernen Geschichte Katars. Schon zwei Jahre vor der Unabhängigkeit von den Briten 1971 hat Katar die Aufnahme in der FIFA beantragt. In den 1990er und vor allem 2000er Jahren wurde viel Geld und Mühe in den Sport gesteckt und die Austragung der Asian Games 2006 hat das Selbstbewusstsein erhöht, dass man sich organisatorisch und logistisch in der Lage fühlte, sich auf die WM zu bewerben. Die ist der vorläufige Höhepunkt und größte symbolische Erfolg des modernen Katars, das es geschafft hat, sich als sehr kleiner Staat auf die Weltkarte zu bringen.

Man muss bedenken, dass es ein Land ist in einer Sandwichposition zwischen Iran und Saudi-Arabien, das historisch gesehen immer darauf achten musste, nicht zwischen den Großmächten zerrieben zu werden. Katar hat weder die demografische noch geografische Größe noch ein schlagkräftiges Militär, es braucht daher andere Mittel, um sich zu schützen: Sport, Wissenschaft, Kultur und Diplomatie. Sport vereint die Menschen, man kann dadurch den Beliebtheitsgrad erhöhen und wirtschaftlich attraktiv werden für Investoren.

Welche Rolle spielt da der Geltungsdrang Katars, sich gegenüber den angrenzenden Ländern in der Region sowie gegenüber der Weltöffentlichkeit zu beweisen?

Katar muss sich als kleines Land häufig gegen Expansionsbemühungen aus etwa Saudi-Arabien wehren. Das eindrücklichste Beispiel ist die sogenannte Golfkrise von 2017 bis 2021, als die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Bahrain, Saudi-Arabien und Ägypten eine Land-, See- und Luftblockade erließen mit dem Ziel, Katar in seine Schranken zu weisen. Katar ist außenpolitisch relevant, weil es auf pragmatischer Ebene mit dem Iran zusammenarbeitet, außerdem ist die wichtigste US-amerikanische Militärbasis der Region in Katar.

Und damit sich Katar vor externen Bedrohungen schützen kann, hat es nicht nur in die WM, sondern auch in viele andere Projekte und Netzwerke investiert, um sich unersetzlich zu machen. Im Fall der Golfkrise ist das auch gelungen.

Sebastian Sons, Experte für die arabischen Golfmonarchien: „Die WM könnte einen Anlass bieten, um zu schauen, wie sich Heimatregierungen bereichern, warum für so viele Menschen Migration notwendig ist.“ Sebastian Sons, Experte für die arabischen Golfmonarchien: „Die WM könnte einen Anlass bieten, um zu schauen, wie sich Heimatregierungen bereichern, warum für so viele Menschen Migration notwendig ist.“ | Foto: © Michael Hoang

Wie ist es um die Beziehung von Deutschland und Katar bestellt? Sie sagen, dass bis 2019, also kurz vor der Pandemie, Deutschland nach den USA und China der drittwichtigste Handelspartner für Katar war.

Die Beziehung zwischen Deutschland und den Golfstaaten beruhte in der Vergangenheit zumeist auf wirtschaftlichen Partnerschaften, auf Handel und auf katarischen Investitionen in Deutschland, wo das Land über seinen Investmentfonds oder etwa Qatar Airways, dem Sponsor von Bayern München, inzwischen sehr präsent ist.

Inzwischen nimmt man Katar auch als politischen und strategischen Akteur war. Im Zuge meiner Recherche für das Buch habe ich mit mehreren Diplomaten und Mitarbeitern des Auswärtigen Amts gesprochen und gefragt: Wie würdet ihr Katar im Vergleich zu den anderen Golfmonarchien wie Saudi-Arabien ranken aus deutscher Sicht? Alle sagten auf Platz 1. Das ist natürlich keine repräsentative Umfrage, aber wegen des Flüssiggasvorkommens und aufgrund von Verlässlichkeit, die etwa bei der konstruktiven Rolle, die Katar bei der Evakuierung aus Afghanistan gespielt hat, zum Ausdruck kam, wird Katar im politischen Berlin inzwischen als weniger problematisch angesehen als zum Beispiel Saudi-Arabien.

Sie plädieren dafür, dass sich Deutschlands Golfpolitik angesichts des Ukrainekriegs verändern soll. Wie hängt das zusammen?

Ganz eng. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat uns in Deutschland die hohe Abhängigkeit von russischem Erdgas vor Augen geführt. Man muss die Energielieferanten diversifizieren, und wenn man sich die Welt anschaut, landet man schnell in der Golfregion. Insbesondere Katar ist einer der wichtigsten Erdgas- und Flüssiggasproduzenten der Welt und hat sich einen Namen als verlässlicher Vertragspartner gemacht. Dass Bundeswirtschaftsminister Habeck und Bundeskanzler Scholz in die Golfregion gereist sind, zeigt auch, dass sie eine wesentliche Rolle spielt, was aus pragmatischen und wirtschaftlichen Gründen nachvollziehbar ist.

Es muss eine differenzierte und nüchterne Debatte um die Frage geführt werden, wie man mit problematischen Partnern Politik macht, ohne in ähnliche Abhängigkeiten wie mit Russland zu geraten.“

Das birgt aber das Risiko, wegen der Realpolitik andere Komponenten zu vernachlässigen, Stichwort Menschenrechte. Man darf nicht von einem Extrem ins andere fallen, indem die Menschenrechte in der Zusammenarbeit mit den Golfstaaten gar nicht mehr diskutiert werden. Es muss die Mitte gefunden werden: In welchen Bereichen kann man konstruktiv zusammenarbeiten, ohne die eigenen Werte zu verraten? Jetzt erkennen wir die Dringlichkeit. Nicht nur wegen des Kriegs, sondern auch wegen der WM liegt der Fokus erstmals auf der Golfregion. Es muss eine differenzierte und nüchterne Debatte um die Frage geführt werden, wie man mit problematischen Partnern Politik macht, ohne in ähnliche Abhängigkeiten wie mit Russland zu geraten.

Der Fußballfunktionär und ehemalige Präsident des FC Bayern München Uli Hoeneß sagte kürzlich in der Sendung „Doppelpass“, die Arbeitsbedingungen in Katar seien jetzt besser. Gleichzeitig kursieren Zahlen, dass rund 6.500 Gastarbeiter auf den WM-Baustellen verstorben seien.

Ich finde lustig, dass ich in Interviews jetzt auf Hoeneß angesprochen werde, das hätte ich mir auch nie vorstellen können. [lacht] Wie groß ist das Leid der Arbeitsmigranten und wie schlägt sich das in den Toten bei den Bauarbeiten nieder? Der Argumentation zufolge, der auch Hoeneß anhängt, hat Katar Fortschritte gemacht, es gab Arbeitsschutzreformen, was man honorieren müsse. Hoeneß und die katarische Führung haben die gleiche Argumentation, dass man Katar im regionalen Vergleich mit Kuwait, Saudi-Arabien oder den VAE betrachten müsse, wo es kaum Verbesserungen gab. Das ist Whataboutism, dadurch wird versucht, die Verantwortung auf andere Länder zu schieben. Politisch ist das legitim, im Diskurs aber problematisch.

Problematisch sind aber auch die Zahlen, gerade weil die Todesursachen sehr schwer nachzuvollziehen sind. 15.000 Todesopfer, was ursprünglich kursierte, ist sensationsheischend, um den Skandal um die WM zu dramatisieren. 6.500 ist realistischer, doch das umfasst alle in Katar gestorbenen Ausländer, unabhängig davon, ob sie auf den WM-Baustellen starben oder nicht. Aber die Diskussionen, wie viele Menschen gestorben sind, sind eher politisch und medial als angemessen, denn jeder tote Arbeitsmigrant ist einer zu viel. Es geht mehr um die Fragen, warum die Menschen sterben und was mit den Angehörigen in den Heimatländern geschieht. Das muss Katar beantworten und nicht nur Katar selbst, sondern alle, die von struktureller Ausbeutung profitieren.

Das Kafala-System ist Grundlage für die Ausbeutung von Arbeitsmigrant*innen, wie Sie im Buch sagen. Können Sie kurz erläutern, was das ist?

Das ist ein Vormundschafts- beziehungsweise Bürgschaftssystem, das im Gewohnheitsrecht aller Golfstaaten verankert ist und aus der Zeit der Beduinen stammt, die Fremdenschutz gewährt haben. Zu Zeit der britischen Herrschaft wurde das in Katar instrumentalisiert und institutionalisiert, um die Rekrutierung von Arbeitsmigranten zu erleichtern. Heutzutage ist es ein Machtsystem zwischen dem Bürgen, also Arbeitgeber, und dem Migranten. Ohne Zustimmung des Bürgen kann der Migrant seinen Arbeitgeber nicht wechseln oder das Land verlassen, manchmal wird sogar der Pass konfisziert.

Das ist eine Möglichkeit, um Ausbeutung flächendeckend umzusetzen. Insbesondere bei Hausangestellten ist das ein riesiges Problem, die lange gar keine rechtliche Reglung hatten. Sie sind Misshandlung, Vergewaltigung und Lohndiebstahl ausgesetzt, teilweise wird ihnen medizinische Versorgung vorenthalten wie etwa die Coronaimpfung. Von vielen wird das Kafala-System als Fortsetzung moderner Sklaverei angesehen. Die Regierung behauptet, es sei größtenteils abgeschafft. Aber das Problem liegt in Umsetzung der rechtlichen Reformen, deswegen kann von einer de facto Abschaffung keine Rede sein.

Die Diskussion über LGBTQIA-Rechte zu führen ist wichtig, um Missstände offenzulegen, aber sie ist auch wieder Ausdruck einer eurozentrischen Debatte.“

Was sagen Sie zu der Rede von Fanvertreter Dario Minden, der den katarischen Botschafter wegen der fehlenden Rechte für queere Menschen konfrontierte? Wie kam sie in Katar an, hat das überhaupt einen Einfluss?

Ich war zu der Zeit von Dario Mindens Statement in Katar, wo die Rede auch rezipiert wurde. Laut der offiziellen Aussage heißt man Menschen jeglicher sexueller Orientierung willkommen, solange sie „die Kultur respektieren“ würden. Ich und viele andere halten das für problematisch, weil sexuelle Orientierung keine Kultur, sondern ein Menschenrecht ist. In Katar sind viele unzufrieden mit der Unterstellung, man sei homophob, es wird argumentiert, es gehe unabhängig von Sexualität und Geschlecht um die öffentliche Zuschaustellung von Zuneigung. Ich kenne Homosexuelle, die in Katar leben und wissen, dass sie sich nicht outen können, gleichzeitig aber sagen, dass sie im Privaten keinerlei Einschränkungen erleben. Homosexualität ist strafbar, in den letzten Jahren wurden aber keine Urteile mehr vollstreckt. Das soll nichts entschuldigen, ich will nur die katarische Sichtweise aufzeigen.

Grundsätzlich wird das Argument der Doppelmoral herangezogen: Wir wissen alle, dass Fußball homophob ist und viele Spieler ein wahnsinniges Problem haben, sich zu outen, in Deutschland hat das bisher nur Thomas Hitzlsperger getan. Katar sagt: Ihr kritisiert uns, aber eigentlich sieht es im Fußball grundsätzlich so aus und dass ihr uns zum Sündenbock erklärt, ist ein islamophobes Argument. Die Diskussion über LGBTQIA-Rechte zu führen ist wichtig, um Missstände offenzulegen, aber sie ist auch wieder Ausdruck einer eurozentrischen Debatte.

Bei der Leichtathletik-WM 2019 in Katar gab es nur sehr wenige Zuschauer*innen in den Stadien. Glauben Sie, das Interesse wird bei der Fußball-WM größer sein – oder ist die WM ein von politischen Interessen gesteuertes Großevent, das nicht das Interesse der Bevölkerung widerspiegelt?

Die Frage ist komplex. Wir müssen uns erstmal anschauen, wer in Katar überhaupt Fußball konsumiert. Von den 2,8 Millionen Einwohnern in Katar sind nur 300.000 katarische Staatsangehörige, der Rest sind vor allem Arbeitsmigranten aus Nepal, Bangladesch und Pakistan, wo eher Cricket populär ist. Katarische Staatsangehörige sind zwar begeisterte Fußballfans, gehen aber nicht in Stadien, weil man Menschenmassen nicht gewohnt ist; Fußball wird eher mit Freunden und Familie vor dem Fernseher geschaut.

Laut vorläufigen Statistiken reisen die meisten Fans aus Lateinamerika – vor allem Mexiko –, den USA und UK an und aus den Nachbarländern Iran und Saudi-Arabien, wo sich beide Mannschaften qualifiziert haben. Es wird spannend sein zu sehen, wer es sich leisten kann, ins Land zu kommen, und wer boykottiert. Grundsätzlich geht man von ausverkauften Stadien aus, nicht nur auf dem Papier, sondern auch auf den Rängen. Ich habe mit vielen gesprochen, die gleich mehrere Tickets haben, während andere wiederum nicht im Land sein wollen, da sie Angst haben, dass die Logistik nicht funktioniert und Katar sich blamiert.

Diese WM ist etwas Besonderes, weil es noch nie eine auf solch geringer Fläche gab, weil es ein islamisch-arabischer Staat ist, weil die Jahreszeit eine Rolle spielt, immerhin ist keine klassische Urlaubszeit in Europa, und weil die Debatte im Vorfeld Leute abgeschreckt hat.

Ein wirklicher Boykott wird nicht stattfinden, das hätte man direkt nach der Vergabe vor zwölf Jahren entscheiden müssen, jetzt ist es zu spät.“

Was ist Ihr Wunsch an den Westen, speziell an Deutschland, was über die WM hinaus geschehen soll?

Deutsche Politiker sollten der Öffentlichkeit in Deutschland und der Golfregion besser kommunizieren, was politisch umgesetzt wird, wo es gemeinsame Interessen in Wirtschaft, Sicherheitspolitik und Entwicklungszusammenarbeit gibt. In der jetzigen Phase ist es wichtig, der Öffentlichkeit kritisch und konstruktiv zu vermitteln, warum die Region wirtschaftlich interessant ist, nicht nur wegen Energie, sondern wegen anderer Punkte, die ich auch im Buch nenne: Entwicklungspolitik, Migrationsmanagement, Kulturaustausch, erneuerbare Energien, Breitensport.

Es muss auch kommuniziert werden, wo die roten Linien sind. Aus meiner Perspektive ist das vor allem die Frage der Rüstungsexporte. Es gibt Forderungen, intensiver Waffen zu liefern. Ich halte das für einen Fehler, weil Deutschland seine Glaubwürdigkeit verspielen würde, wenn einerseits moralische Werte hochgehalten, andererseits aber Waffen geliefert würden, von denen nicht klar ist, in welchen (zukünftigen) Konflikten sie zum Einsatz kämen.

Zuletzt: Sprechen Sie sich für einen Boykott der WM aus?

Ein wirklicher Boykott wird nicht stattfinden, das hätte man direkt nach der Vergabe vor zwölf Jahren entscheiden müssen, jetzt ist es zu spät. Ich habe Respekt vor jedem persönlichen oder institutionellen Boykott, solange er aus nachvollziehbaren Gründen geschieht. Ich persönlich glaube aber, das bringt nichts, weil es die Situation der Arbeitsmigranten nicht verbessert.

Es braucht eine globale Diskussion, um komplexe Ausbeutungsstrukturen aufzudecken, die auch die Heimatländer, Rekrutierungsagenturen und unglaublich vielen Profiteure einschließt. Das kommt mir zu kurz. Die WM könnte einen Anlass bieten, um zu schauen, wie sich Heimatregierungen bereichern, warum für so viele Menschen Migration notwendig ist. Und: Wenn sich ein Sportler produktiv zu diesem Thema äußern würde, würde ihm das nicht auf die Füße fallen.
 

Dr. Sebastian Sons ist Experte für die arabischen Golfmonarchien und arbeitet als Wissenschaftler beim Center for Applied Research in Partnership with the Orient (CARPO). Er studierte Islamwissenschaft, Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in Berlin und Damaskus. Seine Promotion behandelt pakistanische Arbeitsmigration nach Saudi-Arabien. Sons absolvierte außerdem die Ausbildung an der Berliner Journalisten-Schule und hat unter anderem in der Sat 1-Sportredaktion gearbeitet. Im Rahmen der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar analysiert er die Sportpolitik der Golfstaaten. 2016 erschien sein Buch Auf Sand gebaut. Saudi-Arabien – Ein problematischer Verbündeter (Propyläen). 2022 verfasste er die Streitschrift Menschenrechte sind nicht käuflich. Warum die WM in Katar auch bei uns zu einer neuen Politik führen muss (Atrium).


Quelle: W1-Media

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