Im vergangenen Jahr verkaufte Bára Bažantová Weihnachtsbäume in einer tschechischen Kleinstadt. In der vorweihnachtlichen Hektik auf dem Parkplatz vor dem Einkaufszentrum verdichtete sich die Zeit zu einem großen Knäuel. Die Welt reflektierte sich in einem Spiegel an der Straßenecke und in diesem Spiegelbild konnte man erkennen, dass das, was wie eine Kleinigkeit wirkt, in Wirklichkeit eine große Sache ist. Dass die Entfremdung (noch nicht mal im Kapitalismus) von außen, sondern aus uns selbst heraus kommt. Und dass das so nicht sein muss.
Es ist Mittwoch, und Mittwoch ist der erste Sonderangebotstag, was bedeutet, dass vor dem Hypermarkt schon seit dem Morgen viel los ist. Er öffnet um sieben, und als ich gegen acht aus dem grünen Mercedes namens Berta steige, ähnelt die Welt vor unserem Bauzaun einem Ameisenhaufen. Nur dass die Ameisen statt Tannennadeln und Grashalmen Einkaufstüten und Einkaufswagen schleppen und schieben, die entweder überladen sind, oder darauf warten, überladen zu werden. Weihnachtskaktus, Kartoffeln, Schweinebauch, Friedhofskerzen, ein Sandwich auf die Hand aus dem Feinkostladen, in dem nach Vorbild der TV-Serie aus der Normalisierungszeit Žena za pultem (Die Frau hinter dem Ladentisch) die hübschesten Mädchen arbeiten (aber im Ernst, in Feinkostläden arbeiten nie Männer). Es hat über Nacht geregnet, ich demontiere mühsam den Zaun, packe zwei oder drei Bäume aus und gehe mir trockene Hosen anziehen.Ich bin allein am Stand, mein Kollege Marek ist kein Morgenmensch. Er raucht lange und starrt ins Leere, bevor er die erste Dose Cider aufmacht und den Tag beginnt. Er trinkt zum Frühstück und dann den ganzen Tag über bis in den Abend hinein – Cider, Wein, Rum werden heruntergespült mit allem, was die Leute zur Bestechung für Geschäfte unter dem Ladentisch mitbringen.
Was ist das für eine Ware unter dem Ladentisch, wollt ihr wissen? Bäume, die vom Stamm bis zur Spitze besonders buschig sind, für ein Naturprodukt geradezu verdächtig symmetrische, dicht bewachsene Zweige, gold gefärbte Misteln mit Beeren. Und jetzt bitte aufpassen, das ist ganz wichtig: Beeren bedeuten Geld, das heißt, je mehr Beeren, desto weniger Sorgen um die Zukunft. Unter dem Ladentisch gibt es einfach das perfekte Weihnachten.
„Und jetzt bitte aufpassen, das ist ganz wichtig: Beeren bedeuten Geld, das heißt, je mehr Beeren, desto weniger Sorgen um die Zukunft.“ | Foto: © Bára Bažantová
Der schönste Mistelzweig
Zum Glück hat der Regen im Laufe des Vormittags nachgelassen, aber die Nässe ist geblieben, sie ist lästig. Selbst wenn die Temperaturen über dem Gefrierpunkt liegen, macht es meinem untrainierten Körper zu schaffen, den ganzen Tag draußen zu sein und Bäume hin und her zu schleppen. Bertas Heizung läuft zwar, aber weil die Türen ständig offen stehen, heizen wir eher die Umgebung als uns selbst. Wir haben keine andere Wahl, als uns durch Arbeit warm zu halten. Je größer die Bäume, desto größer die Hitze, desto stärker die Schmerzen in unseren steifen Rücken.Dann, um ein Uhr morgens, wenn du mit verschlafenen Augen auf den Lastwagen schielst, der etwa 200 Tannen, Fichten und Kiefern gebracht hat, fragst du dich, ob du das wirklich nötig hast.
Die größten Bäume sind etwa drei Meter hoch. Pro Baum beträgt die Provision 20 Kronen [knapp 0,80 Euro], unabhängig von Höhe, Breite oder Baumart. Die Standgebühren beginnen bei 35.000 Kronen brutto, damit sich zwei Personen einen Monat lang 12-Stunden-Schichten teilen können. Mittagspausen gibt es nicht. Auch auf Trinkgeld sollte man nicht hoffen. Jeden Tag kommt irgendeine Frau vorbei, die sich nach den schönsten Misteln verzehrt (es ist eine Falle, die schönsten gibt es immer am Nachbarstand), und selbst die denkt normalerweise nicht daran, den Preis von 35 auf 40 Kronen aufzurunden, so dass man sich mit dem Trinkgeld von einer oder zwei Kronen pro Baum begnügen muss.
Die Zahl der pro Tag verkauften Bäume schwankt, wobei der Weihnachtsrummel in der Regel an Heiligabend seinen Höhepunkt erreicht. Aber selbst, wenn es hundert wären, was bedeuten würde, dass du mehr oder weniger durcharbeitest, wären es tausend Kronen pro Person, was 1.500 Kronen für 12 Stunden bedeutet – ungefähr so viel, wie du hier im Laufe des Monats für aufgewärmte Pizza und Kaffee aus dem Automaten ausgibst, weil die schrottige Doppelkochplatte am ersten Tag unter deinen Händen Feuer gefangen hat. Dann, um ein Uhr morgens, wenn du mit verschlafenen Augen auf den Lastwagen schielst, der etwa 200 Tannen, Fichten und Kiefern gebracht hat, fragst du dich, ob du das wirklich nötig hast. Zum Glück haben die Spediteure Verstärkung dabei; zu dritt brauchen wir etwa anderthalb Stunden.
„Dann, um ein Uhr morgens, wenn du mit verschlafenen Augen auf den Lastwagen schielst, der etwa 200 Tannen, Fichten und Kiefern gebracht hat, fragst du dich, ob du das wirklich nötig hast.“ | Foto: © Bára Bažantová Vor dem Schlafengehen lese ich von der bevorstehenden Geburt von Dazhbog und es kommt mir vor, als würden aus den überfüllten Regalen über meinem Bett Kisten mit Gerümpel, Jacken, Schuhen, Feuerzeugen ohne Gas, englischen Spielzeugautos ohne Räder, Schrott auf mich herabfallen. Ich habe kaum die Augen geschlossen, da klingelt der Wecker, und dann geht alles wieder von vorne los. Mistelzweige, Tannenzweige, Bäume, Kreditkartenzahlungen im Wald? Übrigens – ohne die unteren Äste passen da mehr Geschenke drunter, junge Dame, Bäume? Tja, da irren Sie sich, wir verkaufen Erdbeereis... Auch diese Art von Humor nutzt sich mit der Zeit und den Wiederholungen im Laufe des Tages langsam ab.
Der deutsche Mindestlohn steigt regelmäßig. Wir mühen uns ab, den tschechischen zu erreichen.
Überblick über die Entwicklung der Mindestlohnbeträge
Tschechische Republik (in Kronen CZK pro Stunde) |
Deutschland (in Euro pro Stunde) |
2021: 90,50 | 2021: 9,60 |
2022: 96,40 | 2022: 9,82 / 10,45 (Juli) / 12 (Oktober) |
2023: 103,80 | 2023: 12 |
2024: 122,55 (4,86 Euro) | 2024: 12,41 (310,25 CZK) |
Die letzten Glieder der Kette
Marek verspricht mir schon seit zwei Tagen eine Dusche in den Umkleidekabinen des Supermarktes, aber keine*r der Angestellten hat Erbarmen mit mir. Wir haben hier keine Duschen, sagt die schrullige alte Frau hinter der Kundeninformation, ich weiß von nichts. Eines Abends leiht sie mir herablassend einen Schlüssel für die Behindertentoilette, damit ich mich dort waschen kann. Das warme Wasser läuft nicht und das Waschbecken ist verstopft, ich gebe bald auf. Einen weiteren Tag später kommt mein Kollege mit mir an den Schalter. Marek kommt schon seit ein paar Jahren hierher, um Weihnachten zu verkaufen. Als die Frau ihm sagt, dass er sich immer am Waschbecken gewaschen hat, lacht er, sie kapiert und muss kleinlaut den Waschraumschlüssel herausrücken. Nach ein paar Tagen mit 12-Stunden-Schichten und nächtlichen Baumlieferungen fühlt sich das warme Wasser auf meiner Haut wie ein luxuriöses Entspannungsbad an.Ich muss Marek Recht geben, als er mir erklärt, dass die einzige Möglichkeit darin besteht, wohlwollende Leute von der untersten Hierarchieebene zu finden und sich mit ihnen zu verabreden.
Am Ende bin ich mir nicht sicher, ob diese vorgeblich so progressiven Einrichtungen und Initiativen nicht in mancher Hinsicht problematischer sind als diejenigen, die ganz offensichtlich Tadel verdient haben. Trotz all ihrer guten Absichten (die, vielleicht nicht immer bewusst, in erster Linie ihr eigenes Wohlergehen betreffen), ebnen vielleicht gerade sie den sprichwörtlichen Weg in die Hölle des Kapitalismus mit einem menschlichen Antlitz. Zum Glück bleibt nicht viel Zeit für düstere Gedanken über die Komplexität des Kapitalismus und die damit verbundenen Komplikationen. Marek und ich streiten uns vor dem Schlafengehen noch eine Weile darüber, wer von uns beiden was nicht versteht, bevor uns die überhitzte Berta in ihre verschwitzten Arme nimmt.
Die Müdigkeit der anderen am eigenen Leib spüren
Die Tage vergehen recht friedlich, es ist über Null und manchmal scheint sogar die Sonne. Die körperliche Arbeit tut mir gut, obwohl ich nach ein paar Tagen nicht mehr in der Lage bin, meine innere Moral aufrechtzuerhalten. Ich schaff es nicht, pünktlich aufzustehen, ich breche meine Abstinenz, ich habe keine Geduld mehr, Beschimpfungen, unnötige Fragen und dumme Witze zu ertragen. Manchmal bin ich unausstehlich und schäme mich dafür. Zum einen, weil ich unausstehlich bin, zum anderen, weil ich selbst manchmal über unfreundliche Verkäufer, Busfahrer, Frauen hinter dem Tresen urteile. Ich schäme mich, wenn ich nun ihre Müdigkeit am eigenen Leib spüre, wenn mich meisten Menschen, mit denen ich zu tun habe, auf eine sehr maschinelle Art und Weise wahrnehmen. Je weniger sie mich als Mensch behandeln, desto mehr drückt sich meine Menschlichkeit in Wut aus, desto leichter ist es für mich.Ich beobachte meinen Geschäftspartner bei der Arbeit. Nachdem ich lange Zeit versucht habe, seinem Charme zu widerstehen, empfinde ich ein Gefühl der Bewunderung für ihn und muss etwas über mich hinauswachsen, um es zugeben zu können, ohne mich zu schämen. Ich kann beobachten, dass er niemanden abkanzelt, ganz gleich, wie sehr er seine Kunden mag oder nicht mag. Er spricht mit den Menschen auf eine Art und Weise, die sie dazu bringt, ihre Abwehrmechanismen, ihre Ängste und ihre Eile zu vergessen und für eine Weile sie selbst zu sein. Entspannt, authentisch. Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, denke ich wirklich darüber nach, was er behauptet, nämlich dass es nicht darauf ankommt, was man tut, sondern wie man es tut. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Aussage auf alle zutrifft, denn den nach ethischen Prinzipien abwägenden CEO eines multinationalen Konzerns kann ich mir nur schwer vorstellen. Aber ich spüre plötzlich, dass selbst etwas (in meinen Augen) so Nutzloses wie der Verkauf von Weihnachtsbäumen alle möglichen Bedeutungen und Formen haben kann.
Zugehörigkeit trotz Kapitalismus
Alles andere, was in und um Berta herum geschieht, hängt zweifellos damit zusammen. Die Berta ist hier nicht nur unsere Behausung, sondern auch ein Ort der Begegnung. Ob es der freitägliche Grillhähnchenverkäufer ist, der nach seiner Schicht hereinkommt, um eine Zigarette zu rauchen (und der meine Hündin den ganzen Tag mit Essensresten füttert), die Karpfenverkäufer, die gelegentlich auf einen Drink vorbeikommen, oder die verschiedenen Gammler, Streuner und sonstige von der Gesellschaft übersehenen Menschen, für die die Türen der Berta immer offen sind und die hierher kommen, um ein wenig menschliche Wärme zu finden. Die Kumpels meines Kumpels werden automatisch zu meinen Kumpels. Sie bringen Geschenke, Mittagessen, unglaubliche Lebensgeschichten mit. Ich bin froh über ihre Besuche, denn es wäre nur halb so lustig, wenn wir nur zu zweit wären.Während wir die letzten Überreste der Bäume, der abgefallenen Misteln und der abgebrochenen Zweige verkaufen und Berta nebst Umgebung auf Vordermann bringen, überkommt mich ein Gefühl der Traurigkeit. Auch wenn es in den letzten Tagen geregnet hat und meine Kraft und Entschlossenheit schwinden, ich von einem nassen Paar Schuhe in ein anderes halbtrockenes wechsle, meinem Kollegen immer mehr die Arbeit überlasse, will ein Teil von mir nicht zurückgehen.
Zurück in die Hektik einer größtenteils entfremdeten Stadt, in der ich die Gastfreundschaft von Berta und Marek vermisse und in der es trotz meiner Überzeugungen viel leichter ist zu vergessen, dass das Wichtige daran, nicht allein zu sein, bedeutet, sich nicht einsam zu fühlen. Es geht viel eher um ein Gefühl der Zugehörigkeit, zu wem auch immer: nicht abhängig von gemeinsamen Interessen, sondern davon, dass man mit offenem Herzen aufeinander zugeht.