Im äußersten Osten der Slowakei  Unterwegs im Nichts

Eine alte Dampflokomotive mit Aufschrift in ungarischer Sprache auf dem Bahnhofsgelände in Čierna nad Tisou.
Eine alte Dampflokomotive mit Aufschrift in ungarischer Sprache auf dem Bahnhofsgelände in Čierna nad Tisou. Foto: © Andrej Bán

Der Südosten der Slowakei ist eine Variation des Mittleren Westens der USA, findet der Reporter und Fotograf Andrej Bán. Beinahe vergessen vom Rest des Landes spielen sich im Dreiländereck zwischen der Slowakei, der Ukraine und Ungarn eigenartige und wilde Geschichten ab.

Ich liebe Peripherien, egal welcher Art. An der Peripherie herrscht eine andere Mentalität als im Zentrum, in ihr spiegeln sich Dinge wider, die im Zentrum schon lange verschwunden sind. Aus dieser Tatsache ergibt sich ein gewisser Trotz der Menschen, die an der Peripherie leben, sie hüten dort „das Eigene“. Und doch schimpfen sie verständlicherweise über das Zentrum, das sie ausgrenzt. Oft haben sie Recht.

Im Zentrum von Čierna nad Tisou. Im Zentrum von Čierna nad Tisou. | Foto: © Andrej Bán Eine solche Peripherie, wo die Zeit stehen geblieben ist, ist die Region Medzibodrožie. Bei einer Umfrage würde wohl nicht mal eine*r von zehn Slowak*innen wissen, wo dieses Gebiet überhaupt liegt. Nun, es befindet sich im äußersten Osten des Landes, an der Grenze zu Ungarn und der Ukraine. Hier leben vor allem Ungar*innen, vergessen von ihren Politiker*innen, die nicht einmal im Wahlkampf zu Besuch kommen, ganz zu schweigen von der slowakischen Regierung in Bratislava, von der noch nicht mal jemand aus Versehen einen Fuß in dieses Gebiet setzt. Robert Fico sagte abschätzig über den Osten, also im weitesten Sinne des Wortes über das Gebiet östlich von Košice, dass dort ja nichts sei. Und tatsächlich ist es dieses Nichts-Land, das mich interessiert.

Vor der Invasion trafen sich dort Dubček und Breschnew

„Von Aš bis nach Čierna nad Tisou“, sagte man damals in der Tschechoslowakei, also vom äußersten Zipfel des Landes im Westen bis zur hintersten Ecke im Südosten. Čierna ist die einzige Stadt in der Slowakei, die noch heute sowjetisch aussieht. Und nicht nur das Aussehen: Wenn man dort einen Univermag (heute heißt es Supermarkt) betritt, wird man von einem Geruch überwältigt, an den sich die jüngere Generation nicht mehr erinnern kann. Trotz holländischer Mundspülungen oder polnischer Zahnpasta riecht es hier noch wie früher. Die Stadt hat noch immer einen großzügigen Park im Zentrum, sozialistische Bauskulpturen, Arbeiterwohnungen und Plattenbauten, von denen der größte den Codenamen UB 400 trägt. Warum, weiß niemand.

Im Bahnhofsgebäude von Čierna nad Tisou gibt es ein Wandmosaik eines sowjetischen Panzers. Im Bahnhofsgebäude von Čierna nad Tisou gibt es ein Wandmosaik eines sowjetischen Panzers. | Foto: © Andrej Bán „Sprechen Sie Ungarisch?“, frage ich ein paar Männer im Blaumann im verlassenen Zentrum von Čierna nad Tisou. Sie nicken. Wir stehen vor dem Bahnhof, wo sich im Sommer 1968 die kommunistischen Führer Alexander Dubček (Tschechoslowakei) und Leonid Iljitsch Breschnew (UdSSR) trafen, und wo ersterer das zu verhindern suchte, was letzterer überhaupt nicht verhindern wollte. Am 21. August des gleichen Jahres kam es dann zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes. In der Mitte des Bahnhofs steht eine niedliche alte Dampflokomotive. Ein Relikt. Ich frage mich, was die weiße Aufschrift in ungarischer Sprache an der Seite bedeutet: MINDENNÉL JOBBAN. „Das heißt... wie sagt man...“, die Männer suchen nach Worten und schnell wird mir klar, dass sie zwar Ungarisch können, aber Slowakisch eher nicht so viel. Die Aufschrift kann mit AM BESTEN VON ALLEN übersetzt werden.

Leer stehen heute in Čierna nad Tisou auch die Kesselhäuser. Also alle, bis auf eines. Das ist die Dreikirche, wie sie von allen nur genannt wird, was erklärt werden muss. Natürlich wollten die Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg keine Kirche in der wiederaufgebauten Stadt haben. Warum auch? Die atheistische Gesellschaft war ohnehin auf dem Weg zu einem klassenlosen Paradies. Die Einwohner*innen jedoch vergaßen Gott nicht und gingen sonntags zur Messe in die umliegenden Dörfer, wo es Kirchen gab. Nach dem Sturz des Regimes erhielt die Freiheit Einzug und in dem kleinen Städtchen geriet man in ein Dilemma: Sollte man eine neue Kirche bauen oder ein anderes geeignetes Gebäude für diesen Zweck nutzen? Die zweite Option war – verständlicherweise – finanziell effizienter. Öcsi, Künstler und Pfarrer der Reformierten Kirche, in der Kunstszene auch Enzo genannt, war einer der Akteure einer bemerkenswerten Aktion, als 1997 drei Religionsgemeinschaften, die römisch-katholische, die griechisch-katholische und die Reformierte Kirche für insgesamt drei Millionen Kronen ein ehemaliges Kesselhaus in ein Gotteshaus umgebaut haben.
 
Die „Dreikirche“ in Čierna nad Tisou. Die „Dreikirche“ in Čierna nad Tisou. | Foto: © Andrej Bán
„Am Anfang gab es hier keine Heizung. ‚Das Wort Gottes spendet euch Wärme‘, sagte ich den Gläubigen. Um acht Uhr war eine griechisch-katholische Messe, um halb zehn eine römisch-katholische, und um elf hatten wir eine Messe. Zu jeder Messe kamen etwa fünfzig Leute, und einige Alte saßen in allen dreien. Wir ergänzten uns gegenseitig. Am Anfang hatten wir eine mobile Kanzel auf Rädern, die wir zur Messe hereinrollten, die griechischen Katholiken haben immer noch eine Ikonostase auf Rädern“, erzählt Öcsi. Später wurde auf dem Dach der Kesselhauskirche auch ein Kirchturm mit elektronischen Glocken errichtet. „Viele Menschen weinen, wenn sie sie hören. Nie zuvor waren in Čierna je Kirchenglocken zu hören gewesen", sagt die Küsterin.

Öcsi ist schon seit 2008 kein Pfarrer mehr. Der Bischof enthob ihn seines Amtes, nachdem er einen Akt seiner schönen jungen Frau gemalt hatte, auf dem er selbst als Teufel mit Hörnern und Flügeln abgebildet ist. Nackt, versteht sich. „Das ist unmoralisch, Sie sind nicht verheiratet“, sagte der Bischof zunächst. Also heiraten Öcsi und sein Modell ein paar Tage später, da sie sowieso zusammenlebten. „Es ist unmoralisch für einen Pfarrer, Aktbilder zu malen“, sagte der Bischof dann. Seitdem ließen sich Öcsi und seine üppige Modell-Frau mehrmals scheiden und heirateten erneut. Die Messe darf er jedoch nicht mehr feiern, auch wenn die Gläubigen ihn vermissen.

Werke des Malers und Pfarrers der Reformierten Kirche Öcsi. Werke des Malers und Pfarrers der Reformierten Kirche Öcsi. | Foto: © Andrej Bán

Ein bis heute geteiltes Dorf

Dann ist da noch das Dorf Slemence, das auf Stalins Befehl zwangsgeteilt wurde. Es liegt neben Čierna, an der slowakisch-ukrainischen Grenze. Seit 1946 wartet es auf den Tag, an dem es wiedervereinigt wird. Als die Visumpflicht noch in Kraft war, mussten slowakische Bürger, die ihre Verwandten besuchen wollten, ein wahres Martyrium durchmachen. 150 Kilometer nach Prešov zum Konsulat, um ein Visum zu beantragen und dann wieder 150 Kilometer zurück. Das Visum kostete 1000 Kronen, umgerechnet 33 Euro. Dann warteten sie demütig ein oder zwei Wochen auf die Bearbeitung und fuhren dann wieder 300 Kilometer, um das Visum abzuholen. Schließlich mussten sie 30 Kilometer zum Grenzübergang in Vyšné Nemecké fahren und dort drei, fünf, zehn Stunden in einer Schlange warten. Und das, um einen Onkel oder einen Cousin zu besuchen, ihnen Schokolade und Blumen mitzubringen, bei Wodka zu plaudern und auf dem Heimweg billiges Benzin und Zigaretten zu kaufen.

Seit 1946 ein Drittel des tschechoslowakischen Dorfes an die UdSSR fiel, geht die Grenze mitten durch das Dorf. Die sowjetischen Soldaten versprachen Dorfbewohnern von Malé Slemence fruchtbare Felder und hochwertige Lederschuhe, wenn sie sich damit einverstanden erklärten. Im Dorf Veľké Slemence sind sie damit aber abgeblitzt. Die künstlich gezogene, streng bewachte Grenze verlief sogar durch das Schlafzimmer eines Hauses, das daraufhin abgerissen werden musste. Es kursieren bizarre Geschichten. Einmal wetteten Grenzsoldaten auf slowakischer Seite um zwei Liter Rum, wer unentdeckt in die Ukraine gelangen würde. Der Gewinner hatte Pech. Er kam eine Woche später abgemagert aus dem Gefängnis zurück, wo er nur Zuckerrüben zu essen bekommen hatte.

Grenzübergang in der Gemeinde Veľké Slemence. Grenzübergang in der Gemeinde Veľké Slemence. | Foto: © Andrej Bán Ein anderer Unglücklicher hatte sich bei einer Feier dermaßen betrunken, dass er den Weg nach Hause nicht mehr fand. Er raste mit seinem Motorrad die falsche Straße hinunter und prallte mit voller Geschwindigkeit gegen die Grenzschranke. Der tote Körper blieb in der Slowakei liegen, das Motorrad fuhr weiter auf die ukrainische Seite.

Die Peripherie der Südostslowakei ist ein bisschen wie der Mittlere Westen in Amerika. Wild, ungezähmt, eigenartig, nur gibt es hier weniger Cowboys. Aber stört das irgendwen?

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