Femizide (nicht nur) in Italien  Frauen ermorden – nur, weil sie Frauen sind?

Demonstration nach dem Tod von Giulia, organisiert von der transfeministischen Or-ganisation Non Una Di Meno (Nicht eine weniger)
Demonstration nach dem Tod von Giulia, organisiert von der transfeministischen Organisation Non Una Di Meno (Nicht eine weniger) Foto: © Lorenzo Renda

Ermordet vom Ehemann, vom Ex-Freund, vom Vater – Schlagzeilen, wie sie immer mal wieder in den Medien auftauchen. Femizide, also Morde an Frauen, geschehen jedoch viel häufiger, als es vielleicht scheint. In Italien setzte nach dem Mord an einer jungen Studentin eine Protestwelle ein und in den vergangenen Monaten kamen Dutzende Fälle von Gewalt an Frauen ans Licht, die oft tödlich endeten.

Der Mord an der 22-jährigen italienischen Studentin Giulia Cecchettin, die im November 2023 von ihrem Ex-Freund Filippo Turetta erstochen und anschließend im Wald vergraben wurde, löste in Italien eine Welle an Protesten aus. Tot aufgefunden wurde Giulia eine Woche nach dem Mord, also am 18. November, eine Woche vor dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen.

Der Mord an Giulia wird als Femizid bezeichnet. Doch was bedeutet dieser Begriff eigentlich? Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen definiert ihn als „das Töten von Frauen aufgrund ihres Geschlechts; wie z.B. der Mord an einer Frau durch ihren Intimpartner, durch eine fremde Person, das Foltern oder Töten von Frauen im Namen der Ehre o.ä.“. Im Jahr 2012 verabschiedeten die Vereinten Nationen die „Vienna Declaration on Femicide“ (Wiener Erklärung der Vereinten Nationen zu Femizid), welche eine allgemeine Definition dieses Tatbestands formulierte.

„Bei dieser dermaßen tragisch endenden Gewalt handelt es sich um die schwerwiegendste Form. Ihr gehen oft Drohungen, Einschüchterungsversuche und schwere häusliche Gewalt voraus. Zu Femiziden kommt es leider oft genau zu dem Zeitpunkt, wenn die misshandelte Frau die Beziehung beendet oder ebendies ankündigt“, sagt Zdena Prokopová, stellvertretende Vorsitzende des Frauenzentrums ROSA, das Opfern von häuslicher Gewalt umfassende Hilfe bietet.

Giulia ist aber nicht die einzige Frau in Italien, die von einem Mann getötet wurde. Im Jahr 2023 wurde in Italien etwa jeden dritten Tag eine Frau getötet, die Statistiken sprechen von 80 bis 107 Femiziden pro Jahr. Die genaue Zahl ist jedoch nicht bekannt, denn in der italienischen Gesetzgebung existiert bislang keine klare Definition für Femizide. Und auch auf europäischer Ebene gibt es unter den Mitgliedsstaaten der EU keine einheitliche Definition, wodurch jeglicher Vergleich zwischen den Ländern so gut wie unmöglich ist.

Auch in Tschechien erfasst die Polizei Femizide nicht in ihren Statistiken, sondern führt nur Statistiken über Morde, welche durch persönliche Beziehungen motiviert sind. „Das Frauenzentrum ROSA erfasst bereits seit über zwanzig Jahren sogenannte ‚silent witnesses’ (stille Zeuginnen), also alle ermordeten Frauen. Pro Jahr sind es immer mehrere Dutzend“, sagt Zdena Prokopová.

Getötet vom Märchenprinzen

„Die Gesellschaft in Italien ist für europäische Verhältnisse immer noch stark patriarchalisch geprägt und vor allem im Süden des Landes kommt es so zu einem größeren Maß an Gewalt gegen Frauen. Zu dieser Situation trägt außerdem das langanhaltende Misstrauen der Bevölkerung gegenüber staatlichen Institutionen bei, was zu einer niedrigeren Melderate von ‚gewöhnlicher’ häuslicher Gewalt führt und genau das führt wiederum zu einer erhöhten Rate an Femiziden“, erklärt Martin Mejstřík, Politologe mit Schwerpunkt auf Südeuropa, der am Institut für Internationale Studien an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität Prag tätig ist.

Selbst mit einer so schrecklichen Tat konfrontiert wurde Vera Squatrito, Unternehmerin aus Sizilien und 54-jährige Mutter von zwei Töchtern, Erika und Giordana. Im Jahr 2015 wurde ihr Leben erschüttert durch den Mord an der damals 20-jährigen Giordana, die mit 48 Stichverletzungen von ihrem Ex-Freund Antonio Priolo, dem Vater der gemeinsamen Tochter Asii, getötet worden war.

„Giordana lernte ihren Mörder kennen als sie fünfzehn war. Am Anfang war sie sehr glücklich, er war immer liebenswürdig, fürsorglich und sehr präsent. Giordana verliebte sich in ihn, weil er wie ihr ‚Märchenprinz‘ war. Mit der Zeit fing er jedoch an herrisch zu sein, veranstaltete eifersüchtige Szenen gegenüber allen Leuten, mit denen Giordana in Kontakt war, und begann sie verbal zu attackieren. Das führte meine Tochter in die völlige Isolation. Sie verlor ihre Lebensfreude, ging nicht mehr mit ihren Freundinnen aus... sie begann sich sogar von der Familie zu isolieren...“, erzählt Vera.

„Im Jahr 2013 entschied Giordana sich von ihm zu trennen und ihn wegen Stalking, Hausfriedensbruch, häuslicher Gewalt und Verletzung der Privatsphäre anzuzeigen, da er ihr auf dem Handy eine App installiert hatte, die all ihre Nachrichten und Gespräche überwachte. Daraufhin tötete Antonio sie am Tag vor der Gerichtsverhandlung, am 7. Oktober 2015, weil sie sich weigerte, die Anzeige zurückzuziehen.“

Vera zufolge hat sich seit dem Femizid an ihrer Tochter einiges geändert, was den Schutz von Frauen in Italien betrifft. Im Jahr 2019 wurde beispielsweise der sogenannte Rote Kodex (ital.: Codice rosso) verabschiedet. Offiziell wurden mit diesem Gesetz Nr. 69 vom 19. Juli 2019 die bestehenden Regelungen zum Schutz von Frauen und Kindern, die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt werden, geändert. Ziel dieses Gesetzes war es vor allem, Gerichtsverfahren bei bestimmten Straftaten (zum Beispiel häusliche Gewalt, Stalking, sexualisierte Gewalt) zu beschleunigen. Die Polizei muss die angezeigte Straftat unverzüglich der Staatsanwaltschaft melden, welche das Opfer dann innerhalb von drei Tagen befragen muss.

Rechtsradikales Italien

Die aktuelle italienische Regierung mit Giorgia Meloni an der Spitze entschied im Jahr 2023, die finanziellen Mittel zur Prävention von Gewalt gegen Frauen um 70 Prozent zu kürzen. Von 17 Millionen Euro, die von der Regierung des vorherigen Ministerpräsidenten Mario Draghi für das Jahr 2022 bereit gestellt worden waren, waren es 2023 nur 5 Millionen Euro. Eine Analyse der internationalen Non-Profit-Organisation Action Aid namens Die Kurzsichtigkeit der italienischen Politik im Kampf gegen männliche Gewalt gegen Frauen ergab weiterhin, dass in den Regierungsplänen die Prävention von Gewalt gegen Frauen sowie die damit verbundene Aufklärung nicht vorgesehen ist und sich stattdessen ausschließlich auf die Bestrafung und Repressionen nach Begehung der Tat konzentriert wird.
 
© Frauenzentrum Rosa

Martin Mejstřík ergänzt: „Die Regierung von Giorgia Meloni profiliert sich seit Anfang an als sehr sozial-konservativ. Neben der Migration ist der Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt das zweite große Thema, mit dem sich Meloni versucht als radikal rechte Politikerin zu profilieren. Die Mittelkürzung im Bereich Gender ist daher nur eine logische Folge dieser Entwicklungen.“

Unter anderem stimmte der italienische Senat im April 2024 einer Gesetzesänderung zu, die Abtreibungsgegner*innen freien Zugang zu öffentlichen Abtreibungskliniken ermöglicht. „Ich glaube, wir müssen eine freie Wahl garantieren und ich glaube, dass man über alle notwendigen Informationen verfügen muss, um eine freie Wahl zu treffen“, äußerte sich dazu die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.

Ob dieser Schritt die Gewalt gegen Frauen verstärken wird, kann Martin Mejstřík nicht mit Sicherheit sagen. „Aber es wird auf jeden Fall mehr Beschimpfungen und eine Art ‚Normalisierung‘ des ultrakonservativen Diskurses geben.“ Die Regierung legitimiert auf diese Weise radikale Gruppen, die nun das Gefühl haben könnten, sich mehr erlauben zu dürfen, einschließlich Einschüchterungen sowie die Stimme noch lauter zu erheben. Von dort ist es zur Gewalt natürlich nur noch ein relativ kurzer Weg“, ergänzt der Experte.

Das beste Mittel zur Vorbeugung von geschlechtsspezifischer Gewalt ist laut Vera Squatrito eine grundlegende Prävention. „Kurse zur Aufklärung in Schulen sind sehr wichtig. Weiterbildungen, eine Sensibilisierung für das Thema und eine frühzeitige Risikoeinschätzung, wenn Frauen Anzeige erstatten, sind die grundlegenden Instrumente zur Gewaltbekämpfung.“ Dem stimmt auch Zdena zu. „Wichtig sind Aufklärung und eine klare Verurteilung von Gewalt.“ Außerdem Fortbildungen zu diesem Thema für die Polizei, für Jugendämter, im Gesundheitswesen. „Jedes Opfer sollte schon bei der ersten Behandlung beim Arzt Unterstützung erfahren: der Arzt sollte mit der Thematik häuslicher Gewalt vertraut sein und die misshandelte Frau immer an eine spezialisierte Beratungsstelle überweisen“, erklärt er.

„Diese Gewalt müssen wir zusammen mit denjenigen Männern bekämpfen, die Frauen respektieren, damit sie den Gewalttätern als Beispiel dafür vorangehen, dass es nicht Stärke und Macht sind, die sie zu Männern machen. Die Gesellschaft als Ganzes muss Gewalt den Kampf ansagen – unabhängig vom Geschlecht“, fügt Vera abschließend hinzu.
Wie ist die Situation in Tschechien?
Laut der Daten aus dem Projekt Stille Zeuginnen werden in Tschechien jedes Jahr 20 bis 30 Frauen getötet. Aber genauso wie in Italien werden in Tschechien keine speziellen Statistiken zu Femiziden geführt, sodass man von den einzelnen Fällen oft nur aus den Medien erfährt. In vielen Fällen wissen die Medien und dadurch auch die Öffentlichkeit nicht, ob es sich dabei um die Partnerin handelte oder nicht. Aus den Daten lässt sich das Geschlecht feststellen und ob das Opfer und der Täter in einem Verwandtschaftsverhältnis zueinanderstanden, aber meistens dann nicht mehr, um welche Art von Beziehung es sich handelte. Für eine Gesetzesänderung hinsichtlich Gewalt an Frauen und für die Unterstützung von Opfern setzen sich die Non-Profit-Organisation ProFem sowie die im Artikel erwähnte ROSA ein. Übrigens hat Tschechien als eines von wenigen europäischen Länder die Istanbul-Konvention, also das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, nicht ratifiziert. Italien verabschiedete sie im Jahr 2013.
 

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