Reportage aus einem etwas anderen Knast  Ein nettes kleines Gefängnis

Das Gefägnis Odolov
Das Gefägnis Odolov Foto: © Bára Bažantová

Eine weitere Gonzo-Reportage von Bára Bažantová, diesmal aus dem Odolov-Gefängnis, hinter dessen Toren die Autorin neben der Holzmodellierwerkstatt weltberühmte Musik, Geigenvirtuosen, unglaubliche Geschichten und vor allem Hoffnung findet.

„Das ist der schwarze Wanderweg“, erklärt Ondřej, während er uns durch ein nahezu undurchdringliches Dickicht den Hügel hinauf schleift. Die Hündinnen sind in alle Richtungen davongelaufen, wahrscheinlich auf der Jagd, ihr Bellen hallt in der Ferne wider. Wir stoßen auf einen Pfad (O. nennt ihn „den Herrschaftspfad“), aber wir folgen ihm nicht lange, denn wir haben keine Schuhe und die Tannennadeln sind viel weicher als der festgetretene Boden. Wir gehen hinauf, immer weiter hinauf, allein durch den offenen Wald, bis wir auf eine Wiese kommen und über die Landschaft blicken. In der Ferne vor uns ein Tafelberg nahe der polnischen Grenze, Wiesen und Haine, Felsen, über uns kreisende Bussarde.

Von irgendwoher weiter unten kommen die Hündinnen zu uns herauf, ihre Zungen schleifen über den Boden. Wir blicken hinaus in die Landschaft und sehen keine Häuser, nur ein paar Bunker, die zwischen den Bäumen hervorlugen. Das durch seine grausame Vergangenheit gezeichnete Gebiet des ehemaligen Sudetenlandes, heute das Grenzgebiet Ostböhmens, ist zu einer Welt geworden, in der die Natur anstelle des Menschen die Oberhand gewonnen hat. Zumindest glaube ich das, bis Ondřej einwirft, dass es „hinter dem Hügel so ein kleines Gefängnis gibt“. Ich habe keine Lust, dorthin zu gehen. Ich will mich nicht aus der befreienden Umarmung von Wald und Wiese losreißen um in etwas so Kompromissloses wie ein Gefängnis zu gehen. Wenn auch die Freiheit dem Menschen nicht eigen ist, so ist es doch die Unfreiheit. Der Wind lehnt sich in die hohen Gräser und sie kräuseln sich wie das Meer. Wir segeln eine Weile auf ihm, bevor wir wieder ins Dickicht eintauchen.

Das Gefängnis hat sich in meinem Kopf verfangen, ich bin neugierig. Ich war noch nie in einem, nicht einmal zu Besuch, nur ein- oder zweimal in einer Gewahrsamszelle nach einer Demonstration, aber da spürt man nicht das wirkliche Gewicht. Ein paar Tage später gehe ich hin. Diesmal begleitet mich Monika, die auf der Ostseite des Hügels wohnt. Sie erzählt mir, wie sie und ihre Schwester früher über den Zaun glotzten und wie sie ihr Shirt hochzog, um die Knastis zu provozieren. Sie geht mit mir um den Zaun herum, es gibt einen Besuchsraum, sagt sie, sie war einmal da, um einen Freund zu besuchen. Man darf sich bei den Besuchen aber nicht berühren. Und einmal hat sie einen Anruf vom Gefängnis bekommen. Die dürfen einfach so anrufen, wenn sie eine Nummer haben, und du kannst das annehmen, musst es aber nicht, wenn dir das unangenehm ist. Monika hat abgelehnt. Sie ist eine gute Fremdenführerin, leider hat sie andere Dinge zu tun, und so lässt sie mich nach einer Weile allein weiter beim Gefängnis herumlaufen.
Das Gefägnis Odolov

Das Gefägnis Odolov | Foto: © Bára Bažantová


Ich kann nicht aufhören darüber zu staunen, dass das Gefängnis im Herzen einer so schönen Region liegt. Um den Stacheldraht herum wächst Beinwell, oberhalb des Gefängnisses verläuft ein Wanderweg, schau an, nicht der schwarze, sondern doch der grüne. Ich warte bis vier Uhr dreißig am Nachmittag, die Zeit, zu der die Häftlinge eine Stunde lang draußen auf dem Sportplatz herumalbern dürfen. Es ist warm, sonnig, ich kann sie nicht gut sehen, sie sind weit weg. „Hey, Süße“, schreit mir jemand hinter den Gittern zu. Kurzgeschorene Köpfe, tätowierte Arme. Ich frage, wie es ihnen geht, und sie sagen, es sei okay, ich solle mich umdrehen, sie wollten meinen Arsch sehen. Ich stelle mir Monika vor, wie sie ihr Hemd hochhebt, und überlege, ob ich das nicht auch tun sollte, nur zum Vergnügen der Jungs, aber als ich mich umdrehe, sehe ich einen Wärter auf mich zukommen. Er will meinen Ausweis sehen, er denkt, ich sei dort, um meinen Freund zu sehen. Er hat schöne blaue Augen, mit denen er direkt in meine schaut. Er hat scheinbar überhaupt keine Angst, und zu meinem Erstaunen schüchtert auch er mich nicht ein.

Ich frage ihn, wie die Arbeit hier so ist, und plötzlich kommen wir ins Gespräch und es stellt sich heraus, dass er ein sensibler Mensch ist. Er sagt, wenn man mit Gewalt aufgewachsen ist, ist es schwieriger, vielleicht unmöglich, ohne sie zu leben. Ich sage ihm, dass ich hier einen Dokumentarfilm machen möchte. Zuerst denkt er wahrscheinlich, dass ich ihn verarsche, aber schließlich glaubt er mir. Wir stehen mindestens zwanzig Minuten am Stacheldrahtzaun, dann begleitet er mich zum Tor, schüttelt mir die Hand und geht davon, doch im letzten Moment, bevor er das Gefängnis wieder betritt, dreht er sich um, kommt zurück und sagt mir, ich solle die Pressesprecherin anrufen, also wegen der Dreharbeiten.

Hinter den Spiegeln

Ich habe das Wochenende über Zeit, darüber nachzudenken, was ich ihr sagen will. Die Kontaktaufnahme ist schwierig, weil Gabriela Šafářová nicht nur als Pressesprecherin, sondern auch als Psychologin im Gefängnis arbeitet – ich schaffe es immer, sie während ihrer Sitzungen anzurufen. Irgendwann finden wir aber zusammen und machen ein Datum aus, an dem ich mein Projekt der Gefängnisleitung vorstellen soll. Die Zeit vergeht wie im Flug. Und ich stehe in einer Art Vorraum, der sowas wie eine Druckausgleichskammer ist; ein Raum zwischen der Realität draußen und drinnen, in dem man den Anspruch auf eine freiheitliche Verbindung mit der restlichen Welt aufgibt. Ich lasse mein Handy in einem Schließfach, ich darf es nicht bei mir behalten.

Ich bekomme eine Besucherkarte, mein Personalausweis wird notiert, und dann warte ich brav auf meine Begleitperson. Nach einer Weile holt mich eine charismatische Frau ab, es ist die Psychologin/Pressesprecherin, sie hat eine gerade Haltung und lebendige Augen. Sie führt mich zum Direktor; auf dem Tisch stehen belegte Brote und süßes Gebäck, außer dem Direktor ist auch noch sein Vertreter im Büro. Ich fühle mich nicht ganz wohl in meiner Haut, ich versuche an nichts zu denken, aber ob ich will oder nicht erinnere ich mich plötzlich an die Abende, an denen ich Briefe an politische Gefangene geschrieben habe, an Aufkleber des Anarchist Black Cross, an meine neue Freundin, die in Marokko im Gefängnis gesessen hat – da waren fünfzehn Frauen in einer Zelle für sieben, fünfzehn beständig schnatternde Frauen. Zum Glück befeuert der Direktor mich bald mit einer Frage und holt mich so in die Gegenwart zurück.
Das Gefägnis Odolov

Das Gefägnis Odolov | Foto: © Bára Bažantová


Wahrscheinlich haben sie genauso viele Probleme, mich einzuschätzen, wie ich sie. Sie begutachten die Tattoos, die Löcher in meinen Strumpfhosen, die abgebissenen Fingernägel, schauen mir bis in den Magen, als der Direktor schließlich sein Erstaunen über den Kontrast zwischen meinem Aussehen und dem Interesse am Gefängnissystem laut ausspricht. Aber nein, er will mich nicht hinterfragen und wahrscheinlich auch nicht kompromittieren, er ist wahrscheinlich wirklich daran interessiert, worum es mir geht. Keiner von uns macht einen Rückzieher, warum sollte ich; das ist klar, ich will meinen Film, aber was haben sie davon? Ich verstehe es nicht, meine Handflächen schwitzen.

Er legt mir Mappen mit ausgedruckten Fotos vor, sowas wie ein Familienalbum. Die Bilder zeigen Geigen und Bratschen, die von den Verurteilten hier hergestellt wurden. Sie bezeichnen die Menschen im Strafvollzug als Verurteilte, benutzen fast nie das Wort Häftling. Sie bezeichnen die Zellen als Schlafzimmer. Es heißt, einer der örtlichen Wärter habe mal als Geiger sein Geld verdient. Sogar der Aufseher soll spielen. Ich bin Alice im Wunderland und trinke Tee mit dem verrückten Hutmacher. Es fällt mir schwer den professionellen Anstand zu wahren, als der stellvertretende Direktor vorschlägt, vor dem Rundgang ein belegtes Brot zu essen. Natürlich widerstrebt es mir, aber schließlich nehme ich eins, und obwohl ich im Gegensatz zu Alice nicht größer werde, geht meine Reise ins Wunderland weiter.
Das Gefägnis Odolov

Das Gefägnis Odolov | Foto: © Bára Bažantová

Im Inneren der Matrioschka

Es ist wie eine Matrioschka – das Gefängnis ist eine Welt für sich, und innerhalb dieser Welt in der Welt gibt es eine weitere, kleinere Welt: die Holzwerkstatt, eine separate Realität des Gefängnislebens in Odolovo. In der Werkstatt riecht es nach Holz, es gibt vier Klienten, den Werkstattmeister und Freizeitpädagogen (wie es an der Tür steht) Herrn Zdeněk Hetflejš und einen weiteren Mann in Uniform, es ist Pavel Staněk, ein ehemaliger Philharmoniker. Sowohl der Meister als auch der Geiger haben eine besondere Art, sie sind offensichtlich Freunde und die Atmosphäre ist so entspannt, dass ich fast vergesse, dass ich im Gefängnis bin. Wir unterhalten uns über Handwerk und Musik, und die Herren erklären mir, wie die Werkstatt funktioniert.

Herr Hetflejš hat sie vor fast dreißig Jahren gegründet, ungefähr zu der Zeit, als die ehemalige Kohlengrube zum Gefängnis wurde. Mit den Geigen hat es angefangen, als ein Zeuge Jehovas einmal eine zur Reparatur brachte. Herr Hetflejš lernte, wie man sie repariert, und so fing es an. Geigen zu reparieren und zu bauen ist eine komplexe, präzise Arbeit, heikel und sensibel. Man muss dabei nicht nur denken, sondern auch spüren. Der Meister spricht davon, dass nichts unmöglich ist, wenn man es will, wenn man nicht im Grübeln verharrt, sondern diese Ideen auch in die Tat umsetzt. Staněk erinnert uns daran, dass es hier in erster Linie darum geht, den Weg aus dem Gefängnis, aus dem Teufelskreis der Rückfälligkeit zu finden. Herr Hetflejš hat die Herstellung von Saiteninstrumenten gefunden; es sind nicht 100 Prozent, aber die meisten, die die Werkstatt durchlaufen, kehren nicht in die Fänge des Gefängnissystems zurück, sagt er.

Aber an die Arbeit mit den Verurteilten geht der Meister in erster Linie individuell heran; er weist jedem die Aufgabe zu, die für ihn schaffbar ist, an der er aber auch wachsen kann. Er ist offen für die Vorschläge der Klienten; er sagt, dass in der Werkstatt kein Weg daran vorbeiführt, miteinander im Dialog zu bleiben. Gemeinsam suchen sie nach neuen Formen und Gestalten, aber auch nach der Anwendung der angefertigten Instrumente. Auf Anregung der Verurteilten (sie hatten davon im Radio gehört) haben die Mitarbeiter*innen vor Ort die Gefängniswerkstatt mit der Sammlung Kdyby tisíc klarinetů (etwa Wie wenn tausend Klarinetten… in Anlehnung an einen gleichnamigen tschechoslowakischen Musicalfilm aus dem Jahr 1964) des tschechischen Rundfunks zusammengebracht, die dazu beiträgt, Kindern in schwierigen Lebensumständen Musikinstrumente zur Verfügung zu stellen. Die Übergabe der Instrumente findet in der Regel im Beisein und mit einer kleinen Darbietung des Geigers Pavel Staněk statt, und wenn möglich auch im Beisein der Verurteilten.
Das Gefägnis Odolov

Das Gefägnis Odolov | Foto: © Bára Bažantová

Im Strafvollzug

Herr Hetflejš nennt es eine Pädagogik der Erfahrung, eine Methode der alternativen Bildung, deren Prinzipien durch die Arbeit mit seinen Klienten inspiriert werden. Neben der Arbeit beschäftigen wir uns auch mit der Schließung einer alten Musikinstrumentenfabrik, aus der die örtliche Werkstatt einen großen Teil ihres Materials bezieht. Es ist keine gute Zeit, sagt der Meister und beschreibt, wie viel des verbliebenen Klangholzes aus Profitgründen verkauft wurde, um daraus Möbel herzustellen.

Dass Herr Hetflejš wirklich ein Werkstattmeister und nicht nur ein Freizeitpädagoge ist, zeigt unter anderem sowohl seine Bereitschaft, Neues zu lernen, als auch seine Fähigkeit, neues Wissen in der Praxis anzuwenden. Er erfand ein neues Musikinstrument (das nirgendwo sonst auf der Welt hergestellt wird), das hier Violoid genannt wird. Es handelt sich um ein Instrument, das klanglich einer Bratsche, von der Größe her aber einer Geige ähnelt; so ist sie auch für kleinere Hände geeignet und jeder kann das spielen, was ihm vom Schwierigkeitsgrad und Klang her am besten liegt, und nicht das, wozu der Körper groß genug ist.

Später treffe ich mich mit dem Gefängnisseelsorger. Hier habe ich die Gelegenheit, mit mehreren Gefangenen auf relativ persönliche Weise und ohne das Gefühl, kontrolliert zu werden, zu sprechen. Vor allem aber tausche ich mich mit der Psychologin Gabriela Šafářová aus. Ob sie nun darüber spricht, dass den Verurteilten nicht genügend Raum gegeben wird, um ihre Bedürfnisse anzusprechen, oder über die Einschränkungen durch die Regeln und den grauen Alltag, oder darüber, wie schwierig das Leben nach dem Gefängnis aufgrund der häufigen Vorurteile ist – ihre offene Art überrascht mich.

Schließlich kommen wir sogar zur Frage der Geschlechtsidentität und der Notwendigkeit, ständig zu lernen, wie man mit ungewohnten Situationen umgeht, die mit der Zunahme von verurteilten Personen in der Transitionsphase verbunden sind. Das ist definitiv ein Thema für einen eigenen Artikel. Sagen wir einfach, dass ich, wenn ich eine verurteilte Transfrau wäre, hoffen würde, dass ich meine Strafe hier verbüßen müsste.
Das Gefägnis Odolov

Das Gefägnis Odolov | Foto: © Bára Bažantová

Auf Aldous Huxleys Insel

Nach dem fast zweistündigen Besuch gehe ich mit einer Zusage für einen Dokumentarfilmdreh. Ich laufe durch den stillen Wald, unfähig, den Besuch richtig zu verdauen, nicht sicher, wie ich damit umgehen soll. Ich bin hergekommen, belehrt durch Foucault, berauscht durch Jacques Mesrine, mit einer stereotypen Vorstellung von Schlagstöcken und Gewalt, einer Realität, die nicht nur durch Raum, Zeit und unverrückbare Regeln, sondern auch durch verknöchertes Denken begrenzt ist, nur um festzustellen, dass die Mitarbeiter*innen vor Ort einen offeneren Geist haben als viele meiner Kolleg*innen und Freund*innen. Mehr noch setzen sie ihr kritisches Denken in eine positive Praxis um, das heißt es findet hier ein Prozess statt, den ich in akademischen und intellektuellen Kreisen vergeblich suche, die oft (und paradoxerweise) nicht über die Grenzen ihrer eigenen gelebten Realität und ihrer eigenen Institutionen hinausgehen, oder, im Gegenteil, bei institutionell ungebildeten Menschen, die mit ihren Händen oder überhaupt nicht arbeiten, bei denen Lethargie und Resignation vorherrschen, weil es nicht möglich ist, die Form (dieser) Institutionen, von denen sie abhängig sind, zu verändern.

Ich frage mich immer wieder, inwieweit die Existenz von Gefängnissen mit menschlichem Antlitz ein Weg ist, um irgendwann keine Gefängnisse und vor allem keine Gefangenen mehr zu haben, und inwieweit es nur eine Akzeptanz der Idee ist (und siehe da, es ist dieser Foucault), dass Verhaltensabweichungen bestraft werden sollten. Ich versuche, einen anderen, besseren Ansatz zu finden, kritischer, ehrlicher, ich versuche, ein Schlupfloch zu finden, ich will nicht glauben, dass die Leute von der Gefängnisverwaltung mir, einer Anarchistin, sympathisch sind. Dann schäme ich mich für meine eigenen Vorurteile. Und auch wenn die Zweifel immer wieder auftauchen, lösen sie sich meist in der Erinnerung an den Geruch von Holz, an schwielige Hände, an Huxleys Insel auf, dessen utopische Idee sich gar nicht so sehr von dem Denken des Herrn Hetflejš unterscheidet, eines bescheidenen Genies, das sich in den Ausläufern des Riesengebirges versteckt.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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