Jugend in einer ethnisch gemischten Stadt  Heimliche Liebe und stille Kriege

Heimliche Liebe und stille Kriege Foto: © Roberta Krmášková

Im südslowakischen Komárno sind ethnische Ungarn in der Mehrheit. Die Konflikte der jüngeren Vergangenheit sind in der Kleinstadt einem Pragmatismus gewichen. Verantwortlich ist dafür unter anderem das leidenschaftliche Engagement der jungen Ortsgruppe einer Kulturinstitution, die in anderen Teilen der Slowakei als nationalistisch und reaktionär gilt.

Dieser Artikel entstand im Rahmen des Forschungsprojektes CHIEF (Cultural Heritage and Identities of Europe’s Future) für das Wissenschaftler*innen aus neun Ländern die Weltanschauungen, kulturellen Kompetenzen und Aktivitäten von Jugendlichen untersuchen.

Komárno an der Grenze zu Ungarn ist einer der wärmsten Orte der Slowakei. Im Jahr 2003 war es jedoch in dieser ethnisch gemischten slowakisch-ungarischen Stadt noch heißer als sonst. Damals wurde nämlich in Komárno eine Statue der Slawenapostel Kyrill und Method errichtet. Die Statue löste eine Welle des Unmuts unter den ethnischen Ungar*innen der Stadt aus, in der nur ein Drittel der Einwohner Slowaken sind. An Gebäuden in der Stadt tauchten immer häufiger diffamierende Schriftzüge auf, gerichtet an die Bürger*innen der jeweils anderen Nationalität, Autobesitzer*innen fanden morgens den Lack ihrer Fahrzeuge zerkratzt, in den Büros und Geschäften kam es vermehrt zu Meinungsverschiedenheiten oder Auseinandersetzungen und abends auch zu Prügeleien auf den Straßen.

Für die Idee und die Umsetzung der Skulptur war hauptsächlich die Matica slovenská, das nationale Kulturinstitut der Slowakei, verantwortlich. Diese älteste slowakische Institution wurde 1863 zum Zweck der kulturellen Entwicklung der Slowaken gegründet, die im damaligen Königreich Ungarn lebten. Heute ist die Matica slovenská nach Ansicht vieler Kritiker*innen eine Hochburg des slowakischen Nationalismus, für anti-ungarische Rhetorik, Rechtsextremismus und verbreitet Verschwörungstheorien und kremlfreundliche Propaganda. Zu diesen Kritiker*innen gehört auch der derzeitige slowakische Kulturminister Marek Maďarič, der die bisherige Finanzierung dieser Einrichtung aus dem Haushalt des Ministeriums streichen möchte. Der Matica slovenská wird nachgesagt, im Nationalismus des 19. Jahrhunderts oder im Faschismus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts stecken geblieben zu sein. In diesem Jahrhundert gibt es für die Gesellschaft keinen Grund mehr, sich finanziell an ihrem Betrieb zu beteiligen.

Allerdings scheint das lokale Institut der Matica slovenská in Komárno in dieser Hinsicht eher eine Art schwarzes Schaf der Familie zu sein. Während die Führung der nationalen Matica über den Standort der Skulptur verhandelte und nationalistische Propaganda verbreitete, erklärte die lokale Matica in Komárno, dass sie ein Ort der kulturellen Begegnung für slowakische und ungarische Einwohner*innen der Stadt sein wolle. Anstatt unkritische Biografien von faschistischen Politikern der Slowakei zu veröffentlichen, widmete sich die Einrichtung in Komárno nun der Jugend, und zwar unabhängig von der Nationalität. Auf ihr Betreiben hin wurde ein Theater- und Folkloreensemble gegründet, das ausschließlich eigene Stücke aufführt und mehrere Dutzend Mitglieder zählt. Der starke ungarische Akzent einiger Schauspieler*innen stört hier niemanden. Die Jugendlichen sind stolz auf das, was sie tun, und behaupten, die einzigen Matica-Mitglieder zu sein, die das tun, wofür diese Institution einst gegründet wurde: Kulturelle Aktivitäten unter jungen Menschen entwickeln.

Eine Kultur – zwei Sprachen

Im öffentlichen und medialen Diskurs wird der ethnisch gemischte Süden der Slowakei traditionell als Pulverfass wahrgenommen. Wenn man jedoch in Komárno ankommt, erscheint die Stadt in einem völlig anderen Licht. Obwohl es immer noch gelegentlich Schriftzüge gibt, die den Angehörigen der anderen Nationalität den Tod wünschen, werden die Besucher in Restaurants und Geschäften in der Regel zweisprachig vom Personal begrüßt, und dann wird weiter in der Sprache gesprochen, in der zurückgegrüßt wurde.

Die jüngste Aufführung des lokalen Matica-Ensembles Slovenskí rebeli (Slowakische Rebellen) heißt Tajná láska (Heimliche Liebe) und trägt den Untertitel Eine Kultur in zwei Sprachen. Das zentrale Thema des Stücks ist die Liebe zwischen einem slowakischen Jungen und einem ungarischen Mädchen. Obwohl die Hauptsprache des Stücks Slowakisch ist, haben sich die Macher nicht allzu viel Mühe gegeben, die ungarischen Repliken des Mädchens und ihrer Familie ins Slowakische zu übersetzen. Die Tatsache, dass das Publikum über Witze auf Ungarisch genauso lacht wie über die auf Slowakisch, zeigt, dass der Untertitel des Stücks seine Berechtigung hat. Im Theatersaal der Matica in Komárno sitzen und spielen Menschen, deren Zusammengehörigkeitsgefühl nicht durch den Stacheldraht von Sprache und Ethnie getrennt ist. Das ist keine große Überraschung, denn viele von ihnen stammen aus ähnlich ethnisch gemischten Ehen und Familien. In dieser Gesellschaft ist das Adjektiv „slowakisch“ eher eine räumliche als eine ethnische Kategorie.

Der 14-jährige Darsteller Tomáš erklärt die Situation in fließendem Slowakisch, obwohl er von sich sagt, Ungar zu sein, weil seine Eltern beide ungarisch sind, fühlt er sich gleichzeitig aber auch als Slowake, weil er in der Slowakei lebt. Die Absurdität, Menschen nach ethnischen Kategorien einzuteilen, illustriert er mit einer kuriosen Geschichte aus seinem Leben: „Eines Tages bin ich am Donauufer entlanggelaufen und musste plötzlich niesen. Da rief mir jemand von der ungarischen Seite des Flusses ‚Gesundheit‘ zu. Welche zwei Kulturen? Wir sind hier eine Kultur, wir sprechen nur zwei Sprachen.“

Wir leben nicht in Schützengräben

Die zwei Sprachen sind für die kleine Stadt in der Südslowakei Segen und Fluch zugleich. Es kommt ganz darauf an, für welche Möglichkeit man sich als Bewohner*in von Komárno entscheidet. Viele hier sind zweisprachig, weil sie in Familien mit gemischten Nationalitäten hineingeboren wurden. Aber auch einige junge Leute aus Familien, in denen beide Partner dieselbe Staatsangehörigkeit haben, sind zweisprachig. Sie haben mit ihren Kindern von Geburt an bewusst in der Sprache der anderen Nationalität gesprochen. So wurde paradoxerweise die Muttersprache der Kinder ungarischer Paare slowakisch und umgekehrt sprachen die Kinder slowakischer Paare ihre ersten Worte auf Ungarisch. Großeltern, Kindergarten oder Fernsehen helfen beim Erlernen der zweiten Sprache.

Die Haltung, Pragmatismus statt Nationalismus zu bevorzugen, trägt Früchte. Der metaphorische Witz, dass ein Kind, das zwei Sprachen spricht, auch an zwei Hörnchen Eis gleichzeitig schlecken kann [Im Slowakischen wie auch im Tschechischen sind Sprache und Zunge dasselbe Wort: jazyk. Anm.d.Red.], nimmt in dem Moment, in dem sich Bratislava und Budapest gleichzeitig vor einem jungen Menschen auftun, buchstäblich Konturen an. In den Statistiken, die den Anteil der slowakischen Bevölkerung mit Hochschulbildung ausweisen, war Komárno bis vor kurzem das Schlusslicht. Jedes Jahr muss das Ensemble der Matica in Komárno damit fertig werden, dass einige Mitglieder zeitweilig für die Ausbildung ihre Heimatstadt verlassen, um Medizin, Jura oder Ingenieurwesen zu studieren.

Nicht beide Sprachen zu beherrschen, ist in Komárno auf jeden Fall ein Nachteil. Junge Menschen, die kein Ungarisch sprechen, beklagen sich beispielsweise, dass sie bei der Suche nach Sommerjobs in Bars oder Restaurants benachteiligt sind. Während einige junge Matica-Mitglieder darüber schimpfen, dass im öffentlichen Raum auf slowakischem Staatsgebiet die Sprache der Mehrheit dominieren sollte, argumentieren andere, dass die Zweisprachigkeit ein natürliches Phänomen in Grenzregionen auf der ganzen Welt sei, und suchen den Fehler eher in ihrer Unfähigkeit, sich an diesen Umstand anzupassen. So sieht es auch Veronika, eine 28-jährige Anwältin, die in ihrer Freizeit im Ensemble mitwirkt und in aller Offenheit bedauert, kein Ungarisch zu können.

Anstatt nach Unterschieden zu suchen und Konflikte aufzuzeigen, betont Veronika Gemeinsamkeiten und friedliches Zusammenleben. Mit dem Stück über die heimliche Liebe möchte sie auch den Einwohner*innen anderer Regionen der Slowakei zeigen, dass die Menschen in der Südslowakei nicht in Schützengräben leben, sondern zusammenarbeiten, Freundschaften schließen und Familien gründen. Und diese Botschaft ist für viele Slowak*innen wahrscheinlich ziemlich überraschend. Und das gilt umso mehr, wenn diese Botschaft von Mitgliedern einer Institution unterstützt wird, die unter anderem für ihre traditionell anti-ungarische Rhetorik bekannt ist.

Und ebenso wenig lassen sich die jungen Künstler*innen von der Vielzahl der Statuen ihrer Nationalhelden irritieren, die abwechselnd von Ungarn und Slowaken mit nationaler Gesinnung im öffentlichen Raum der Stadt aufgestellt werden. Die Jugendlichen sind der Meinung, dass es keinen Grund gibt, jemandem die Statuen zu verbieten, wenn der eine oder andere einen Sinn darin sieht. Schließlich gehören die Einwohner*innen von Komárno beiden Nationalitäten an, also sollten sie nicht nur ihre Sprachen, sondern auch Statuen ihrer Helden haben dürfen. In den Augen der jungen Matica-Mitglieder aus Komárno kann daher eine Statue des Generals György Klapka, der während der Ungarischen Revolution 1848/49 kämpfte, in friedlicher Nachbarschaft einer Statue des slowakischen Diplomaten, Politikers und Generals Milan Rastislav Štefánik stehen, der nach dem Ersten Weltkrieg mitverantwortlich war für die Herauslösung der Slowakei aus Großungarn, was für viele Ungar*innen ein bis heute nicht geheiltes Trauma ist.

Dort, wo Nachbar*innen friedlich nebeneinander leben, werden auch Statuen friedlich nebeneinander stehen. Auch wenn sie in der Vergangenheit sozusagen in gegenüberliegenden Schützengräben gestanden hätten.

Die schwarzen Schafe des Nationalismus

Auch wenn keine slowakisch-ungarische Frontlinie durch Komárno verläuft, ist die Stadt noch weit von einem bunten, idyllischen Zusammenleben entfernt. Genauso wenig wie die Matica Komárno repräsentativ für die gesamtslowakische Matica ist, sind ihre Mitglieder und Besucher ein ideales Beispiel für die Stimmungen und Meinungen in der Stadt. Es scheint, dass Toleranz und Antinationalismus nicht für alle Einwohner*innen von Komárno typisch sind, sondern eher für eine bestimmte örtliche soziale Gruppe, die sich im lokalen Matica-Ensemble eingenistet hat.

Dass sich die liberale Jugend in den Räumen einer Institution versammelt, die von einem angespannten Nationalismus und Konservatismus geprägt ist, überrascht nur so lange, bis klar wird, dass die Kleinstadt jungen Menschen nicht allzu viele Möglichkeiten zur kulturellen und künstlerischen Selbstverwirklichung zu bieten hat. Die Leitung der lokalen Matica hat die Räumlichkeiten jedoch zur Verfügung gestellt, und zwar ohne Unterschied für alle. Und das ist der Grund, warum fast niemand die Matica von Komárno mag. Ungarischen Nationalist*innen ist sie ein Dorn im Auge, weil sie zu Slowakisch ist, slowakische Nationalisten blicken auf sie herab, weil sie zu Ungarisch ist, und Matica-Mitglieder aus anderen Teilen der Slowakei werfen ihr vor, ideologisch der Matica nicht nahe genug zu stehen. Und nicht zuletzt lehnt das Kulturministerium sie ab, weil es die slowakische Matica als solche ablehnt, ungeachtet der Tatsache, dass die lokale Insel von Abweichler*innen im positiven Sinne vielleicht den Weg weist, um diese verknöcherte Institution ins 21. Jahrhundert zu führen.
 

Das Projekt CHIEF (Cultural Heritage and Identities of Europe’s Future) erforscht die Weltanschauungen, kulturellen Kompetenzen und Aktivitäten von Jugendlichen. Besondere Aufmerksamkeit widmen die Forschenden dabei den Rollen, die verschiedene Bildungsumgebungen wie Schule, Familie, NGOs und Interessensvertretungen sowie die informelle Gesellschaft von Gleichaltrigen und Freunden bei der Gestaltung des Weltbildes und der kulturellen Kompetenzen spielen. Die am Projekt beteiligten Forscherinnen und Forscher interessieren sich insbesondere dafür, wie die Themen kulturelle Vielfalt, Inklusion, kulturelles Erbe oder Europa in diesen Lernumgebungen an Jugendliche vermittelt werden. An dem Forschungskonsortium sind Wissenschaftler von Universitäten und Forschungsinstituten aus Großbritannien, Spanien, Deutschland, Kroatien, der Slowakei, Lettland, der Türkei, Georgien und Indien beteiligt.

Mehr unter: chiefprojecteu.com